Die Polizei hatte Hinweise auf die psychische Erkrankung des Amokläufers von Hamburg

Prophet mit Waffenerlaubnis

Der Amokläufer, der vergangene Woche in Hamburg sieben Menschen erschoss, war legal im Besitz einer halbautomatischen Waffe und Hunderter Schuss Munition. Schon Wochen vor der Tat hatten Polizei und Waffenbehörde Hinweise auf seine psychische Erkrankung erhalten.

»Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt«, sagte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) bei einer Pressekonferenz am Freitag vergangener Woche. Am Donnerstagabend hatte der 35jährige Philipp F. in einem Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Groß Borstel sieben Menschen – vier Männer, zwei Frauen und einen Fötus im Alter von sieben Monaten – ermordet, acht weitere teils schwer verletzt und anschließend sich selbst erschossen. Nach Angaben der Polizei hatte F. mehr als 130 Mal geschossen, bevor Beamte eines Sondereinsatzkommandos den Gemeindesaal stürmten und F. ins Obergeschoss flüchtete, wo er Suizid beging.

F. war bis 2021 selbst Mitglied der Zeugen Jehovas. Über die Umstände seines Ausstiegs aus der sektenähnlichen christlichen Gemeinschaft ist wenig bekannt, doch gab es offenbar Streit. Die Tatwaffe, eine halbautomatische Pistole des Modells Heckler & Koch P30, die auch von der Bundeswehr eingesetzt wird, besaß F. legal, aber noch nicht lange. Im Oktober 2021 war F. nach Informationen der Zeit in den Verein Hanseatic Gun Club eingetreten und hatte sich als Sportschütze registrieren lassen, im Dezember vergangenen Jahres erwarb er mit behördlicher Erlaubnis die spätere Tatwaffe.

Bereits einen Monat später, im Januar, erhielt die Waffenbehörde, die in Hamburg der Polizei angegliedert ist, ein anonymes Schreiben, in dem vor F. gewarnt wurde. Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sagte bei der eingangs erwähnten Pressekonferenz, dass in dem Hinweisschreiben von einer nicht diagnostizierten psychischen Erkrankung und »einer besonderen Wut auf religiöse Anhänger« die Rede gewesen sei. Daraufhin kontrollierten zwei Beamte der Waffenbehörde Anfang Februar die Einhaltung der waffenrechtlichen Bestimmungen durch F. in dessen Wohnung, also die gesetzesgemäße Lagerung von Waffe und Munition in einem eigens dafür vorgesehenen Tresor.

F. schrieb über Frauen, ihr Verhalten habe sich »drastisch zum Schlechteren verändert«. Sie müssten sich eigentlich den Männern unterordnen und nur eine »dekorative Rolle« spielen.

Bei der Kontrolle, so Meyer, habe sich F. »kooperativ« gezeigt und »bereitwillig Auskunft« erteilt. »Insgesamt gab es bis auf eine Kleinigkeit, bei der ein Projektil oberhalb des Tresors lag, keinerlei relevante Beanstandungen. Die gesamten Umstände wiesen auch keinerlei Anhaltspunkte für die Beamten auf, die hätten auf eine psychische Erkrankung hindeuten können«, sagte Meyer. F. habe wegen des »kleinen Verstoßes eine mündliche Verwarnung« erhalten.

Die Beamten der Waffenbehörde hätten auch, so Meyer, vor der Kontrolle »weitere Recherchen« unternommen, »Recherchen in den polizeilichen Auskunftssystemen«, die auch vor der Erteilung der Waffenerlaubnis obligatorisch sind, »und in öffentlich zugänglichen Quellen, bei denen sie insgesamt keine Informationen erlangten«. Wie die Zeit unter Bezug auf Polizeikreise berichtete, übersahen die Beamten dabei, dass F. ebenfalls im Dezember vergangenen Jahres im Selbstverlag ein Buch mit dem Titel »The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Dimensions« veröffentlicht hatte.

In dem auf Englisch verfassten Werk, das als eine Art Manifest gesehen werden muss, finden sich auf rund 300 Seiten zahlreiche frauenfeindliche und antisemitische Aussagen; stilistisch schwankt es zwischen religiösem Wahn und betriebswirtschaftlichem Jargon. Adolf Hitler sei ein Werkzeug Jesus Christus’ gewesen, genauso wie Hitler damals stehe heute Wladimir Putin in Gottes Gunst. Der Ukraine-Krieg sei eine Strafe Gottes dafür, dass ukrainische Frauen sich in Israel pro­stituiert hätten.

In einem Kapitel mit dem Titel »Wichtige Bekanntmachung« schrieb F. über Frauen, ihr Verhalten habe sich »drastisch zum Schlechteren verändert«. Sie müssten sich eigentlich den Männern – »der Krone der menschlichen Schöpfung« – unterordnen und nur eine »dekorative Rolle« spielen. Offenbar hielt sich F. für eine Art Prophet. Gott habe sich ihm persönlich gezeigt und ihm die »Wahrheit« offenbart.

Es ist kaum vorstellbar, dass die Beamten der Waffenbehörde keine Zweifel am Geisteszustand von Philipp F. bekommen hätten, wenn sie dessen Buch gekannt hätten, das er bei Amazon und anderen Handelsplattformen unter seinem Klarnamen vertrieb und auf seiner eigenen Website bewarb. Jedoch berichtete die Zeit wiederum unter Berufung auf die Hamburger Polizei, dass die Behörde in dem Buch keine Rechtfertigung für den Entzug der Waffenerlaubnis erkennen könne. Die Aussagen in dem Buch seien nun mal keine »Tatsache«, wie es das Gesetz als Hinweis auf eine psychische Erkrankung verlange.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte bereits Ende vergangener Woche an, einen von ihrem Ministerium bereits erstellten Gesetzentwurf zur Verschärfung des Waffenrechts mit Blick auf die Frage zu überprüfen, wie der Amoklauf von Hamburg hätte verhindert werden können. Ins Gespräch brachte sie dabei sowohl die Möglichkeit, den privaten Besitz von halbautomatischen Pistolen (die Standardwaffen von Polizeibeamten und Sicherheitsdiensten) generell zu verbieten, als auch die, potentielle Waffenbesitzer zu verpflichten, ihre psychologische Eignung durch ein Gutachten nachzuweisen.

Letzteres gilt bislang nur für unter 25jährige, der im Januar veröffentlichte Gesetzentwurf sieht aber bereits eine Pflicht für Antragstellende jeden Alters vor. Dem Nationalen Waffenregister zufolge besitzen in Deutschland 946 500 Personen privat Schusswaffen.

Hingegen verwies der Vorsitzende des Interessenverbands Forum Waffenrecht, Friedrich Gepperth, in einer Pressemitteilung darauf, dass bereits nach geltendem Recht für die Waffenbehörde nach dem Hinweisschreiben die Möglichkeit bestanden habe, F. »eine psychologische Begutachtung aufzugeben«. Die Hürden dafür seien »denkbar niedrig« und es seien »offensichtlich ­Fehlentscheidungen getroffen« worden, »die es dringend aufzuklären gilt«.