Die EU-Kommission hält Zahlungen für Ungarn zurück

Neuer Mechanismus in Aktion

Die EU-Kommission hält die Reformen der ungarischen Regierung zur Korruptionsbekämpfung für unzureichend und will Milliarden an EU-Mitteln einfrieren.

Die ungarische Justizministerin Judit Varga (Fidesz, Ungarischer Bürgerbund) gab sich bei einem EU-Ministertreffen Mitte November in Brüssel betont optimistisch: Ungarns Regierung habe die Forderungen der EU-Kommission »voll umgesetzt«. Sie lobte ihr Land als Vorbild für andere Mitgliedstaaten und betonte den konstruktiven Dialog mit der Kommission. Eine Woche später zeigte sich jedoch, dass die EU-Kommission das ganz anders sah: Ungarn habe es versäumt, zentrale Aspekte der notwendigen Reformen zu verwirklichen, die im Rahmen des 2014 etablierten sogenannten Rechtsstaatsmechanismus nach Artikel 7 des EU-Vertrags von 1997 vereinbart worden waren. Die Kommission empfiehlt, Zahlungen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt und 5,8 Milliarden aus dem Coronahilfsfonds einzufrieren. Damit es dazu kommt, müssen 15 der 27 Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren, der Empfehlung zustimmen. Entscheiden wollten die EU-Finanzminister darüber am 6. Dezember, stattdessen forderte der vorsitzende Finanzminister Tschechiens die EU-Kommission auf »eine aktualisierte ­Bewertung zu den ungarischen Reformen« vorzunehmen.

Bereits im September hatte die Kommission vorgeschlagen, Gelder einzubehalten, da die ungarische Regierung sie nicht ordnungsgemäß verwende. »Bei Ungarn, wir haben uns sehr klar ausgedrückt, ist das Problem Korruption«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) bei der Einleitung des Rechtsstaatsverfahrens im April. Bis Mitte November hatte Ungarn Zeit, Abhilfe zu schaffen; unter anderem sollten eine Task Force zur Korruptionsbekämpfung eingerichtet und die Vorschriften bei der Vergabe öffentlicher Mittel verschärft werden.

Ministerpräsident Viktor Orbán von der nationalkonservativen Partei Fidesz hat seit seinem erneuten Amtsantritt im Jahr 2010 (er war zuvor Ministerpräsident von 1998 bis 2002) ein umfangreiches Korruptionsnetzwerk aufgebaut, das ihm treu verbundene Geschäftsleute begünstigt. Sein Jugendfreund Lőrinc Mészáros stieg unter Orbán zum reichsten Ungarn auf. Enthüllungsjournalisten konnten nachweisen, dass der Bau- und Medienunternehmer lukrative Infrastrukturaufträge erhielt, die zum Teil mit EU-Geldern finanziert wurden. Auch kam ans Licht, dass dem Kieswerk von Orbáns Vater lukrative öffentliche Aufträge zugeschanzt wurden. Im Korruptionswahrnehmungsindex der NGO Transparency International fiel Ungarn unter Orbán von Platz 46 (2009) auf Platz 73 (2021) von 180 Ländern zurück und wurde nach Bulgarien zum zweitkorruptesten Mitgliedstaat der EU.

Der Rechtsstaatsmechanismus der EU zielt jedoch nicht ausschließlich auf den Umgang mit EU-Geldern. Zu den 17 geforderten Reformen gesellt die EU-Kommission 27 »wesentliche Meilensteine«, die Ungarn erreichen soll, um wieder unbeschränkt an EU-Gelder zu kommen. Zu diesen »Meilensteinen« gehören auch Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Im Zuge der Umwandlung des ungarischen politischen Systems in eine »Wahlautokratie«, so das EU-Parlament im September, wurde die Justiz mit parteigebundenen Richtern besetzt. Zu den EU-Forderungen gehören die Sicherung der Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs und die Stärkung der Befugnisse des Nationalen Justizrats. Die meisten der bisher verabschiedeten Gesetze der Regierung Orbán, mit denen diese der EU-Kommission entgegenkommen will, würden den Rechtswissenschaftlern Dan Kelemen, Kim Lane Scheppele und John Morijn zufolge Hintertüren für Korruption offenhalten. Sie fordern, die kompletten EU-Mittel einzubehalten und nicht nur wie vorgeschlagen rund 65 Prozent.

So weit will die Kommission nicht gehen, doch auch in ihren Augen reichen die Gesetze nicht aus, die das ungarische Parlament verabschiedet hat; in diesem besitzt die Koalition aus Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) eine Zweidrittelmehrheit. Die ungarische Regierung versprach, ein strengeres System für die Vermögenserklärung von Staatsbeamten einzuführen: Ein neues Gesetz erweitert deren Kreis, und auch enge Familienangehörige, Ehepartner und Kinder, die im selben Haushalt ­leben, müssen nun ihre Vermögen angeben. Orbáns Vater, der EU-Mittel in zweistelliger Millionenhöhe für öffentliche Bauvorhaben erhalten hat, fällt, da Eltern nicht erfasst werden, jedoch nicht unter das Gesetz; ebenso wenig Orbáns Schwiegersohn, der als Lieferant öffentlicher Bauvorhaben an EU-Geldern kräftig verdient hat, weil er in einem anderen Haushalt lebt.

Der Gewinner des Europäischen Pressepreises, Szabolcs Panyi, bemängelt, die von der Kommission geforderten Maßnahmen reichten nicht weit genug. Auf Twitter schrieb er, dass keine Reformen bezüglich der Struktur der Medien in Ungarn und des Umgangs mit unabhängigen Journalisten gefordert worden seien, und fragt: »Wie können wir die Korruption der Regierung unter­suchen, wenn sie uns und unsere Informanten ausspioniert?«

Orbán ist an demokratischen Reformen kaum interessiert, ein Votum der EU-Finanzminister dafür, der Empfehlung der Kommission zu folgen, wäre aber ein ernstes Problem für ihn. Dass Ungarn zwei Tage nach der Empfehlung bekräftigte, ein bereits beschlossenes EU-Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 18 Milliarden Euro blockieren zu wollen, interpretieren viele als Druckmittel. Die angespannte wirtschaftliche Lage Ungarns würde sich ohne die EU-Gelder weiter verschärfen, die eingefrorenen Mittel entsprechen zwischen fünf und acht Prozent des ungarischen Bruttoinlandsprodukts für 2022. Welche Bereiche von den notwendigen Kürzungen betroffen sein werden, lässt sich noch nicht genau sagen. Zehntausende von Lehrern, Schülern und ­Eltern haben Mitte November gegen Orbáns Politik demonstriert und schließlich die versprochene Gehaltserhöhung für Lehrer durchgesetzt. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás knüpfte diese jüngst an den Geldfluss aus der EU, der nun in Frage steht.