Ein Gespräch mit dem Pâtissier Pierre Hermé über Kunst am Backwerk

»Die Pâtisserie ist eine Kunstform«

Interview Von Jan Marot

Vom 8. bis 11. September trafen sich in Paris Künstler und Künstlerinnen auf der internationalen Konferenz »Reboot: Artistic Sustainability – Beyond Green«, um über Nachhaltigkeit in der Kunst und im Handwerk zu diskutieren. Zu den Teilnehmern gehört auch der französische Pâtissier Pierre Hermé, der für seine Macarons berühmt geworden ist. Ein Gespräch über die Kunst der Konditorei, Genussverzicht in Zeiten des Klimawandels und den herausfordernden Geschmack der Zitrone.

Sie haben den Begriff der »Haute Pâtisserie« geprägt. Was genau ist damit gemeint?

Den Begriff habe ich aufgebracht, weil es mir um eine extrem kreative Form der Pâtisserie geht, auch was die Eleganz betrifft. Eine mit Augenmerk auf das Detail und von einer Einzigartigkeit, die nach dem maximal Möglichen strebt. Wenn man über den Alltag spricht und die reine Herstellung, dann ist und bleibt es ein Handwerk. Im kreativen Schaf­fens­prozess ist die Pâtisserie aber definitiv eine Kunst.

Sie haben schon mit vielen Künstlern und Künstlerinnen zusam­men­gearbeitet und wollen als Nächstes mit der portugiesischen Künstlerin Joana Vasconcelos und dem Kurator André de Quiroga riesige Hochzeitstorten kreieren.

Mir war es immer wichtig, das Metier der Pâtisserie in Relation zu anderen Disziplinen der Kunst zu setzen. Durch meine Crossover-Kooperationen habe ich viel gelernt. Dabei habe ich mit Architekten wie Masamichi Katayama gearbeitet, der zwei meiner Boutiquen entworfen hat; mit Fotografen, Bildhauern, aber auch Floralkünstlern wie Azuma Makoto oder mit dem Parfümeur Jean-Michel ­Duriez.

»Was ich nicht wollte, war, den Betrieb so fortzu­führen, wie ihn meine Eltern und Großeltern geführt hatten, wo die Männer die Torten und Kuchen zube­reiteten, während meine Mutter oder meine Oma im Laden an der Vitrine oder der Kasse standen.«

Essen wird häufig mit Erinnerungen assoziiert. Welche Bedeutung haben für Sie Erinnerungen in der Pâtisserie-Kunst? Sie sind immerhin Konditor der vierten ­Generation in Ihrer Familie.

Klar ist, dass ich in diesen Beruf durch meine meine Familie im Elsass hineingeboren wurde. Die Leidenschaft für das Metier hat mir sicherlich mein Vater mitgegeben. Erinnerungen sind wichtig, aber ich beginne meine Autobiographie, die in Kürze erscheinen wird, mit den Worten: »Ich habe eine Amnesie, was die Vergangenheit betrifft.« Was ich nicht wollte, war, den Betrieb so fortzuführen, wie ihn meine Eltern und Großeltern geführt hatten, wo die Männer die Torten und Kuchen zubereiteten, während meine Mutter oder meine Oma im Laden an der Vitrine oder der Kasse standen.

Ist es diese Weigerung, die Dinge einfach weiterzuführen, was Sie mit »Amnesie« umschreiben?

Der Satz stammt nicht von mir, ich habe ihn bei Karl Lagerfeld gelesen. Er hat ihn in Bezug auf den von ihm geschaffenen »Mythos von Chanel« gesagt. Die Vergangenheit ist interessant, sie ist die Kultur und die Basis, die wir haben. In der Pâtisserie sind es auch die Techniken und Traditionen, all das, was meine Großeltern vor 50 und mehr Jahren gemacht haben. Aber wir machen heute so gut wie nichts mehr so wie vor einem halben Jahrhundert. Man darf nicht gefangen bleiben im Vergangenem, es dreht sich vielmehr alles um eine Art permanenter Evolution.

Wie ich in Ihrem Buch »Architektur des Geschmacks« gelesen habe, mochten Sie Macarons zunächst überhaupt nicht.

Sie waren viel zu süß. Und nein, ich mochte sie nicht. Sie hatten stets viel zu viel Teig. Was dem Macaron seinen Geschmack gibt, ist die Füllung. Der Mandel-Biskuit ist nur die Hülle, die ich im Verhältnis zur Füllung verringert habe. Das grüne Macaron, das vor Ihnen liegt, das ist »Olivenöl mit Vanille«, mit drei Stückchen frischer Olive als Kontrastgeber. Das Violette ist Cassis. Dann gibt es auch noch Infiniment Praliné, Crêpe Suzette, Vanille-Schokolade oder etwa Crème brûlée. Immerhin 65 Prozent unseres gesamten Umsatzes kommt aus der Produktion von Macarons.

Nachhaltigkeit in der Kunst und im Handwerk sind das Thema des aktuellen Symposiums. Der Klimawandel legt den Verzicht auf Luxus und Genuss nahe. Wie ­gehen Sie damit um?

(Hermé dreht seinen Laptop-Bildschirm.) Sehen Sie hier, das ist meine Tabelle, in der ich Ideen aufliste, die ich verfolge. Das sind alles Produkte, an denen ich arbeite. Etwa an einem neuen Schokoladen-Macaron, etwas Paradoxem. Es wird die Kombination eines Produkts, das hohes Ansehen genießt, und einer Zutat, die keinen guten Ruf in der Welt der Lebensmittel hat. Konkrete Zutaten habe ich noch keine im Kopf, aber mir gefällt die Idee des Paradoxons. Intellektuell finde ich dieses Gedankenspiel für die Pâtisserie-Kunst extrem stimulierend.

