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Die Glücksspielbranche boomt: Vor allem Anbieter von Sportwetten konnten im Laufe der vergangenen zehn Jahre ihre Umsätze mehr als verdoppeln. Während spielsüchtigen Menschen der soziale und finanzielle Abstieg droht, zeigt der Staat wenig Interesse, die Branche stärker zu regulieren.
Knapp 6,9 Millionen Menschen spielten hierzulande im vergangenen Jahr regelmäßig Lotto, und das, obwohl die Gewinnwahrscheinlichkeit bei der bekanntesten Lotterie »6 aus 49« mit eins zu 140 Millionen in einem enormen Missverhältnis zur maximal erwartbaren Einsatzvervielfachung steht. Selbst wer mit dem ersten und einzigen Lottoschein den Jackpot knackt, hat eine nach der Spieltheorie falsche beziehungsweise irrationale Entscheidung getroffen, nämlich die, an der Lotterie überhaupt teilzunehmen.
Allerdings gehören irrationale Entscheidungen zum Leben im Kapitalismus genauso wie zum Leben in einer bürgerlichen Demokratie, sie sind ihnen immanent. Denn würden die Leute aufhören, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, oder anfangen, bei Wahlen die Kreuze nach ihren Interessen zu setzen – vorausgesetzt der Stimmzettel böte entsprechende Optionen –, käme das System wohl tatsächlich ins Wanken.
Zwar ist die Zahl der Lottospieler:innen hierzulande leicht rückläufig, aber dafür steigen die Zahlen derjenigen, die in Online-Casinos oder bei Sportwetten ihr Glück suchen. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung haben im vergangenen Jahr Geld bei Glücksspielen eingesetzt, und darin sind noch gar nicht alle Handlungen erfasst, die wie Glücksspiele funktionieren.
»Ein Glücksspiel liegt vor, wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt«, definiert der Glücksspielstaatsvertrag von 2021. Nicht erfasst davon ist beispielsweise der Online-Handel mit Wertpapieren, obwohl selbst die sicherste Aktie noch mehr Nervenkitzel und Abhängigkeit vom Zufall verspricht als eine Wette darauf, dass der FC Bayern München in der Fußballbundesliga der Männer die Meisterschaft gewinnt.
Rund 429.000 Menschen gelten hierzulande als spielsüchtig, davon zeigen 229.000 ein sogenanntes problematisches und 200.000 ein pathologisches Glücksspielverhalten.
Genau wie Spekulationen an den Börsen oder auf dem Immobilienmarkt gelten Sportwetten und auch etwa Poker den Spieler:innen als von ihren Fähigkeiten abhängig. Aber am Ende gewinnt immer noch die Bank. Besonders Sportwetten werden auf dem Glücksspielmarkt immer beliebter. Während die Umsätze der Lotterien und staatlich lizenzierten Casinos zurückgehen, konnte die Branche der Sportwetten ihre Umsätze hierzulande von 2014 (4,5 Milliarden Euro) bis 2021 (9,4 Milliarden Euro) mehr als verdoppeln.
Dieses Phänomen des Spätkapitalismus ist ein internationales. Beispielsweise in Großbritannien und den USA gehören Wettquoten obligatorisch zu den Vorberichten der Sportpresse, und Kommentatoren informieren während der Spiele über weitere mögliche Live-Wetten. Sendungen und Teams werden von Sportwettanbietern gesponsert.
Es ist nicht auszuschließen, dass daraus sogar weitere Synergieeffekte entstehen, denn auf ein Spiel zu wetten, kann durchaus der einzige Grund sein, es überhaupt zu schauen. Oder anders ausgedrückt: Setzt man sein Geld auf den Ausgang eines Spiels, hat man also etwas zu gewinnen (oder eben zu verlieren), dann fühlt es sich möglicherweise fast so an, als spielte gerade das eigene Lieblingsteam – selbst wenn man die dritte englische Liga verfolgt und kaum etwas über die auf dem Platz stehenden Spieler oder deren Arbeitgeber weiß.
