Bei den Klimaprotesten dominieren derzeit Praktiken des zivilen Ungehorsams

Militanz gesucht

Die im vergangenen Jahr prognostizierte Radikalisierung der Klima­schutzbewegung ist vorerst ausgeblieben. Während die derzeit medial erfolgreichste Gruppe, »Aufstand der letzten Generation«, Gewalt ablehnt, können Gruppen wie Ende Gelände und Fridays for Future nur wenig politische Durchschlagskraft entwickeln. Auch die Gruppe Extinction Rebellion praktiziert zivilen Ungehorsam.

»Zerdepperte Autoshowrooms«, sabotierte Gaskraftwerke oder die Gründung einer »grünen RAF«: Tadzio Müller, Mitgründer des Bündnisses Ende Gelände, sparte in einem Interview mit dem Spiegel nicht mit drastischen Bildern, um Ende vergangenen Jahres vor einer Radikalisierung der Klimaschutzbewegung zu warnen. Immer mehr Aktivistinnen und Aktivisten zögen aufgrund des Versagens der deutschen Regierungen beim Klimaschutz militante Mittel in Erwägung. Die Feuilletons watschten Müller wegen solcher Prophezei­ungen erwartungsgemäß als skandalhungrig ab; die staatstragende Bundeszentrale für politische Bildung lotete nüchtern die Grenzen des zivilen Ungehorsams angesichts der kommenden Auswirkungen des Klimawandel aus.

Viele mutmaßen, dass bereits ein »heißer Herbst« begonnen habe. Der von der Linkspartei und den Gewerkschaften organisierte Protest gegen die gesellschaftlichen Auswirkungen der gestiegenen Lebenshaltungs- und Energiekosten kommt ganz klassisch unter Losung der sozialen Gerechtigkeit daher und beansprucht, die Massen auf die Straßen zu bringen. Die Klimakrise spielte auf den Demonstrationen Anfang September in Erfurt und Leipzig praktisch keine Rolle.

»Bei unseren Aktionen ging es nicht darum, Ölkonzerne wirklich lahmzulegen, sondern eine öf­fentliche Störung hervorzurufen.« Lilly Schubert, Sprecherin von »Aufstand der letzten Generation«

Auch während des Sommers hatte es in der Bundesrepublik keine Großdemonstrationen der Klimabewegung gegeben. Die Zeiten, in denen die Gruppe Fridays for Future (FFF) Hunderttausende Menschen zu friedlichen Protesten auf die Straße brachte, scheinen vorerst vorbei zu sein. Der bislang letzte bundesweite »Klimastreik« im März erhielt wegen des Krieges in der Ukraine wenig Aufmerksamkeit.

Es scheint, als habe die Gruppe »Aufstand der letzten Generation«, die aus einem Hungerstreik vor dem Bundeskanzleramt im August 2021 hervorgegangen ist und seit Anfang dieses Jahres regelmäßig Aktionen veranstaltet, den Platz von FFF eingenommen. Zwar ist »Aufstand der letzten Generation« bisher bei weitem kleiner – die Anzahl der Mitglieder wird auf etwa 80 geschätzt –, doch die mediale Aufmerksamkeit ist ähnlich groß wie bei FFF.

Die Gruppe »Aufstand der letzten Generation« fällt mit einer Vielzahl von Einzelaktionen auf. Im Februar drangen Aktivistinnen und Aktivisten ins Foyer des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in Berlin ein und klebten sich mit Spezialkleber an Möbel fest, um auf Missstände in der Agrarindustrie aufmerksam zu machen. »Die Regierung hat keinerlei Wertschätzung für unser Essen. Sie behandelt die Arbeit unserer Landwirte wie Mist«, sagte eine Sprecherin, während sie Pferdemist im Foyer verteilte. Im April sorgten zwei Aktivisten für die minutenlange Unterbrechung eines Fußballbundesligaspiels in Frankfurt am Main, indem sie aufs Spielfeld rannten und sich mit Kabelbindern an den Torpfosten fixierten.

Ebenfalls im April begann die Gruppe damit, Ventile an Öl- und Gaspipelines zuzudrehen, beispielsweise an Standorten in Brandenburg und Rheinland-Pfalz. Einige Aktivistinnen und Aktivisten ketteten oder klebten sich an die entsprechenden Verteilstationen. Eigenen Angaben zufolge unterbrachen sie damit den Ölfluss.

Im Mai besetzten Studierende nach einem Vortrag eines Mitgründers der »Letzten Generation« für mehrere Tage den größten Hörsaal der Universität Leipzig und forderten die Rektorin der Hochschule dazu auf, eine »sofortige Lebenserklärung« abzugeben. Einer Pressemitteilung zufolge solle sich die Rektorin »offiziell, öffentlich und gerichtet an Robert Habeck gegen den Bau und die Finanzierung neuer fossiler Infrastruktur aussprechen«. Mit Hilfe der »Lebenserklärung« wollten die Aktivistinnen und Aktivisten eine Antwort erzwingen, ob – wie sie auf Twitter schreiben – beispielsweise Ölbohrungen im Wattenmeer mit dem »Schutz des Lebens« vereinbar seien. In einer Erklärung drückte das Rektorat seinen »Respekt« für die geforderte »Lebenserklärung« aus und sicherte seine Unterstützung der Forderungen zu, woraufhin die Besetzung des Audimax beendet wurde.

