In Frankreich häufen sich ­brutale Attacken von Jugendlichen auf Gleichaltrige

Von der Schule ins Koma

In Frankreich häufen sich brutale Angriffe auf Kinder und Jugendliche durch Gleichaltrige. Premierminister Gabriel Attal kündigte bildungspolitische Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Gewalttaten an.

Paris. Verkürzung der Schulferien zunächst für die »schlechteren Schüler« und Ausdehnung der tägliche Anwesenheitszeit in der Mittelstufe auf den Zeitraum von acht bis 18 Uhr: Manche der Ankündigungen des französischen Premierministers Gabriel Attal von der liberalen Partei Renaissance am 18. April, die seitdem heftig diskutiert werden, sind wohl nicht dazu geeignet, ihn bei Schülern und Lehrkräften populärer zu machen. Das war aber auch nicht ihr Sinn.

Nachdem er im Januar von Staatspräsident Emmanuel Macron zum Regierungsoberhaupt bestellt wurde, konzentriert Attal seine öffentlichen Ankündigungen auf das Schulwesen. Das steht bei ihm auch deswegen im Mittelpunkt, weil er zuvor – ab Juli 2023 – Bildungsminister war. In seiner Amtszeit hatte er da allerlei proklamiert, ohne in den wenigen Monaten Zeit zu finden, etwas davon umzusetzen.

Unter der Rubrik »Autoritätsproblem« verhandelt die französische Regierung derzeit die heftigen Gewalttaten unter Jugendlichen.

Attal ging es damals wie heute generell um die »Wiederherstellung der Autorität« sowie die Einführung von Schuluniformen, die verpflichtend zu tragen in den meisten französischen Überseegebieten bereits üblich ist. Die Uniformen werden ab diesem Jahr in 92 Kommunen »getestet«, diese Städte und Gemeinden hatten sich für das Pilotprojekt freiwillig zur Verfügung gestellt. Politisch und medial federführend ist bei dieser Initiative die rechtsextrem regierte südfranzösische Stadt Béziers.

Unter der Rubrik »Autoritätsproblem« verhandelt die französische Regierung derzeit die heftigen Gewalttaten unter Jugendlichen, die in den vergangenen Wochen immer wieder für Schlagzeilen sorgten, zuletzt am Samstag, als der 15jährige Matisse im zentralfranzösischen Châteauroux erstochen wurde. Der gleichaltrige mutmaßliche Täter, aber auch dessen Mutter, die bei der tödlichen Attacke dabei gewesen sein soll, wurden am Sonntag in Gewahrsam genommen.

Ein Teil der Leitmedien kaprizierte sich unterdessen auf die Staatsbürgerschaft des Beschuldigten, eines heranwachsenden Afghanen, als sei die Nationalität ein Tatmerkmal. Diese stand bei einer Talkshow beim Privatsender BFM TV in der Nacht zum Montag zeitweilig stark im Mittelpunkt. Beim Microblogging-Dienst X schrieb der Vorsitzende der konservativen Oppositionspartei Les Républicains (LR), Éric Ciotti: »Das Gefängnis und dann das Flugzeug!« Der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gründer der rechtsextremen Partei Reconquête (Rückeroberung), Éric Zemmour, behauptete, in den Banlieue-Vierteln gelte »das Gesetz der Taliban«. Der am Montag unter Anklage gestellte 15jährige sagte, der getötete Matisse habe ihn zuvor rassistisch beleidigt und ins Gesicht geschlagen – dies soll BFM TV zufolge auch durch Zeugen bestätigt worden sein –, woraufhin der Angeklagte ein Messer holen gegangen sei.

Religiös verbrämte Brutalität?