Glücksspiele können eine ähnliche Wirkung entfalten wie der Konsum von Amphetaminen oder Kokain. Durch eine vermehrte Ausschüttung von Noradrenalin und Dopamin entsteht ein Hochgefühl, das allerdings nicht lange anhält. Eine Spielsucht liegt dann vor, wenn Betroffene ein unabweisbares Verlangen nach diesem Erlebnis aufweisen. Lässt die Dauer des jeweiligen Hochgefühls, wie auch bei anderen Süchten, mit der Zeit nach, sehen Betroffene sich gezwungen, den Einsatz zu erhöhen. Letzteres kann auch durch andere Faktoren hervorgerufen werden, etwa durch die Hoffnung, verlorenes Geld wiederzugewinnen.
Rund 429.000 Menschen gelten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge hierzulande als spielsüchtig, unterteilt wird dabei in 229.000 Menschen mit einem sogenannten problematischen und etwa 200.000 Menschen mit einem pathologischen Glücksspielverhalten. Letztere sind dadurch zumeist in ihrer Persönlichkeitsentfaltung eingeschränkt und gefährdet, soziale Bindungen zu verlieren. Viele Spieler:innen sind zudem substanzabhängig, besonders oft von Alkohol.
Ende April präsentierte der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert (SPD), die Ergebnisse eines von seiner Stelle in Auftrag gegebenen »Stimmungsbildes Sucht- und Drogenpolitik«. Das Papier bildet die Einstellungen der Bevölkerung zu den Werbe- und Sponsoringregulierungen für Alkohol, Tabak und Glücksspiel ab. Demnach wünschen sich mehr als 70 Prozent der Befragten »weitere Werbebeschränkungen für Sportwetten im Internet und TV« und zwei Drittel befürworten ein generelles Verbot von Sponsoring durch Anbieter von Sportwetten und Alkohol beim Fußball. Ein »generelles Werbeverbot« für Lotterien und Glücksspiele wünschen sich dem Stimmungsbild zufolge immerhin 57 Prozent der Befragten.
»Die Überpräsenz von Großflächenwerbung für Alkohol, für Tabak und E-Zigaretten an Kiosk und Tankstelle sowie für Glücksspiel im Fernsehen ist eine Großbaustelle der deutschen Verbraucherschutz-, Jugend- und Gesundheitspolitik«, sagte Blienert bei der Vorstellung der Studie. Tabak, Alkohol und Sportwetten seien viel zu präsent im öffentlichen Raum. »Die große Mehrheit der Bevölkerung will keine Alkoholwerbung mehr, sie fordert einen Stopp jeden Sponsorings für Tabakprodukte oder durch Sportwettenanbieter beim Fußball. Das darf die Politik doch nicht länger ignorieren«, so Blienert weiter.
Die enorme Präsenz von Werbung für Sportwetten und Online-Casinos – wie auch für Alkohol – macht es Abhängigen besonders schwer, nicht rückfällig zu werden. Sie müssen sich ständig selbst kontrollieren. Hinzu kommt, dass Glücksspielangebote über das Internet rund um die Uhr von zu Hause aus verfügbar sind. Die Rückfallquote liegt bei Spielsüchtigen sogar nach einer Therapie bei etwa 60 Prozent. Zwar bieten die seriöseren Anbieter Spieler:innen die Möglichkeit, sich sperren zu lassen, aber für Betroffene ist das selbstverständlich ein schwieriger Schritt, der einem Offenbarungseid gleichkommt.
Dass es bislang keine stärkere Regulierung der Glücksspielbranche gibt, mag auch damit zusammenhängen, dass der Staat durchaus beachtliche Steuereinnahmen durch sie erzielt. Im vergangenen Jahr nahm die Bundesrepublik aus verschiedenen Wett- und Glücksspielsteuern insgesamt über 2,5 Milliarden Euro ein, davon knapp 1,7 Milliarden Euro über die Lotterie- und etwa 432 Millionen Euro über die Sportwettsteuer.
Während bei den Glücksspielanbietern die Gewinne sprudeln und der Staat sich über die Steuereinnahmen freut, geraten immer mehr Spielsüchtige in Armut oder Überschuldung. Sie nehmen Kredite auf, verkaufen oder beleihen Immobilien. Einige werden sogar straffällig, denn allzu oft sehen Abhängige sich gezwungen, das Geld für die Einsätze, das ihnen irgendwann ausgeht, beispielsweise durch Betrug aufzutreiben. Dann führt das Glücksversprechen aus den Werbespots der Anbieter schnurstracks in die Privatinsolvenz oder in den Knast.