Über das Dilemma, in das der linke Antisemitismus die französischen Juden bringt

Das Schibboleth der Linken

Nur die Linke kann den vom Rassemblement national vertretenen reaktionären Nationalismus wirkungsvoll bekämpfen. Für Juden bedeutet das, dass sie sich auch mit Antisemiten verbünden müssen. Doch nur wenn sie dem linken Antisemitismus den Kampf ansagt, kann die Linke wirklich auferstehen.

International behaupten Linke und Antirassisten, in Deutschland würden »propalästinensische« Positionen unterdrückt, und führen dies auf die »German guilt« (deutsche Schuld) zurück. Doch auch außerhalb Deutschlands gibt es Linke, die für das Existenzrecht Israels einstehen und einen Schulterschluss mit Islamisten und Antisemiten ablehnen. Yves Coleman kritisierte, dass der Linken die Begriffe fehlen, um den politischen Islam zu analysieren (»Jungle World« 49/2023). Peshraw Mohammed analysiert diesen als faschistische Ideologie (51/2023). Susie Linfield beklagte eine Rückkehr linker Abscheulichkeiten (2/2024). Rafael Gumucio erklärte die Anziehungskraft des islamistischen Todeskults für postmoderne Linke (3/2024). Marcos Barreira beschrieb das Entstehen einer neostalinistischen Linken in Brasilien, die einem linken Antizionismus Aufschwung verleiht (9/2024). Ivan Segré sieht in einer Allianz mit iranischen und arabischen Progressiven Hoffnung für Israel (12/2024). Kacper Konar schilderte den seit dem 7. Oktober 2023 erstarkenden ­Antisemitismus in Polen (32/2024).

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Juden sind in der Diaspora nationale Minderheiten. Als ein Exilvolk sind sie in den Nationalstaaten, deren Bürger sie sind, strukturell immer in der Minderheit. Das bringt sie nicht in Opposition zur Mehrheitskultur, aber stellt sie ihr gegenüber in einer ganz bestimmten Weise ein. Diese Einstellung bringt Verantwortung und Pflichten mit sich, sowohl für sie selbst als auch für die Nation, an deren Leben sie teilnehmen.

Zunächst einmal disponiert sie diese grundsätzliche Bedingung, unter der sie leben, dazu, Solidarität mit jeder Minderheit zu zeigen, die von der herrschenden Macht bedroht sein könnte. Deshalb stehen sie in Opposition zum reaktionären Nationalismus und der diesem innewohnenden Politik der Diskriminierung oder sogar Verfolgung von Minderheiten. Bleiben sie sich als Juden treu, lehnen sie notwendigerweise alle Gesetze ab, die eine nationale Bevorzugung, mit ihrer selektiven Logik nach Kriterien wie Herkunft, »Rasse« oder Religion, zum Leitprinzip haben. Sie wissen, wohin es führt, wenn dieses Prinzip etabliert wird. Sie wissen auch, dass der Kampf dagegen mehr erfordert als gelegentliche Kompromisse und Verzögerungstaktiken, deren einziges Ziel es ist, an die Macht zu gelangen oder sich an der Macht zu halten. Als Juden nehmen sie höchst genau die Verletzlichkeit von Minderheiten, von jeder Minderheit, wahr, wenn aus Integration in die Nation ein von der Mehrheit ausgeübter Zwang wird.

Es muss gesagt, wiederholt und eingehämmert werden, dass die Vereinigung der Linken nur unter der Bedingung zustande kommen kann, sich dem »linken« Antisemitismus entgegenzustellen.

Derzeit ist diese Wahrnehmungsschwelle erreicht. In einer Zeit, in der Frankreich eine Regierungsübernahme der extremen Rechten droht, stellen sich die Juden, sofern sie sich ihres Status als in die Nation integrierte Minderheit bewusst sind, an die Seite der am meisten bedrohten Gruppen, das heißt in diesem Fall der muslimischen mi­grantischen Bevölkerung und der sexuellen Minderheiten. Sie schließen sich also den einzigen Kräften an, die dem reaktionären nationalistischen Trend entgegenwirken können. Nicht jenen, die sich als Bollwerk darstellen, während sie darauf spekulieren, aus dem Schatten, den die extreme Rechte wirft, Nutzen zu ziehen – ein vermeintlich subtiles Manöver, das die politische Führung erneut versucht hat, als sie beschloss, die Nationalversammlung aufzulösen. (Nach dem Sieg des Rassemblement national bei der Europawahl im Mai löste der französische Präsident Emanuel Macron die Nationalversammlung auf und setzte Neuwahlen an; Anm. d. Red.) Eine solche liberale Obrigkeit, die sich nur mit der verbalen Denunziation des Extremismus zu helfen weiß und die die Hebel einer echten Integrationspolitik immer weiter schwächt, kann diese Entwicklung nur verschlimmern.

