Die Auswirkungen des Sanktionen auf die russische Ökonomie

Autarkie und Regression

In den westlichen Staaten streiten sich Ökonomen und Wissenschaftler über die Wirkung der gegen Russland verhängten Sanktionen. Ver­tre­ter der russischen Zentralbank befürchten hingegen bereits eine »umgekehrte Industrialisierung«.

Ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine wird eifrig über die Wirkung der seitdem gegen Russland verhängten Sanktionen gestritten. Nahezu täglich kann man Meldungen und Artikel lesen, die ihnen wahlweise eine erhebliche oder aber im Gegenteil erstaunlich schwache Wirkung attestieren. »Putins Krieg wirft die russische Ökonomie in einem einzigen Quartal auf den Stand des Jahres 2018 zurück«, titelte beispielsweise Mitte August das Wirtschaftsnachrichtenportal Bloomberg. »Russische Wirtschaft schrumpft angesichts von Krieg und Sanktionen stark«, sekundierte tags darauf die New York Times. »Das Problem ist, dass der K.-o.-Schlag nicht eingetreten ist«, meinte hingegen 14 Tage später der britische Economist. Die französische Tageszeitung Le Monde wiederum sprach vergangene Woche mit Bezug auf die scheinbare wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Russlands gegen die Sanktionen von »potemkinschen Dörfern«.

Was derzeit in Russland betrieben wird, sei eine »technologisch regressive Importsubstitution«, schreibt der Ökonom Branko Milanović auf seinem Blog.

Ende Juli hatte sich diese Debatte auf fast kuriose Weise zugespitzt. Da präsentierte eine Forschungsgruppe der Universität Yale eine Studie, wonach die russische Wirtschaft regelrecht »implodiere«. Wenige Tage später machte der Internationale Währungsfonds (IWF) eine Einschätzung publik, die der Universitätsexpertise deutlich widersprach: Russlands Wirtschaft sei im zweiten Quartal des Jahres weniger stark geschrumpft als prognostiziert. Die Energieexporte liefen weiter, die inländische Warennachfrage sei robust und auch der Arbeitsmarkt weit weniger geschwächt als erwartet. Demgegenüber sei die Rückwirkung der Sanktionen auf die europäischen Ökonomien erheblich, vor allem was Energiepreise und die Störung der Lieferketten anbelange.

Die Reaktion aus Yale kam postwendend und war scharf. »Jemand sollte den faulen IWF-Ökonomen die Fakten schicken«, wetterte Jeffrey Sonnenfeld, der die an der Yale School of Management angesiedelte Forschungsgruppe leitet. Die Expertinnen und Experten des IWF hätten »naiv Putins Propaganda akzeptiert, indem sie sich auf ungeprüfte, widersprüchliche Statistiken« aus Russland stützten, so der Univer­sitätsprofessor im Gespräch mit dem Wirtschaftsnachrichtenportal Investment Monitor.

Ähnliche Vorwürfe machen die Forscher in ihrer Studie einer ganzen Reihe von Experten: Einschätzungen, wonach die russische Wirtschaft sich als erstaunlich widerstandsfähig gegen die Sanktionen erweise, basierten häufig allein auf Statistiken der russischen Regierung. Diese seien aber in den vergangenen Monaten nicht mehr vollständig veröffentlicht worden. So flössen eigentlich unverzichtbare Daten immer häufiger gar nicht in die Bewertung ein, andere würden nicht kritisch hinterfragt.

Mehr als 1 000 international agierende Unternehmen haben sich dem Forscherteam aus Yale zufolge mittlerweile ganz oder teilweise vom russischen Markt zurückgezogen, was einem Anteil von 40 Prozent des russischen Brutto­inlandsprodukts entspreche. »Die russische Inlandsproduktion ist völlig zum Erliegen gekommen, da es keine Kapazitäten gibt, um verlorene Unternehmen, Produkte und Talente zu ersetzen«, so das Resümee der Studie; an dieser Situation würden auch »Putins Wahnvorstellungen von Autarkie und Importsubstitution« nichts ändern.

Wladimir Putin selbst will unbedingt den Eindruck vermeiden, dass Russland vom Weltmarkt abgeschottet sei. »Wir werden keine geschlossene Wirtschaft haben«, sagte der Präsident Mitte Juni auf einer Veranstaltung vor jungen Unternehmerinnen und Unternehmern. So etwas habe es nur zu Zeiten der Sowjetunion gegeben, »als wir uns ab­geschottet und den sogenannten Eisernen Vorhang errichtet haben«.

