Die Türkei bombardiert die kurdischen Gebiete Nordsyriens

Bomben auf Rojava

Die Türkei setzt ihre Luftangriffe auf die kurdischen Stellungen in Syrien und dem Irak fort. Präsident Erdoğan droht neuerlich mit einer Boden­offensive und will mit Syrien verhandeln.

Nachdem die Ordnungskräfte der Türkei in Windeseile die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) und die Volksvertei­digungseinheiten (YPG) des syrischen PKK-Ablegers PYD als Drahtzieher hinter dem Anschlag am 13. November in der Istanbuler Fußgängerzone benannt hatten, schien für Präsident Recep Tayyip Erdoğan der Weg zu seiner seit dem Frühjahr angekündigten Offen­sive gegen die syrischen Kurd:innen geebnet. Eine Woche nach der Bombenexplosion setzte ein Hagel von Luftangriffen und heftiges Artilleriefeuer in Nordsyrien und Nordirak ein.

Erdoğan gab Hinweise auf eine bevorstehende Bodenoffensive. Doch anders als bei früheren Angriffen folgte dem Beschuss nicht nach zwei Tagen der Vormarsch türkischer Leopard-2-Panzer. Stattdessen kündigte Erdo­ğan an, er sei bereit, sich mit seinem sy­rischen Amtskollegen und ehemaligen Erzfeind, dem Diktator Bashar al-Assad, zu treffen. Gerade hatte es noch so ausgesehen, als wolle Erdoğan mit den Luftangriffen auch die syrische Armee aus Gebieten, in denen sie neben der kurdischen YPG präsent ist, gewaltsam vertreiben – und dann ein solches ­Friedensangebot an den Machthaber in Damaskus.

Präsident Erdoğan kündigte an, er sei bereit, sich mit seinem syrischen Amtskollegen und ehe­­­maligen Erzfeind, dem Diktator Bashar al-Assad, zu treffen.

Erdoğan fürchtet wegen der hohen Inflationsrate von über 80 Prozent und der Unzufriedenheit in der Bevölkerung um seine Wiederwahl bei den im Juni des kommenden Jahres angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Am Montag verkündeten sechs türkische Oppositionsparteien, sich mit der Absicht zusammengeschlossen zu haben, Erdoğan und seine AKP-Regierung abzulösen. Sie präsentierten einen Entwurf für geplante Verfassungsänderungen, mit denen das Parlament und das Rechtssystem gestärkt sowie die Befugnisse des Prä­sidenten eingeschränkt werden sollen.

Greift Erdoğan Rojava, die autonome Föderation Nord- und Ostsyrien, erneut an und erobert insbesondere die überwiegend von Kurden bewohnte Stadt Kobanê, kann er sich wütender kurdischer Proteste sicher sein. Die ­Situation könnte weiter eskalieren, so dass die türkische und die kurdische Opposition nicht zusammenfänden. Die von Erdoğan beschworene Terrorgefahr würde auch Maßnahmen wie die Stationierung von Ordnungskräften in Wahllokalen erleichtern, die insbesondere in den östlichen Landesteilen, wo die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung lebt, die Wahl beeinflussen könnten. In einer ähnlichen Situation im Jahr 2015 gaben von Gewalt verängstigte Wähler:innen dem starken Mann Er­do­ğan beziehungsweise seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) bei Neuwahlen die absolute Mehrheit im Parlament zurück, die sie kurz zuvor verloren hatte.

Die wahren Hintergründe des Istanbuler Anschlags sind weiter unklar. Nach wenigen Tagen gelangte die Aussage der mutmaßlichen Attentäterin Ahlam Albashir in die Presse. Sie behauptete, von der kurdischen YPG erpresst worden zu sein. Außerdem habe sie nicht gewusst, dass in der Tasche, die sie platzierte, eine Bombe war. Ihr sei gesagt worden, sie solle sie in der Shoppingmeile İstiklal Caddesi niederlegen und jemand anderes werde sie dort abholen. Außerdem sagte sie, ihr älterer Bruder sei ein hoher Kommandant der Freischärler der Freien Syrischen Armee (FSA), die sich zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 zum Sturz von al-Assad zusammengeschlossen hatten. An die Stelle der FSA ist längst die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) ge­treten, eine Ansammlung unterschiedlicher Gruppen ohne übergreifende Kommandostruktur, von denen viele islamistisch und andere schlicht kri­minell sind.

Kurdische Quellen behaupten, drei Brüder Albashirs seien für die jiha­distische Miliz »Islamischer Staat« (IS) gefallen. Nicht geklärt ist, warum sie zweimal unter der Telefonnummer von Mehmet Emin İlhan angerufen wurde, dem Kreisvorsitzenden der mit Erdo­ğan verbündeten rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) im südost­anatolischen Güçlükonak. Auf Mediennachfragen reagierte İlhan mit wirren Antworten. Erdoğans AKP und die MHP verhinderten eine parlamentarische Untersuchung des Anschlags und ließen von den 50 gleichzeitig mit Albashir festgenommenen Personen 29 sofort abschieben.

