Der Verschleierungszwang für Frauen ist eine der Grundlagen des iranischen Regimes

Der Hijab und die Sittenpolizei

Die Überwachung der religiös definierten Rolle der Frau ist für die Islamische Republik fundamental. Nicht umsonst haben die Aufstände im Iran mit dem Widerstand gegen die Zwangsverhüllung für Frauen begonnen. Weil sie sich dagegen auflehnen, werden sie als Feinde des Systems bekämpft.

Steht das Ende der verhassten Sittenpolizei bevor? Am Wochenende sorgte weltweit die Meldung für Aufsehen, der Generalstaatsanwalt der Islamischen Republik Iran, Jafar Montazeri, habe auf einer Pressekonferenz verkündet, die religiöse Sittenpolizei, die ­unter anderem die Einhaltung der Kleidervorschriften für Frauen überwacht, sei aufgelöst worden.

Doch schnell folgten gegenteilige Äußerungen. In iranischen Staatsmedien hieß es, es falle nicht in die Befugnisse der Justiz, solche Entscheidungen zu treffen. Eine Bestätigung der Aussage Montazeris seitens des Innenministeriums erfolgte nicht. Andere ­Medien meldeten, Montazeris Äußerung sei falsch interpretiert worden: Er habe nur auf Nachfrage kommentiert, dass sich seit Beginn der landesweiten Proteste die Sittenpolizei weniger in der Öffentlichkeit zeige, gleichzeitig aber versichert, dass die Justiz nach wie vor Verletzungen der Kleidervorschriften ahnde. Am Montag schrieb die aus dem Iran stammende Frauenrechtlerin Masih Alinejad auf Twitter, eine Angestellte eines Teheraners Geschäft sei angeklagt worden, weil ein Foto von ihr ohne Verhüllung im Internet zirkuliert habe. »Die Sittenpolizei wurde nicht abgeschafft. Das war eine absolute Lüge«, kommentierte Alinejad.

Vor allem scheint es schwer vorstellbar, dass der Verhüllungszwang für Frauen aufgehoben werden könnte, solange das islamistische Regime an der Macht bleibt. Bei den unter anderem von der Sittenpolizei durchgesetzten Zwängen handelt sich nicht um beliebige soziale Konventionen, die im Zuge einer Modernisierung der Islamischen Republik Iran revidiert werden könnten – sondern um Kernelemente des herrschenden Systems.

Schon in der Präambel der iranischen Verfassung wird die islamische Revolution als Befreiung von den »Lastern der Verführung und Abtrünnigkeit« bezeichnet. Sie habe die iranische Gesellschaft »von wesensfremden Gedankengut« gereinigt und »zur islamischen Weltanschauung« zurückgeführt. Frühere »antikolonialistische Bewegungen« seien gescheitert, weil ihnen eine ihren Kampf tragende Weltanschauung gefehlt habe. Die Aufgabe der Verfassung sei es daher, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen sich die Menschen mit den islamischen Werten entfalten könnten. Dafür benötige es die Beteiligung aller Bürger – auch der Frauen. In Hinblick auf die Rolle der Frau ist eine Stelle besonders von Bedeutung: »Nach dieser Auffassung über die ­Familie als grundlegende Einheit wird die Frau vom Zustand eines Gebrauchsobjektes beziehungsweise eines Werkzeuges im Dienste des Anreizes zu übermäßigem Konsum und von der Ausbeutung befreit; während sie die bedeutende und wertvolle Aufgabe der Mutterschaft zur Erziehung von Menschen mit fester Weltanschauung zurückgewinnt, ist sie zunächst Mitkämpferin der Männer im aktiven Leben. Als Folge der Übernahme einer größeren Verantwortung wird ihr aus der Sicht des Islam eine größere Wertschätzung und höhere Würde zuteil.«

Dieses Frauenbild geht maßgeblich auf ein Buch zurück, das noch vor der iranischen Revolution veröffentlicht wurde. In »Fatima ist Fatima« übte der Religionssoziologe Ali Shariati Kritik an den Reformen des Schahs zur Frauenemanzipation und pries Fatima, die jüngste Tochter des Propheten Mohammed, als Vorbild aller islamischen Frauen. In der traditionellen iranischen Gesellschaft habe das »Vaterrecht« das Leben der Frau bestimmt. Der Vater trat als Vermittler zwischen der Gesellschaft und ihr auf. Erst unter Reza Schah Pah­lavi, ursprünglich Reza Khan, der als erster Schah von 1925 bis 1941 den Iran ­regierte, wurde das traditionelle Vaterrecht relativiert. Frauen benötigten fortan nicht mehr die Zustimmung ihrer Väter, wenn sie beispielsweise ­studieren oder arbeiten gehen wollten. Shariati lehnte sowohl die traditionelle wie auch die moderne Rolle der Frau ab. Durch die Reformen sei die Frau »verwestlicht« und ihrer »Identität« beraubt worden. Der westliche Kapitalismus und Konsumismus habe sie zu »modernen Puppen« umgeformt, »die die Form des Feindes« angenommen hätten. Doch auch die traditionelle Frau sei in ihrer »ruhigen, zahmen, alten Form« überholt. Shariati stellte diesen beiden einen dritten Idealtypus ent­gegen: Die Frau an der Seite des islamischen Mannes als Kämpferin für den Gottesstaat, die in der Gesellschaft politisch agiert.