Auch beim St. Petersburg Interna­tional Economic Forum beteuerte Putin wenige Tage später, Russland werde »niemals den Weg der Selbstisolierung und Autarkie gehen, auch wenn unsere sogenannten westlichen Freunde buchstäblich davon träumen«. Zugleich aber kündigte er auf der Veranstaltung, die als russischer Gegenentwurf zum World Economic Forum in Davos verstanden werden kann, weitere Schritte zur Substitution von Importen aus dem Westen an. Man habe dabei in den vergangenen Jahren bereits einige Erfolge erzielt, etwa in der Landwirtschaft, bei Pharmazeutika und medizinischen Geräten sowie in der Rüstungsproduktion.

Wohl um diese Entwicklung voranzutreiben, hat Putins Tochter Katerina Tichonowa Berichten der russischen Mediengruppe RBC zufolge Mitte Juli neben Aleksandr Schokhin den Co-­Vorsitz des Rats für Importsubstitution beim einflussreichen Russischen Industriellen- und Unternehmerverband RSPP übernommen. Auch die Ernennung des bisherigen Handels- und Industrieministers Denis Manturow zum stellvertretenden Ministerpräsidenten hat nach An­gaben der russischen Zeitung Kommersant zum Ziel, Russland rascher von westlichen Importprodukten abzukoppeln. Manturow war bereits mit Fragen der Importsub­stitution beschäftigt, seit aufgrund der Annexion der Krim und des Vormarschs prorussischer Truppen in der Ostukraine 2014 Sanktionen gegen Russland verhängt worden waren. Mit seinem ­neuen Amt übernimmt er die Verantwortung nicht nur für die zivile, sondern auch für die Rüstungsproduktion.

Putin sagte in Sankt Petersburg, es gelte, »ausländische Waren nicht nur zu kopieren«, sondern »einen Schritt voraus zu sein und unsere eigenen wettbewerbsfähigen Technologien, Waren und Dienstleistungen zu schaffen, die zu neuen globalen Standards werden können«. Verschiedene Kommentatoren halten jedoch das Gegenteil für viel wahrscheinlicher: Statt Maßstäbe zu setzen, werde die russische Wirtschaft jahrzehntelang rückständig sein.

Russland sei völlig von ausländischer Technologie abhängig, die es aus eigener Kraft nicht einfach ersetzen könne, da es sich in den vergangenen Jahrzehnten auf die Produktion von Rohstoffen, Nahrungsmitteln und relativ wenig verarbeiteten Produkten spezialisiert habe, meint etwa der Ökonom Branko Milanović, der frühere Chef-Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank, auf seinem Blog. »Die Industriebereiche, die normalerweise das Rückgrat der traditionellen (vordigitalen) Entwicklung bilden, waren in der Sowjetunion gut entwickelt, wurden aber aufgegeben, dem Verfall überlassen und sind heute, auch wenn sie noch existieren, technologisch veraltet«, schreibt er. Auf dieser Grundlage müsse Russland nun versuchen, beispiels­weise die Luftfahrtindustrie des Landes wieder zu stärken. Somit sei ein technologischer Rückschritt unausweichlich, zudem werde wohl kaum die dem Bedarf entsprechende Anzahl an Flugzeugen produziert werden können. Sollte der Weltmarkt Russland je wieder offenstehen, werde das Land keinesfalls konkurrenzfähig sein, denn was nun betrieben werde, sei »technologisch regressive Importsubstitution«.

Einem jüngst erschienenen Bericht der Moskauer Higher School of Economics zufolge liegt in Russland der ­ausländische Marktanteil bei elektronischen Bauteilen bei fast 70 Prozent, bei Arzneimitteln, Elektrogeräten und Autos sind es über 50 Prozent, bei industrieller Ausrüstung nahezu 50 Prozent. »Etwa die Hälfte der ausländischen Wertschöpfung stammt aus der Europäischen Union, den USA und Kanada, die die schärfsten Sanktionen gegen Russland verhängt haben«, schrieb hierzu die Washington Post.

