Die Reichsbürgerbewegung entstand bereits in den siebziger Jahren

Deutsche Traditionen

Kommentar Von Elke Wittich

Reichsbürger gibt es in Deutschland seit den siebziger Jahren. Mit dem Mauerfall gewann das Reichsbürgertum, das Steuern und Abgaben der Bundesrepublik für unberechtigt hält, besonders in Ostdeutschland Anhänger.

Davon auszugehen, dass sich die deutschen Reichsbürger bei der US-ame­rikanischen Qanon-Bewegung ideologisch bedienen, ist eine sehr einseitige Sichtweise. Vielmehr handelt es sich um wechselseitige Beeinflussung. Inte­ressant ist in beiden Fällen die Partizipation von Nichtweißen und Frauen.

Reichspropaganda hatte es in der BRD schon Ende der siebziger Jahre gegeben. Der Westberliner Wolfgang Ebel, wohl der erste selbsternannte Reichskanzler, brachte Mitte der Achtziger das Gerücht auf, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) sei in Wirklichkeit Jude. Bereits Anfang der Sieb­ziger hatte sich eine ähnliche, die Gesetze und das Recht des demokratischen Staates leugnende antisemitische Bewegung in den USA entwickelt, das Sovereign Citizen Movement, kurz SovCits. Auf deren Konto geht der Bombenanschlag in Oklahoma City 1995, bei dem mindestens 168 Menschen starben: Der Täter Timothy McVeigh gehörte zum Dunstkreis der Bewegung. Aber nicht nur weiße Rassisten sind SovCits.

Viele Ostdeutsche übernahmen westdeutsche Reichsbürgerideologie gern, die ihnen suggerierte, Steuern und Abgaben seien illegal.

Der bislang letzte dieser Bewegung zugeschriebene Anschlag war die Amokfahrt des Rappers Darrell Brooks, der am 21. November 2021 mit einem SUV in die Weihnachtsparade der Stadt Wau­kesha, Wisconsin, gefahren war und dabei sechs Menschen getötet sowie 62 weitere verletzt hatte. Im Gerichtssaal behauptete Brooks, dass der Bundesstaat Wisconsin ihn nicht anklagen könne, da er ein SovCit sei. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League hatte der mittlerweile zu sechsmal lebenslanger Haft Verurteilte seit 2015 auf Facebook immer wieder verschwörungstheoretische und antisemitische Postings getätigt, die unter anderem auf Überzeugungen der sogenannten Black Hebrew Israelites basierten, die sich als wahre Nachkommen der biblischen Israeliten ansehen. Die antirassistische NGO Southern Poverty Law Center (SPLC) bezeichnet große Teile dieser Bewegungen als »schwarze separatistische Hassgruppen«.

Schwarz und ein SovCit zu sein, schließt sich in den USA nicht aus, zur Bewegung gehört schließlich auch die (wie die ­Nation of Islam) aus der islamischen Sekte Moorish Science Temple of America hervorgegangene Gruppe Washitaw Nation. Sie war Ende der Neunziger von der ehemaligen Kleinstadtbürgermeisterin Verdiacee Hampton Goston in Louisiana gegründet worden. Zentraler Glaubenssatz ist, neben der Überzeugung, von den moors (Mauren) abzustammen, das Insistieren darauf, dass Staat und Bundesstaat nicht existierten und Steuer- sowie andere Gesetze daher ungültig seien. Das SPLC bezeichnete die Washitaw Nation bereits 1999 als »Separatistengruppe aus Louisiana«.

In Deutschland gewann das Reichsbürgertum, zu dem übrigens auch Menschen mit Migrationshintergrund wie der Erfinder des Deutschen Amts für Menschenrechte, Mustafa S., und der selbsternannte Präsident des »Volks-Bundesraths im Volks- und Heimatstaat Deutsches Reich« sowie Holocaust-Leugner Iwan G. gehören, erst durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik an Bedeutung. Die damals zunehmende Attraktivität der Reichsbürgerideologie lässt sich am Beispiel Martina Pf. erklären: Sie war Anfang der nuller Jahre zu einer Protagonistin der sogenannten Abwasserproteste im thüringischen Friedrich­roda geworden. Bereits im Juni 1998 hatte der Spiegel berichtet, dass Ostdeutsche überdurchschnittlich häufig ihre Gas-, Wasser-, und Stromrechnungen nicht bezahlen konnten oder wollten. Zu DDR-Zeiten war Energie subventioniert, nach der Wende versuchten ostdeutsche Kommunen dem Bund der Steuerzahler zufolge oft, mit überhöhten Gebühren Haushaltslöcher zu stopfen. Viele Ostdeutsche übernahmen westdeutsche Reichsbürgerideologie gern, die ihnen suggerierte, Steuern und Abgaben seien illegal – und ihnen nebenbei die ganze Bandbreite gängiger Verschwörungslügen nahebrachten, die auf fruchtbaren Boden fielen.

Martina Pf. starb im November 2004 mit ihrer Tochter bei einem Autounfall, der im Reichsbürgermilieu bis heute als Mord gilt. Ihr »Tagebuch«, eine Sammlung von E-Mails, Briefen und Blogeinträgen, ist noch heute im Internet verfügbar. Im Übrigen stehe sie »unter dem persönlichen Schutz von Reichskanzler Dr. Ebel«, hatte sie Anfang Juni 2004 in einem offenen Brief an die Bild-Zeitung geschrieben, in dem sie unter anderem die Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck als eine der ihr »bekannten, sehr achtenswerten Persönlichkeiten« erwähnte. Bild hatte zum Ärger von Pf. darüber berichtet, dass nunmehr die Staatsanwaltschaft gegen sie ermittle, weil sie den dama­ligen thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) bedroht habe.

Der Tonfall, den Pf. in Briefen an Politiker und Behörden anschlug, ist aus damaliger Sicht ungewöhnlich: Persönliche Beleidigungen und Drohungen, derbe antisemitische Hassausbrüche und die immer wieder vorgetragene Überzeugung, dass der Staat und seine Beschäftigten völlig illegal handelten. Pf. war jedoch kein Einzelfall. In den folgenden Jahren häuften sich die Berichte hilfloser ­Beamter und Beamtinnen, die mit immer aggressiverem Reichsbürgertum konfrontiert wurden. Erst 2016 erschien »Reichsbürger – ein Handbuch«, ge­fördert von den Landespräventionsräten von Sachsen und Brandenburg, das als Hilfestellung für Beschäftigte bei Behörden gedacht war, denn das Reichsbürgertum war inzwischen eine alltägliche Erscheinung geworden.