Nadine Püschel, Übersetzerin, im Gespräch über ihre Übersetzung des Romans »Planet ohne Visum«

»Malaquais erzählt von Mitläufertum, aber auch von Widerstand«

Small Talk Von Felix Baum

Angesiedelt im von den Deutschen besetzten Marseille der frühen vierziger Jahre, entwirft Jean Malaquais’ 1947 veröffentlichter ­Roman »Planet ohne Visum« ein facettenreiches Gesellschafts­panorama, das von der Kritik überschwenglich gefeiert wurde. Die »Jungle World« sprach mit der Berliner Übersetzerin Nadine Püschel, auf deren Initiative der Roman 75 Jahre nach der französischen Erstausgabe auf Deutsch erschien.

Du hast zehn Jahre nach einem Verlag für die deutsche Ausgabe des Buchs gesucht. Was hat dich an »Planet ohne Visum« so gefesselt?
Schon mit den ersten Sätzen und Szenen hat der Roman für mich einen unwiderstehlichen Sog entwickelt. Ich habe das Buch in Marseille entdeckt und gelesen und fand den sehr filmischen Blick auf die Stadt und ihr Menschengewimmel faszinierend, Malaquais’ Gespür für Stimmungen und Skurrilitäten, seine Empathie für die unterschiedlichsten Figuren und die schwindelerregende stilistische Bandbreite seines Schreibens. Und manche Kapitel erzählen so eindringlich von moralischen Dilemmata rund um Verrat und Rache, Altruismus oder Egoismus, dass sie mich immer wieder beschäftigt haben. Ich dachte: Das kann doch gar nicht sein, dass das nie übersetzt wurde!

»Ich dachte: Das kann doch gar nicht sein, dass das nie übersetzt wurde!«

Inwieweit hat Malaquais in dem Roman eigene Erfahrungen verarbeitet?
Jean Malaquais war gebürtiger Pole, hatte aber seine Papiere verloren und lebte in Paris, als der Krieg ausbrach – da war sein Romandebüt »Les Javanais« gerade erschienen. Weil Frankreich Staaten­lose zum Wehrdienst einzog, erfuhr er in einem Soldatenlager an der deutsch-französischen Grenze, dass er den renommierten Prix Renaudot erhalten hatte. Beim Einmarsch der Deutschen geriet er in Kriegsgefangenschaft, konnte fliehen, wobei er sich dank seiner deutschen Sprachkenntnisse als elsässischer Landarbeiter ausgab, und rettete sich nach Marseille in die sogenannte freie Zone des ­Vichy-Regimes, wo er mit der Arbeit an »Planet ohne Visum« begann. Mit der Hilfe seines Mentors André Gide konnte er im Oktober 1942 ausreisen, vermittelt durch das von Varian Fry geleitete Emergency Rescue Committee, dem er in seinem Buch ein Denkmal setzt. Eine weitere wichtige Rolle im Roman spielt eine von Künstlern gegründete Genossenschaft, deren Mitglieder sich mit der Produktion von Süßigkeitenersatz über Wasser halten – die gab es wirklich, Jean Malaquais hat zusammen mit seinem Freund Marc Chirik dort gearbeitet und linke Grundsatzdebatten geführt. Er kannte auch die Surrealisten um André Breton und Victor Serge, der mit seinem Sohn ebenfalls im Roman vorkommt. Malaquais kannte also die politischen Wirren, die bürokratischen Mühlen, die menschlichen Abgründe der Zeit aus eigener Anschauung.

Das Buch wurde als »großer Marseille-Roman« gelobt. Was für eine Stadt schildert Malaquais?
Wir erleben sie in der Eingangsszene zunächst als Sammelbecken für gestrandete und verfolgte Existenzen aus aller Welt, so wie man das aus Anna Seghers’ »Transit« und anderen Exilromanen kennt und wie es ja auch für Hafenstädte typisch ist. In Marseille fand man eben all die Konsulate und Hilfsorganisationen, die Schiffsverbindungen und Schlepperrouten, in die Zigtausende Flüchtlinge ihre Hoffnung setzten. Es gab aber auch die »Auslieferung auf Verlangen«, wie Varian Fry seine Memoiren nannte, die Kollaboration mit den Deutschen, die Razzien und Internierungen, die Gefangenentransporte in die NS-Vernichtungslager. Malaquais erzählt sehr genau von den Konflikten und Nöten der Einheimischen, von Propaganda und Mitläufertum, aber auch von den vielen kleinen Gesten der Solidarität und des Widerstands. Also eigentlich genau von dem Marseille, wie man es zwischen Rassemblement national, Gentri­fizierung und besetzten McDonald’s-Filialen noch heute findet.