Die bloße Aussage Albashirs, sie sei vom YPG-Kommandanten in Kobanê beauftragt worden, reichte Erdoğan als Kriegsgrund. Er hat die Städte Tell Rifaat, Manbij und Kobanê als Ziele einer Offensive genannt. Mit deren Eroberung könnte er die bereits von der Türkei besetzten Gebiete miteinander verbinden und die Kurd:innen daran hindern, Guerillaak­tionen gegen den türkisch besetzten Kanton Afrin durchzuführen. Die Eroberung von Kobanê wäre für die Kurd:innen eine tiefe Demütigung sowie ein Symbol dafür, dass sie der Westen im Stich gelassen hat. Mit der von der US-Luftwaffe unterstützten Verteidigung von Kobanê hatte die kurdische Miliz 2014/15 der bis dahin unaufhaltsam scheinenden Terrormiliz IS die entscheidende Niederlage beigebracht.

Wahrscheinlich einstweilen nicht ­erobern will Erdoğan das Gebiet um ­Qamishli, das sich weiter südlich bis zur irakischen Grenze zieht; dort haben die USA ihre Truppen hauptsächlich stationiert. Dennoch wurden in diesem Gebiet Infrastrukturziele wie Öl- und Gasfelder angegriffen, im nördlichen Teil des Gebiets waren es vor allem militärische Ziele, darunter auch Stellungen der syrischen Armee, mindestens 18 Soldaten starben. Auch angebliche PKK-Stellungen im Irak wurden bombardiert. Einige Treffer landeten nahe an auch von den USA benutzten Stützpunkten. Bei einem gezielten Angriff auf die Wachmannschaft des syrischen Flüchtlingslagers al-Hol, in dem Zehntausende Vertriebene aus dem Irak und Syrien, aber auch viele Angehörige von IS-Kämpfern leben, wurden acht Wachleute getötet, etliche, vor allem weibliche IS-Mitglieder konnten fliehen. Es ist nicht das erste Mal, dass Er­do­ğan dem IS Schützenhilfe leistet, um den Kurd:innen zu schaden.

Die USA sehen durch einen Angriff auf die von ihnen unterstützte YPG ihre Interessen im Kampf gegen den IS verletzt. Der Iran hat zwar Probleme mit den eigenen Kurd:innen, macht aber dafür die Demokratische Partei des Iranischen Kurdistans sowie die linke Komala-Partei des Iranischen Kurdistan verantwortlich und greift derzeit deren Basen im Irak mit Raketen und Kamikazedrohnen an. In Syrien jedoch unterstützt der Iran al-Assad und würde von einem Angriff auf die dortigen Kurd:innen nicht profitieren. Al-Assad würde die kurdische Autonomie gerne unterdrücken und die US-Präsenz in Rojava los sein, aber Erdoğan ist für ihn das größere Problem. Der macht keine Anstalten, die von seinen Truppen besetzten Territorien je wieder zu räumen. Während die Kurd:innen nur einen Teil Syriens kontrollieren wollen, hat Erdoğan Oppositionelle unterstützt, die al-Assads Regime ganz beseitigen wollen. Mittlerweile staut die Türkei jeden kleinen Grenzfluss nach Syrien ab und leitet das Wasser auf türkische Felder. Das trifft sowohl Kurd:innen als auch al-Assad.

Russland verkauft sich indessen in der Region als die Macht, die ihre Verbündeten niemals im Stich lässt. Damit hebt sich Russland von den USA ab, die unter Präsident Donald Trump ­einen Feldzug Erdoğans gegen ihre kurdischen Verbündeten zuließen. Auch Erdoğan ließ langjährige Verbündete fallen, als er den Muslimbrüdern die Unterstützung entzog, um die Beziehungen zu Ägypten und Saudi-Arabien zu verbessern. Für Russland wäre es strategisch unklug, nun Assad im Stich zu lassen, dessen Syrien als eines von nur vier Ländern in der UN-Vollversammlung gegen eine Verurteilung Russlands wegen des Überfalls auf die Ukraine gestimmt hat. Putins Sondergesandter in Syrien, Aleksandr Lawrentjew, rief die Türkei zur Mäßigung und zu einer Verständigung mit Syrien auf.

Dieser Forderung ist Erdoğan nun entgegengekommen. Allerdings ist unklar, was er Assad bieten könnte. Ein Landtausch auf Kosten der syrischen Rebellen in Idlib im Nordwesten Sy­riens, das im Bürgerkrieg zum letzten größeren Rückzugsort der oppositionellen Kräfte wurde? Ein gemeinsames Vorgehen gegen die kurdische YPG? Jede derartige Vereinbarung würde die Anwesenheit türkischer Truppen in ­Syrien legitimieren, zugleich hat Assad wenig Grund, Erdoğan zu vertrauen. Noch 2011 nannte Erdoğan Assad einen Bruder, nur um einige Zeit später vergeblich durch die Unterstützung islamistischer Milizen an seinem Sturz zu arbeiten; immer wieder bezeichnete Erdoğan al-Assad als »Mörder«.

Für die Kurd:innen bedeuten die Entwicklungen, dass eine türkische Invasion kurzfristig unwahrscheinlich ist, die Luftangriffe aber weitergehen. In der türkischen Tageszeitung Bir Gün wird spekuliert, dass es derzeit für eine Invasion noch zu früh wäre, um die Wahlen im Sommer zu beeinflussen. Doch wenn Putins Regime durch weitere Niederlagen erheblich geschwächt würde oder Erdoğans Verzweiflung wegen der herannahenden Wahl wachsen sollte, könnte er sich durchaus für seinen vierten Syrienfeldzug entscheiden. Einstweilen macht er es wie Russland in der Ukraine; die Türkei zerbombt in Rojava die Infrastruktur. Dazu kommen gelegentlich Angriffe auf kurdische Politiker:innen mit Drohnen.