Man muss deutlich bekräftigen: Um dem reaktionären Lager etwas entgegenzusetzen, kann man sich nur auf Kräfte stützen, deren Politik eindeutig soziale Gerechtigkeit und Minderheitenrechte miteinander verbindet und sich dafür einsetzen, eine authentisch progressive Vision der Nation und Europas zu formulieren. Einen Weg, diese Situation dauerhaft zu überwinden, kann derzeit nur die Linke formulieren, und dort sollten die Juden auf die natürlichste Weise ihren Platz finden.

Quellen des Antisemitismus sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken

Doch das geschieht nicht. Denn es ist unbestreitbar, dass der linke Block, der sich als Antwort auf die reaktionäre Gefahr formiert hat, antisemitische Elemente in sich trägt. Mehr noch: Seit vielen Jahren, und mit schwindelerregender Geschwindigkeit seit dem 7. Oktober, haben diese Elemente in der Linken eine strukturierende Rolle erlangt, aufgrund von Ignoranz und der Vereinfachung von Problemen, denen sich das progressive Denken in einer Welt stellen muss, die immer komplexer wird und sich immer stärker globalisiert. Indem die Linke diese Probleme auf den gemeinsamen Nenner »Herrschaft« reduziert und die Juden sowie Israel zu den Herrschenden zählt, hat sie Europa und ganz besonders Frankreich in eine Hochzeit des Antisemitismus eintreten lassen. Natürlich hat der Antisemitismus, wie es schon immer der Fall war, Quellen sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken. Doch heute liegt sein Zentrum in der Linken.

Das Dilemma der Juden besteht also darin, ob sie, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden – aus Treue zu sich selbst und der nichtjüdischen demokratischen ­Nation, deren Teil sie sind –, so weit gehen können, sich mit Antisemiten zu verbünden, und mehr noch, mit denen, die die aktivste Rolle im zeitgenössischen Antisemitismus spielen, ob bewusst oder unbewusst.

Die Antwort ist für uns klar, so schmerzhaft sie auch sein mag: Sie können sich dem nicht verweigern. Das Unglück der Juden besteht nicht nur darin, dass sie unter einem beispiellosen Aufschwung des Antisemitismus leiden. Es besteht darin, dass sie sich auf der Seite der Hauptakteure dieses Aufschwungs wiederfinden müssen, um sich dem reaktionären, rassistischen und fremdenfeindlichen Nationalismus entgegenzustellen. Es besteht darin, sich diesem Widerspruch nicht entziehen zu können und mit ihm leben zu müssen. Es bedeutet, im linken Lager Widerstand zu leisten und sich hartnäckig zu weigern, aus diesem Lager vertrieben zu werden, selbst wenn das heißt, sich im sozialen Raum dort zu positionieren, wo sie mit den größten Widrigkeiten konfrontiert sind. So stellt sich die Tragik der jüdischen Situation heute dar. Es ist eine herzzerreißend Alternative, aber sie ist es umso mehr, als sie nicht den letzten Trost beinhaltet, nämlich die Möglichkeit, sich der Entscheidung zu enthalten.

Politische Mobilisierung auf Kosten der Reflexion

Ist der Widerspruch einmal formuliert, steht seine Unausweichlichkeit einmal fest, ist es gleichwohl möglich und notwendig, innerhalb des von ihm definierten eingeschränkten Raums zu handeln. Wenn die Tragik in diesem Fall in Handeln und nicht in Untätigkeit mündet, ist dieses Handeln nur dann etwas wert, wenn es neu bestimmt wird. Man muss neu definieren, was es bedeutet, »sich für die Linke zu entscheiden«, und dies erfordert die gleiche Entschlossenheit wie der Weg, der zu dieser Schlussfolgerung geführt hat.

Es muss gesagt, wiederholt, eingehämmert werden, dass die Linke sich nur ­unter der Bedingung vereinigen kann, dass sie sich dem linken Antisemitismus stellt: ihn benennt und analysiert und seine Ablehnung zu ihrem obersten Prinzip macht. Nicht damit ein Bündnis der Linken so jüdische Stimmen gewinnt, die bei Wahlen ohnehin eine vernachlässigbare Größe darstellen. Sondern weil nur unter dieser Bedingung der Knoten gelöst werden kann, der die Linke seit langem daran hindert, ihre Positionen konsequent zu artikulieren und sich von dem zu befreien, was sie im Inneren untergräbt.

