Bolsonaros Anhägerschaft geht auf die Straße und fordert eine Militärintervention

Früchte des Zorns

Anders als befürchtet ruft Jair Bolsonaro seine Anhänger zu Mäßigung statt zum Putsch auf. Das klingt zwar beruhigend, ist aber der Tatsache geschuldet, dass die Beibehaltung der Demokratie seinen Interessen derzeit nicht unbedingt entgegensteht.

»Denkt bitte nicht schlecht von mir«, bat der nun abgewählte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro seine Anhängerschaft scheinbar zerknirscht. Am 2. November rief er diese in einer in den sozialen Medien verbreiteten Videobotschaft dazu auf, die Fernstraßen freizugeben. »Es schadet der Wirtschaft« und »beschränkt andere Menschen in ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit«. »Es ist nicht legal«, fügte er hinzu.

Nachdem Bolsonaro am 30. Oktober in der Stichrunde der Präsidentschaftswahl mit 49,1 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen dem damit wiedergewählten ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva unterlag, hatten seine Anhänger, unter ihnen viele Lastwagenfahrer, aus Wut über das Wahlergebnis in mindestens 18 Bundesstaaten Straßenblockaden errichtet und Transporte verhindert. Demonstrierende Anhänger Bolsonaros forderten derweil einen Militärputsch. Eine DPA-Meldung zitiert den brasilianischen Verband der Supermärkte, der bekanntgab, dass es aufgrund der Blockaden mancherorts ­bereits zu Lieferengpässen gekommen sei; die spanische Tageszeitung El País berichtete am vorvergangenen Dienstag von Einschränkungen im Flugverkehr am internationalen Flughafen von São Paulo.

Um den sonst nicht gerade öffentlichkeitsscheuen Bolsonaro war es nach seiner Niederlage auffällig ruhig geworden. Zwei ganze Tage zögerte der Wahlverlierer, seine Niederlage öffentlich anzuerkennen, und hüllte sich stattdessen in Schweigen. Das heizte die Stimmung auf den Straßen an und nährte Ängste, er könne seine vor den Wahlen immer wieder angedeuteten Putsch­absichten in die Tat umsetzen. Die Po­lizei blieb zunächst untätig und ließ die Blockierer auf den Autobahnen gewähren. Der brasilianischen Tageszeitung Folha de S. Paulo liegen verschiedene Videos vor, in denen Polizisten den Protestierenden versicherten, nicht einzugreifen. »Ich werde keine Bußgelder verhängen«, wird ein Polizeibeamter zitiert. Am zweiten Tag drohte der Vorsitzende des Obersten Bundesgerichts, Alexandre de Moraes, der Regierung mit der Festnahme des Leiters der Autobahnpolizei, wenn er den Befehlen zur Räumung der Straßen nicht nachkomme. Die Auflösung der Blockaden dauerte bis Redaktionsschluss an, neben der Autobahnpolizei ist die Militärpolizei im Einsatz.

Am 1. November folgte dann eine ungewöhnlich knappe und vage gehaltene Pressemitteilung Bolsonaros zur Wahl. Er werde sich »weiterhin an die Vorgaben der Verfassung halten«, sagte er. Nachfragen der Presse ließ Bolsonaro nicht zu. Auffällig an seiner Erklärung war, dass er seine Wahlnieder­lage als solche mit keinem Wort erwähnte. Während er also nicht direkt die Machtfrage stellte, das Militär nicht gegen den Wahlsieger aufzuwiegeln versuchte oder seine militanten Anhänger nicht zum Umsturz aufrief, ließ er dennoch ganz bewusst die Frage offen, ob er das Wahlergebnis anerkenne. Bolsonaros Stabschef Ciro Nogueira ließ kurz darauf verlautbaren, dass der Präsident ihn mit der Übergabe der Regierungsgeschäfte betraut habe.