Wie hoch ist denn der Anteil von ökologisch hergestellten Zutaten in Ihren Produkten?

Um die 70 Prozent.

Infolge der Pandemie und des russischen Angriffskriegs sind Lieferketten brüchig geworden, die Kosten für Energie steigen. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Der Krieg ist etwas, auf das wir als Bürger keinen Einfluss haben. Aber auch unser Haus trifft der Anstieg der Energiepreise. Man muss das managen, und es ist nicht einfach. Auch die Situation der Hersteller und Produzenten der Grundzutaten wird damit nicht leichter.

Gastronomie und Handwerk suchen nach Arbeitskräften. Wie finden Sie neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen?

Wir haben rund 700 Angestellte und suchen zur Zeit auch wieder Verstärkung für das Team hier in Paris. Wenn wir neues Personal suchen, dann läuft das über alle möglichen Kanäle. Manche kommen auf uns zu, andere kontaktieren wir aktiv, weil wir sie im Team haben wollen. Die Pâtisserie-Kunst ist harte Arbeit und bedeutet einen harten Wettbewerb. Man muss als Arbeitgeber auch Per­spektiven bieten. Es ist weit mehr als eine Arbeit in der Lebensmittelherstellung. Arbeitgeber haben auch ­einen Markenwert, an dem es permanent zu arbeiten gilt.

Was hat sich in Paris verändert, seit Sie hier mit 14 Jahren Ihr Praktikum begonnen haben? Vor allem in Hinblick auf die Wahrnehmung und den Stellenwert des Essens, der Spitzengastronomie und der Pâtisserie?

Die Pâtisserie wurde lange als ein Teilbereich der Gastronomie oder der Haute Cuisine betrachtet, aber heute ist der Status ein anderer. Längst kommen Touristen nicht nur wegen der Spitzenküche nach Paris, sondern auch um sich durch die Welt der Pâtisserie zu kosten. In Paris ist die Konditorkunst längst Stadtgespräch. 1994 habe ich mit Kollegen aus der Pâtisserie einen Verein gegründet und ihn Arts et Desserts genannt. Schon damals ging es darum, die Pâtisserie mit anderen künstlerischen Disziplinen in Kontakt zu bringen.

Gibt es etwas, das sie nicht mochten und erst schätzen und lieben lernen mussten?

Ganz klar der japanische Shiso mit gezähnten Blättern, der Form nach ähnlich der Brennnessel, der in der japanischen Küche sehr populär ist und etwa zum Sushi serviert wird. Ich fand den Geschmack sehr vulgär. Aber schlussendlich kreierte ich einen Macaron mit Shiso und schließlich eine Torte, die Aka. Und ich muss sagen, das war auch der bisher letzte Geschmack, der mich so richtig überrascht hat. Ich mochte auch das Aroma von Thymian nicht besonders, aber ich fand Gefallen an der wildwachsenden Thymianart aus den Bergen Korsikas, die einen ganz besonderen, intensiven Duft hat, also erfand ich ein Rezept für eine Thymiantorte. Auch den Rosmarin mag ich nicht besonders. Aber wer weiß, vielleicht oder sogar wahrscheinlich gibt es in zehn Jahren eine süße Kreation von mir damit, die ich lieben werde. Sonst gibt es sehr wenige Dinge, die ich nicht mag.

Lange Jahre haben Sie sich darauf konzentriert, mit einem einzigen Geschmack oder nur einem Aroma zu arbeiten und dieses in seinen wörtlich »unendlichen« Facetten und Möglichkeiten zu zeigen. ­Daraus entstanden die Serien Infiniment Vanille, Café und Citrón. Die Essenz oder die Kombination, was ist komplexer im Schaffensprozess?

Ab dem Jahr 2005 habe ich damit begonnen, mit ausschließlich einem Geschmack zu arbeiten. Der Name Infiniment ist damals meiner Frau (Barbara Rihl, von der er inzwischen geschieden ist; Anm. d. Red.) ein­gefallen, daraus ist eine ganze Reihe entstanden. Dann habe ich begonnen, Aromen und Geschmäcker miteinander zu verbinden. Das war ein Wandel in meinem modus operandi. Es ist beides für sich ein immenser Arbeitsaufwand, sei es die Arbeit mit nur einem Geschmack oder mit mehreren, aber der kreative Prozess ist jeweils ein ganz ein anderer. Es geht um ein anderes Verständnis von Geschmack. Aber auch wenn man nur mit einem Geschmack arbeitet, wie im Falle der Zitrone, ist es immens herausfordernd.

Was ist Ihr Meisterwerk?

Darüber fälle nicht ich das Urteil, das müssen die anderen tun. Die öffent­liche Meinung ändert sich stetig. So habe ich eine Torte nochmal neu ­gemacht, die vor Jahren nicht gut angekommen ist: die Bûche Estela. ­Damals war die Zeit scheinbar nicht reif dafür. Ich griff sie nochmals auf und optimierte die Kreation aus Sandteig, aus dunklem Buchweizen, weichem Keksteig, Zedern-Piniennuss-Praliné und einem Gelée aus frischen Kräutern wie Koriander, Minze, Salbei und Liebstöckel. Und einer Chantilly-Creme aus einer Infusion aus jungen Tannenwipfel. Die Kombination ist wirklich sehr delikat! Es gibt eine volle Bandbreite an Texturen, eine Vielzahl an Sinneseindrücken und Geschmäckern, und im Zusammenspiel ist es einfach wunderschön. Es ist wie ein Rendezvous im Wald.