Der Antisemitismus der Linken, unausgesprochen oder verleugnet, ist es, der derzeit verhindert, dass sich eine echte soziale und demokratische Alternative gegen die reaktionäre Welle bildet. Denn dieser Antisemitismus ist das Symptom dafür, dass Teile der Linken bereit sind, das Nachdenken über gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu missbrauchen und zu pervertieren, indem sie es in rein negative Affekte übersetzen; anders gesagt, indem sie das Denken, das sich darin ausdrückt, verleugnen und es auf einfache, leicht mobilisierbare Emotionen reduzieren.

Diese populistische Art, die politische Mobilisierung auf Kosten der Reflexion zu kon­zipieren und zu organisieren, begeht Verrat an dem, was schon immer das Kennzeichen wahrhaft progressiver Bewegungen war. Anstatt zu versuchen, aus der gesellschaftlichen Kritik an Ungerechtigkeiten ein Wissen über die gemeinsame Ideale der Gesellschaft zu gewinnen und dieses zu nutzen, um ein Projekt der sozialen Transformation hin zu mehr Gerechtigkeit für alle zu formulieren, schmeichelt diese Linke den primitivsten Reaktionen auf Ungerechtigkeit, indem sie der sozialen Welt manichäische Interpretationsschemata überstülpt.

Vom linken Populismus reinigen

Damit ist sie sowohl eine Ursache als auch eine Folge der Unfähigkeit unserer Gesellschaften, eine reflektierte Auseinandersetzung mit sich selbst zu organisieren. Der Aufstieg des linken Antisemitismus und die Krise des Wissens – insbesondere des soziologischen Wissens in seiner kritischen Funktion, politisches Handeln zu beleuchten – sind untrennbar verbunden. Sie bilden zusammen den Strudel, in dem die Linke schon viel zu lange den Halt verliert.
Um aus ihm zu entkommen, braucht es den Mut, nicht wegzuschauen. Vor allem aber muss das Übel ausgerottet werden, indem man es genau dort aufspürt, wo es seine Wurzeln hat: gerade in seiner Verleugnung und in der sich auf den Weg in den Abgrund befindenden sozialen und politischen Kritik, die es immer wieder belebt, während sich seine Gewänder an die sich verlagernden und verschärfenden nationalen und internationalen Konflikte anpassen.

Diesbezüglich lässt sich der Anfang einer Analyse skizzieren. Die beiden Stützen dieses Antisemitismus mögen sich nicht leicht beseitigen lassen, doch sind sie leicht zu identifizieren. Die erste besteht in der Weigerung, klar zu unterscheiden zwischen einer antizionistischen Kritik, die die Zerstörung Israels befürwortet, und einer Kritik der durch die israelische Politik verursachten Ungerechtigkeiten, die zu deren Korrektur aufruft – selbst wenn diese Kritik so weit geht, grundlegende Veränderungen in Betracht zu ziehen, die jedoch nur von der demokratischen israelischen Gesellschaft selbst ausgehen können. Die zweite Stütze ist die Weigerung, eine andere Unterscheidung zu erwägen, nämlich die zwischen Rassismus und Antisemitismus, wobei diese Unterscheidung keine Hierarchisierung der Übel impliziert, sondern zu einer je nach Art von Diskriminierung und Gewalt unterschiedlichen Selbstprüfung aufruft, unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Motive und in Anbetracht des einzigartigen Typs von Minderheit, den die Juden verkörpern.

Die Linke wird sich nur erholen, wenn sie sich von jener Art des linken Populismus reinigt, die zum Zentrum des zeitgenössischen Antisemitismus geworden ist. Der Spitzenkandidat der Parti socialiste (PS; gemeint ist Raphaël Glucksmann; Anm. d. Red.) für die Europawahl hat dies, indem er seine Ablehnung von Gewalt und der Verrohung der öffentlichen Debatte betonte, deutlich ausgedrückt. Doch ist das noch nicht genug, und das Wahlprogramm des Nouveau Front populaire, welches das Verdienst hat, den Antisemitismus als eine der intoleranten Verhaltensweisen zu erwähnen und diese zu verurteilen, »woher sie auch kommen«, hat einen weiteren Schritt getan. Jüngst folgte die »Charta der republikanischen Verpflichtung gegen Antisemitismus«, die die Partei Place publique, der PS, die Grünen und die Kommunisten unterzeichnet haben, nicht jedoch La France insoumise – was deutlich macht, wie falsch es ist, sich das Bündnis der Linken in diesem Punkt als einheitliche Front vorzustellen.