Zuletzt klebten sich Aktivistinnen und Aktivisten an die Rahmen historischer Gemälde fest, wie in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden, im Städel-Museum in Frankfurt am Main und der Gemäldegalerie in Berlin. Die am häufigsten angewandte und am stärksten öffentlich diskutierte Aktionsform der »Letzten Generation« ist jedoch die Straßenblockade. Immer wieder legen Aktivistinnen und Aktivisten an bestimmten Orten auf dem gesamten Bundesgebiet den Autoverkehr lahm, indem sie sich auf die Fahrbahn kleben.

»Wir legen den Fokus bewusst auf friedlichen, zivilen Widerstand«, sagt Lilly Schubert, eine Sprecherin der Gruppe, im Gespräch mit der Jungle World. Militante Aktionen oder aggressives Auftreten gegen Objekte oder Personen seien nicht erwünscht. Man wolle den Alltag der Menschen stören, um Aufmerksamkeit zu erregen. So solle Druck auf die Regierung ausgeübt werden, sagt Schubert. Sie beruft sich auf Ergebnisse der Protestforschung, die gezeigt habe, dass friedlicher Protest historisch am ehesten zu politischen Veränderungen geführt habe. Als Beispiele gelten ihr der sogenannte Salzmarsch des Anführers der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Mahatma Gandhi, und die Suffragetten, die in Großbritannien und den USA das Frauenwahlrecht erkämpften. In diesem Sinne sollte das Abdrehen der Ölpipelines im Frühjahr eine symbolische Wirkung erzielen. »Bei diesen Aktionen ging es nicht darum, Ölkonzerne wirklich lahmzulegen, sondern eine öffentliche Störung hervorzurufen, woraufhin von Seiten der Regierung eingegriffen werden muss«, sagt Schubert.

Einwenden könnte man freilich, dass auf Englisch als »suffragettes«, im ­Gegensatz zu »suffragists«, die Anhängerinnen des militanten Flügels der Bewegung bezeichnet wurden, die beispielsweise Fensterscheiben einschlugen, aber auch Bombenanschläge auf öffentliche Gebäude verübten. Zumindest etwas militantere Aktionsformen als die »Letzte Generation« nutzte dieses Jahr vor allem die 2015 gegründete Gruppe Ende Gelände bei ihrem mehrtägigen sogenannten System Change Camp. Im August blockierte sie gemeinsam mit der Gruppierung »Ums Ganze« sowie der esoterisch angehauchten Gruppe Extinction Rebellion den Güterverkehr in Hamburg. Die Polizei setzte Pfefferspray, Schlagstöcke und Wasserwerfer gegen die Blockiererinnen und Blockierer ein. Doch im Gegensatz zu den Aktionen der »Letzten Generation« erzeugten die Blockaden in Hamburg während der Sommermonate vergleichsweise wenig Medienresonanz.

Derzeit finden indes vermehrt Gerichtsprozesse gegen Klimaaktivistinnen und -aktivisten statt, viele der Angeklagten gehören der »Letzten Generation« an. Schubert zufolge gibt es derzeit etwa 200 laufende Strafverfahren. Die Strafverfolgung sei in der Strategie fest eingeplant, die Gruppe biete jedem Mitglied Rechtsunter­stützung an. Es brauche zu Beginn viele Menschen, die Repressionen bewusst auf sich nehmen, damit die Bewegung an Fahrt aufnehmen könne, so ­Schubert.

Ende August verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten erstmalig ein Mitglied der »Letzten Generation«. Der 20jährige Nils R. wurde wegen Nötigung zu 60 Stunden Freizeitarbeit nach dem Jugendstrafrecht verurteilt. R. hatte sich mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten mit Sekundenkleber auf die Berliner Stadtautobahn geklebt und so für etwa eine halbe Stunde den Verkehr lahmgelegt.

Und FFF? Einige Mitglieder des linken Flügels hatten Ende vergangenen Jahres im Gespräch mit der Jungle World »materielle Eingriffe in die fossile Wirtschaft« angekündigt. Doch dieses Jahr ist es ruhig um FFF geworden, für den »Klimastreik« am 23. September erwarten Mitglieder der Gruppe selbst wenig Resonanz. »FFF ist so schwach wie nie zuvor«, bestätigt Kon­stantin Nimmerfroh aus der Ortsgruppe Frankfurt am Main auf Nachfrage der Jungle World. Gleichzeitig betont er das unermüdliche Engagement seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Die interne Debatte drehe sich momentan nicht um militantere Aktionsformen, sondern darum, wieder handlungsfähig zu werden, so Nimmerfroh.

Sabotage, wie sie beim System Change Camp im Hamburger Hafen stattfand, sieht Nimmerfroh aufgrund der fehlenden Wirkung auf Politikerinnen und Politiker und Medien kritisch. »Es darf schon mal irgendwo knallen, aber das muss gut überlegt sein.« Nimmerfroh zufolge plant eine internationale FFF-Initiative, Schulen zu besetzen, während im November die UN-Klimakonferenz im ägyptischen Sharm al-Sheikh stattfindet. Er hoffe, dass dies auch in Deutschland passiere. »Das könnte ein neues Momentum setzen und den Konflikt verschärfen.«

In den vergangenen Tagen waren mehrere Hundert Anhängerinnen und Anhänger der Gruppe Extinction Rebellion im Rahmen einer »Herbstrebellion« in Berlin aktiv, haben unter an­derem zentrale Straßen besetzt und sich dort angeklebt; etwa 450 Polizistinnen und Polizisten waren im Einsatz. Ihrem Ankündigungstext zufolge wollte man »bunt, freundlich und offen« die Regierenden, Lobbys und Konzerne »nerven« und die Bundesregierung dazu bringen, einen basisdemokratischen »Bürger:innenrat zur ökologischen Krise« einzusetzen.