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Aus Kreuzberg und der Welt: Mal nicht Connewitz
»Guck mal da!« sagt Julia und zeigt auf einen jungen Mann, der neben uns in ein Skizzenbuch zeichnet. Wir sitzen auf Gleis 3 des Berliner Hauptbahnhofs und warten auf den Zug nach Leipzig, der sich verspätet hat.
»Fährst du auch zum Urban-Sketching-Treffen?« fragt sie ihn. »Nee, ich besuche nur eine Freundin«, antwortet er überrascht. Er weiß von keinem Treffen und auch nicht, was Urban Sketching ist. Ganz unbekümmert reiche ich ihm zur Anschauung mein Skizzenbuch und nehme seines. Als ich es durchblättere, sehe ich schnell, dass die Skizzen eher privat sind. Auf einer Zeichnung steckt eine Frau kopfüber in einer Toilette. Auf der nächsten Seite kommt sie unten wieder raus. Ich gebe ihm sein Buch zurück, der Zug fährt ein.
In der Urban-Sketching-Szene ist es üblich, sich Skizzenbücher gegenseitig zu zeigen. Deshalb enthalten sie auch fast nie unfertige oder gescheiterte Versuche, sondern gleichen Katalogen, in denen eine Spot-Illustration an die nächste gereiht ist.
Die Ankunft im Leipziger Hauptbahnhof ist fast entspannend, so riesig und aufgeräumt wirkt alles. Was für ein Gegensatz zum wimmeligen Berliner Hauptbahnhof oder zum Hamburger Hauptbahnhof, dieser Vorhölle. Weil Julia am Vormittag noch arbeiten musste und unser Zug nicht pünktlich war, kommen wir zu spät zum Treffen. Die Türen zur Eröffnungsveranstaltung sind auch schon geschlossen. »Muss denn hier niemand arbeiten? Wer kann schon so früh anreisen?« fragt Julia enttäuscht. Zum Glück schiebt uns Max Richter aus dem Organisationsteam noch Tickets zu.
Im Museum der Bildenden Kunst sind rund 300 Urban Sketcher aus ganz Deutschland zusammengekommen. Wir treffen gleich ein paar Bekannte aus Potsdam. Zeichnen ist eigentlich ein einsames Hobby. Auch in der Urban-Sketching-Szene gibt es vereinzelte lonely wolfs, die lieber allein losziehen. Im Allgemeinen lieben es die Urban Sketcher aber, gemeinsam zu zeichnen, und alle blicken oft sogar über mehrere Stunden in die gleiche Richtung. Wie Spatzen aufgereiht sitzen am frühen Freitagabend noch Dutzende, den Blick auf die Nikolaikirche fixiert.
Auch Julia und ich setzten uns dazu. Kirchen interessieren mich eigentlich überhaupt nicht, aber aus reiner Sportlichkeit lege ich jetzt los. Dann zeichne ich die Kirche eben so, wie ich will, denke ich. Später soll sich noch zeigen, das ich mit meiner eingebildeten, punkigen Einstellung nicht allein bin.
Am Samstag um zehn Uhr gehe ich zum Sketch Walk im Johannapark. Sabine zeigt uns den Park und erzählt etwas über seine Geschichte. Der Unternehmer und Bankier Wilhelm Seyfferth ließ den Park 1858 im Gedenken an seine verstorbene Tochter Johanna bauen. Ein Akt der Liebe, möchte man denken.
Tatsächlich beging Johanna Selbstmord, nachdem ihr Vater sie mit einem Mann hatte verheiraten lassen, den sie nicht liebte. Hätte er vorher mal mehr Liebe aufgebracht, der werte Seyfferth! Im 20. Jahrhundert war der Johannapark lange Zeit Teil des Clara-Zetkin-Zentralparks und wurde erst 2011 wieder umbenannt. Die Revolutionärin Clara Zetkin starb 1933 im russischen Exil. An zwei Stellen machen wir Halt, um zu zeichnen. Gar nicht so leicht, das viele Grün abzubilden, die einzelnen Bäume, Hecken und Rasenflächen voneinander zu trennen.
Obwohl zarte Aquarellfarben und ein eher naturalistischer Kunstbegriff dominieren, zeigt sich auch, das eigentlich alle im besten Sinne unwahrhaftig sind. Denn in der Kunst geht es nun mal immer auch um Täuschung,Tricks und sehr subjektive Sichtweisen.
Ich war schon öfter in Leipzig, aber diesmal geht es nicht nach Connewitz. Ein Treffpunkt ist das Feinkost-Gelände, eine ehemalige Brauerei. Als ich am frühen Nachmittag dort ankomme, findet auf dem Gelände ein Flohmarkt statt. Eigentlich kann ich nie widerstehen zu stöbern, aber jetzt will ich Gleichgesinnte treffen und zeichnen. Bis um ein Uhr in der Nacht sitzen wir zusammen und zeichnen und trinken im Schatten der sogenannten Löffelfamilie, einer gigantischen Leuchtreklame aus DDR-Zeiten, die eigens für uns illuminiert wird. Sie zeigt eine Familie beim Essen.
Zum Abschluss werden in einer Ausstellung am Sonntag Hunderte von Skizzenbüchern herumgereicht. Es ist beeindruckend, auf welch hohem Niveau die Amateurszene der Urban Sketcher malt und zeichnet. Obwohl zarte Aquarellfarben und ein eher naturalistischer Kunstbegriff dominieren, zeigt sich auch, das eigentlich alle im besten Sinne unwahrhaftig sind. Denn in der Kunst geht es nun mal immer auch um Täuschung, Tricks und sehr subjektive Sichtweisen.
Niemand will tatsächlich puristisch, engstirnig und ausschließend genannt werden. Alle suchen in ihren Bildern ihre eigene kleine, private, subjektive Freiheit. Und zeichnen die Welt so, wie sie wollen. Sie sehen zwar nicht so aus – aber eigentlich sind sie alle kleine Punks.