Zwei Vorfälle lenkten im Laufe des April besondere Aufmerksamkeit auf sich und könnten auch darauf hinweisen, dass die wachsende Segregation von sozialen Gruppen nach Einkommen und Status, Wohnort und Migrationshintergrund mit einer Art religiös verbrämter Brutalität einhergeht. Anfang April lag die 13jährige Schülerin Samara in einem Wohnviertel am Rand von Montpellier mehrere Tage im Koma. Bei einer Attacke durch drei Heranwachsende war sie, als sie bereits bewegungslos am Boden lag, weiter geschlagen und getreten worden. Ihre 14jährige Hauptkontrahentin hatte Gleichaltrige und etwas ältere Jugendliche dazu angestachelt. Der Mutter des Opfers schien es zunächst so, als wurzele die Auseinandersetzung in unterschiedliche Lebensvorstellungen: Die 14jährige Täterin kleide sich – außerhalb der Schulräume, in denen es verboten ist – islamisch mit Kopftuch, Samara hingegen sei wegen ihrer rot gefärbten Haare, ihres Kleidungsstils und Kontakten zu Jungen kritisiert und von ihrer Kontrahentin als »Ungläubige« beschimpft worden.

Am folgenden Tag äußerte sich Samaras Mutter allerdings im gegenläufigen Sinne, Samara sei selbst religiös und die Differenz in dieser Frage habe keine Rolle gespielt, während eine Mitschülerin anonym im Fernsehinterview sagte, auch die Hauptkontrahentin habe eine Farbtönung in den Haaren. Die Staatsanwaltschaft sieht das Motiv »Hass aus religiösen Gründen«, das taterschwerend wirken könnte, bislang in ihren Ermittlungen nicht als gegeben an.

Am 12. April nahmen mehrere Hundert Menschen aus dem Wohnviertel des getöteten 15jährigen Shemseddine in der Pariser Trabantenstadt Viry-Châtillon an einem Trauermarsch teil und skandierten »Nie wieder«.

Kurz darauf wurde am 4. April der 15jährige Shemseddine in der Pariser Trabantenstadt Viry-Châtillon so zusammengeschlagen, dass er starb. Daran waren fünf Personen zwischen 15 und 20 Jahren beteiligt. Allem Anschein nach ging die Attacke von den Brüdern einer Mitschülerin des Ermordeten aus, die ihn zunächst dafür zur Rede stellten, warum er Textnachrichten zu sexuellen Themen mit ihrer Schwester austauschte. Justizminister Éric Dupond-Moretti sprach daraufhin von einem »Ehrenmord«.

Die Tat rief auch in der muslimischen beziehungsweise migrantischen Bevölkerung Abscheu hervor. Am 12. April nahmen mehrere Hundert Menschen aus dem Wohnviertel des Opfers, von denen einige ihre islamische Religionszugehörigkeit durch ihre Kleidung bekundeten, an einem Trauermarsch teil und skandierten »Nie wieder«. Zahlreiche Einwohner:innen trugen sich in Kondolenzbücher ein. Der Bürgermeister von Viry-Châtillon, Jean-Marie Vilain, zeigte sich vor laufenden Kameras tief erschüttert und bezeichnete die mutmaßlichen Täter unter Tränen als »Tiere«, bedauerte diese Wortwahl jedoch später.

Die Regierung vermischt und vermengt in ihren Reaktionen unterschiedliche Aspekte. Attals Rede wurde als direkte Reaktion auf die Tat von Viry-Châtillon angesehen. Einige seiner Ankündigungen waren jedoch bereits älter und wiederholen nur bereits zuvor gefasste Beschlüsse, wie etwa die Verdoppelung der Zeit für éducation civique, einer Art außerhalb des allgemeinen Lehrplans stattfindenden Gemeinschaftskundeunterrichts. Rechtlich bedenklich erscheint hingegen der ebenfalls von Attal verkündete Plan, während ihrer Schulzeit straffällige oder besonders verhaltensauffällige Jugendliche faktisch vom Hochschulzugang auszuschließen; praktisch umgesetzt werden soll das dadurch, dass diese Informationen auf der seit fünf Jahren für die Vergabe von Studienplätzen genutzten Online-Plattform Parcoursup hinterlegt werden. In den vergangenen Tagen schaltete sich Macron ein. Auf seine Aufforderung hin empfing Attal die Spitzen aller im Parlament vertretenen Parteien zu Beratungen über Jugendgewalt.