Sowohl in der Verfassung der Islamischen Republik wie auch bei Shariati liegt die Betonung auf dem antikolonialen Kampf. Seit langem kursiert eine Geschichte, die bis heute in verschiedenen Versionen als Grundlage für die Propaganda des Regimes dient: Im 15. Jahrhundert sei es den Christen gelungen, die Muslime zu schwächen und Andalusien zurückzuerobern, indem man die Frauen dazu verleitet habe, das Kopftuch abzulegen. Die Beseitigung des Hijab sei somit eine Waffe des Westens, um muslimische Länder zu erobern. Im Iran selbst seien diese Versuche erfolglos gewesen – bis Reza Khan an die Macht kam, der die Frauen enthüllt und die Kolonial­politik nolens volens vorangetrieben habe, obwohl er das Land unabhängig von Großbritannien machte.

Die zentrale Bedeutung der Verschleierung der Frau für die Islamische Republik unterstreicht die Verfassung dadurch, dass sie der Frau die Aufgabe zuspricht, den heiligen, islamischen Charakter der Familie zu garantieren: Die Ehefrau ist die entscheidende In­stanz für die Reproduktion der islamischen Gesellschaft. Somit trägt sie auch die Verantwortung, wenn diese gefährdet wird. Frauen werden damit einerseits sakralisiert, andererseits stehen sie unter ständigem Verdacht, die ihnen auferlegten Pflichten nicht zu erfüllen. Das Kopftuch steht ganz im Sinne Shariatis für die Ablehnung des westlichen Lebensstils, die Rückbesinnung auf die islamische Rolle und die besondere politische Aufgabe der Frau in der Islamischen Republik. Der zentralen Dichotomie der iranischen Theokratie entsprechend ist die Frau entweder nach den Regeln des Regimes verschleiert, oder sie wird zur Bedrohung des Regimes stilisiert.

Ruhollah Khomeini, der Anführer der Revolution von 1979, bezeichnete die Gegnerinnen der Zwangsverschleierung als »Prostituierte« und auch sein Nachfolger als sogenannter Oberster Führer, Ali Khamenei, warnt vor denjenigen, die »Promiskuität und Prostitution« propagierten. Ein ehemaliges Parlamentsmitglied schrieb als Reaktion auf die Proteste: »Was glauben Sie, was die Minderheit will, die in einigen Straßen mit dem Kopftuch wedelt? Die einzige ›Freiheit‹, die sie wollen, ist, jede Nacht mit jemandem zu schlafen und sich wie Tiere zu benehmen.« Schon 1979 schmähte Khomeini den Wunsch nach Freiheit als Wunsch nach Spielbanken, Alkohol, Bordellen und Drogen. Gemäß dieser Sichtweise sind die Frauen, die derzeit gegen die Zwangsverschleierung protestieren, innere Feinde, die das ganze System ins Wanken bringen.

Der offenbar gewaltsame Tod Jina Mahsa Aminis im Gewahrsam der ­Sittenpolizei war eine Folge dieser Politik, die sich immer wieder in Gewalt ­gegen Frauen entlädt. Seit Beginn der Proteste gibt es auch zahlreiche Berichte über sexuelle Gewalt von Polizisten und Angehörigen der Justizbehörden. Ende November veröffentlichte CNN eine Recherche, in der mehrere Fälle von systematischer Gewalt und Vergewaltigungen geschildert werden.

Die Angst der Mullahs ist nicht unbegründet. Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie des Tony Blair Institute for Global Change kam zu dem Ergebnis, dass 78 Prozent der 20- bis 29jährigen, 68 Prozent der 30- bis 49jährigen und 74 Prozent der über 50jährigen Iraner den Verschleierungszwang für Frauen ablehnten. 84 Prozent der Gegner des Hijabzwangs sagten, sie wollten in einem säkularen Staat leben – de facto macht sie das zu Revolutionären. Das Regime dürfte das wissen und versucht, mit aller Gewalt dagegen vorzugehen.