Die Zweifel, ob es einen friedlichen Übergang nach einem Wahlsieg Lulas geben werde, waren durchaus begründet. Bolsonaro hatte seiner Verachtung für die Demokratie während seiner Amtszeit immerhin mehrfach Ausdruck verliehen. So ließ er seine teils bewaffnete Anhängerschaft am 7. September 2021 gegen das Justizministerium Sturm laufen, er machte vor den Wahlen öffentlich wiederholt deutlich, dass er über eine Nichtanerkennung des Wahlergebnisses zumindest nachdenke, und verbreitete unter seinen Anhängern Zweifel an der Korrektheit des brasilianischen Wahlsystems. ­Diese Provokationen, die Unterstützung, die er in Teilen des Militärs genießt und die Gewaltbereitschaft seiner antidemokratisch eingestellten Anhängerschaft ließen einen Putschversuch nach einer Wahlniederlage zumindest nicht völlig abwegig erscheinen – umso mehr, als sich ein knappes Wahlergebnis abzeichnete.

Nun aber ruft der bisherige oberste Provokateur zu Mäßigung auf, während seine Anhänger auf der Straße, nicht nur bei den Blockaden, sondern auch auf den zahlreichen Demonstrationen, ein Eingreifen des Militärs fordern. So manch einer fühlte sich denn auch von den Ermahnungen seines politischen Führers betrogen. In einem Tiktok-Video ist ein Mann zu sehen, der in ein Mikrophon zur Menge spricht: »Wir haben keinen Präsidenten mehr – die Armee soll die Ordnung unseres Landes wiederherstellen.«

Man mag sich fragen, was den noch amtierenden Präsidenten dazu veranlasste, mäßigende Töne anzuschlagen und für die »Einhaltung der demokra­tischen Spielregeln« zu werben, denen er in der Vergangenheit wenig Respekt entgegenbrachte. Bei genauerem Hin­sehen ist sein Verhalten allerdings wenig verwunderlich. Auf der einen Seite sind die demokratischen Institutionen Brasiliens so stark, dass das Risiko für Bolsonaro hoch einzuschätzen ist, ein erneutes offenes Kräftemessen mit ihnen, wie im vergangenen Jahr, zu verlieren. Am Montag ließ das Oberste Wahlgericht beispielsweise die Social-Media-Konten mehrerer Politiker aus Bolsonaros Lager sperren, berichtete die Folha de S. Paulo. Während des Wahlkampfs wurden die Befugnisse des Wahlgerichts entscheidend erweitert, um die Verbreitung von Desinforma­tion einzuschränken. Die Sperrung der Konten wurde mit den antidemokra­tischen Demonstrationen und Aufrufen zum Putsch begründet.

Und auch wenn Teile des Militärs und der Polizeikräfte loyal zu Bolsonaro stehen, ist es fraglich, ob das Lager seiner Unterstützer die Inhaber relevanter Machtpositionen einschließt. Das mag zunächst einmal beruhigend klingen. Allerdings steht das demokratische System Bolsonaros langfristigen Interessen derzeit nicht zwingend im Weg. Einen Putsch hat der scheidende Präsident gar nicht unbedingt nötig. Seine Amtszeit hat in etlichen Bereichen große Zerstörung hinterlassen und Probleme erzeugt, für die Lula nun Lösungen finden muss. Für diesen kommt erschwerend hinzu, dass er seinen Sieg auf Basis eines breiten poli­tischen Bündnisses errang, dessen unterschiedliche Interessen schwer mit­einander in Einklang zu bringen sein werden. Lulas Macht ist also von Anfang an alles andere als stabil.

Für Bolsonaro hingegen stehen seiner Niederlage bei Präsidentschaftswahl die Erfolge seiner Unterstützer bei der Parlamentswahl gegenüber. Bolsonaros Partido Liberal stellt nun in beiden Kammern stärkste Fraktion. Das Lager rechter Parteien kommt insgesamt auf eine Mehrheit im Parlament. Lula muss somit gegen ein oppositionell dominiertes Parlament regieren. Bolsonaro kann sich derweil in Ruhe für eine kommende Präsidentschaftswahl bereit machen und die Früchte seiner ­destruktiven Politik ernten.