Beim Problem des Antisemitismus geht es nur am Rande um die Juden. 

Wie dem auch sei, sich auf die Klärung von Prinzipien zu beschränken, ist noch nicht genug. Die Linke muss einen weiteren Schritt tun – und das ist der wirklich wichtige Schritt, der verhindert, dass antisemitischen Äußerungen, Handlungen oder Topoi in der Linken um sich greifen und das, was dort gesagt und getan wird, radikal korrumpieren. Man muss so weit gehen zu sagen, dass man den Antisemitismus als ein Übel bekämpft, dessen spezifische Natur nicht auf andere Formen der Diskriminierung und der Gewalt gegen Minderheiten reduzierbar ist, und zwar wegen der Art von Urteil und Motivation, die ihm zugrunde liegt.

Es muss festgehalten werden, dass bekannt ist, wie sehr er viele Diskurse durchdringt, die beanspruchen, für Emanzipation und Gleichheit von Individuen und Nationen einzutreten, aber in Judenhass umschlagen. Und dass daher nicht nur etwas Spezifisches den Antisemitismus vom Rassismus unterscheidet, sondern dass unter den Gestalten, die dieses Übel annehmen kann, der linke Antisemitismus wiederum etwas Spezifisches ist und seine gegenwärtige Stärke einer bestimmten Denkstruktur und Form der Politisierung verdankt, die in gewissen Randgruppen sehr prägend sind, ob das nun verleugnet wird oder nicht.

Diese letzte Unterscheidung ist von grundlegender Bedeutung, da sie heute eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist, dass die Linke zu einem tieferen Umdenken gelangt, ihre eigenen Prinzipien und ihr Verständnis von Gleichheit und Emanzipation erhellt und wiedergeboren wird. Deshalb müssen wir akzeptieren, uns in diesem Kampf ideologisch und intellektuell neu zu bewaffnen. Ein Kampf, der sich um die jüdische Frage dreht, das heißt um den Minderheitenstatus dieses transnationalen, in die Nationen integrierten Volkes, und der seit einiger Zeit aufgrund der Schwächung der kritischen Reflexion, unter der die Linke leidet, nicht mehr in deren Bewusstsein präsent ist.

Juden könnten dann, ohne im Widerspruch zu leben, mit allen progressiven Kräften eine gemeinsame Front gegen die extreme Rechte bilden. Abschließend sollte jedoch ein Punkt hervorgehoben werden. Wie man sieht, geht es beim Problem des Antisemitismus nur am Rande um die Juden. Allgemeiner gesehen geht es darum, dass es endlich wieder für jeden und jede und für alle möglich wäre, sich konsequent als links zu bezeichnen. Selbst wenn in Frankreich kein einziger Jude mehr leben würde und so keiner mehr verteidigt werden müsste, bliebe das Problem bestehen und würde nichts von seinem Ausmaß als Problem verlieren, das alle betrifft. Es ist das Herzstück der Neugründung der Linken. Es ist wie ihr Schibboleth, also das Zeichen, an dem die Linke sich heute sicher erkennen und vollständig von dem unterscheiden lässt, was sie nicht ist, oder von dem, was nur eine Karikatur ihrer selbst ist.

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Der Philosoph Bruno Karsenti lehrt und forscht an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Herausgeber des Anfang Oktober erschienenen Sammelbands »La Fin d’une illusion: Israël et l’Occident après le 7 octobre«. Im vergangenen Juni veröffentlichte das europäische jüdische Online-Magazin »K.« unter dem Titel »Juden in der Wahlkabine: Wie lässt sich die Schlinge lockern?« Texte von Karsenti und dem Soziologen Danny Trom, in denen sie sich mit dem »existentiellen und strategischen Dilemma« auseinandersetzten, mit dem sich die französischen Juden vor den damals an­stehenden Parlamentswahlen konfrontiert sahen: Können sie trotz des linken Antisemitismus das linke Wahlbündnis Nouveau Front populaire, zu dem auch Jean-Luc Mélenchons Partei La France ­insoumise gehört, unterstützen, um einen Wahlsieg des rechts­extremen Rassemblement national zu verhindern? Karsenti nahm das zum Anlass für eine grundlegende Reflexion über den Zusammenhang von Antisemitismus und der Krise der Linken.