Die Russische Föderation hat also eine enorme technologische Aufholjagd vor sich, wenn sie diese Importabhängigkeit auch nur ansatzweise bewältigen will. Nicht nur Branko Milanović bemüht daher den Vergleich mit der Sowjetunion. Diese hatte in den zwanziger und dreißiger Jahren mit erheb­lichen Importausfällen zu kämpfen, nachdem der Weltmarkt wegen der globalen Wirtschaftskrise komplett zusammengebrochen war. Im Vergleich zu damals ist Russland heutzutage noch weitaus stärker in globale Wertschöpfungsketten integriert. Es gebe hinsichtlich der Wirkung der Sanktionen »eine Grauzone, die sehr wichtig ist«, meinte dazu in Le Monde die russische Wirtschaftsexpertin Natalja Suba­rewitsch (in französischer Transkription: Natalia Zoubarevitch), »nämlich die von Produkten, die in Russland hergestellt werden, aber ausländische Komponenten enthalten«.

Dem Wirtschafts- und Osteuropaexperten Alexander Libman von der Universität München zufolge ist es vor ­allem bei Technologiegütern sehr unwahrscheinlich, dass Russland eine ­Importsubstitution gelingen wird. »Es ist heute grundsätzlich für jedes Land kaum mehr möglich, alle Güter der komplexen Produktionsketten im Technologie- und Hochtechnologiebereich vollständig aus eigener Produktion bereitzustellen«, so Libman im Interview mit der Zeitschrift Osteuropa. Ihm zufolge wird daher mittelfristig die Unterbrechung der Lieferketten für den Erfolg der Sanktionen entscheidend sein: »Ganze Fabriken werden ihre Produktion einstellen müssen, weil sie keine Komponenten mehr bekommen.«

Auch bei der russischen Zentralbank gesteht man mittlerweile offen ein, dass die von ihrer Vorsitzenden Elwira Nabiullina angekündigte »struktu­relle Transformation« des Landes mit einem großen technologischen Rückschritt einhergehen wird. Innerhalb weniger Jahre werde Russland eine »um­gekehrte Industrialisierung« erleben, wenn »weniger fortschrittliche« und daher auch umweltschädlichere Technologien die industrielle Entwicklung vorantreiben, so der Leiter der Forschungsabteilung der Zentralbank, Aleksandr Morosow, in einem Artikel für das Wirtschaftsnachrichtenportal Econs. Während über die Auswirkungen der Sanktionen unter westlichen Experten weiter gestritten wird, scheint man sich bei der russischen Zentralbank im Hinblick darauf also keine Illusionen zu machen.

Nach Meinung einiger Kommentatoren ist es neben den hohen Preisen für Energie, die eine sanktionsbedingt einbrechende Nachfrage zumindest bislang kompensieren, vor allem der russischen Zentralbank zu verdanken, dass das Bruttoinlandsprodukt des Landes im zweiten Quartal 2022 nach Angaben der russischen Statistikbehörde Rosstat im Vergleich zum Vorjahr nur um vier und nicht, wie etliche Experten prognostizierten, um zehn Prozent oder mehr gesunken ist. Kurz nach Inkrafttreten der Sanktionen hatte die Zentralbank den Leitzins stark erhöht und Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Ausländische Abnehmer wurden gezwungen, nicht nur für Energielieferungen, sondern auch für sonstige russische Exporte weitgehend in Rubel zu bezahlen, während Devisen kaum noch außer Landes gebracht werden durften. So war die Bevölkerung an die russische Währung gekettet. Auch die wegen des Importausfalls steigende Nachfrage nach heimischen Produkten wirkte sich positiv auf den Wert des Rubel aus, weshalb viele der geldpolitischen Maßnahmen wie etwa die Erhöhung des Leitzinses rückgängig gemacht werden konnten.

Seit langem schon vertritt Putins ehemaliger wirtschaftlicher Berater Sergej Glasjew die Idee einer weit­gehend autarken »Mobili­sie­rungs­wirtschaft« als a zur »liberalen Utopie« des Westens.

Dass die Sanktionen sich vorläufig nicht noch stärker auswirken, ist also bereits eine Folge der Abkoppelung Russlands von der Weltwirtschaft. Das spielt jenen in die Karten, die in dieser Entwicklung eine große Chance sehen. Darunter auch Sergej Glasjew, der zwischen 2012 und 2019 als wirtschaftlicher Berater Putins fungierte und seit dem vergangenen Jahr als Kommissar für Integration und Makroökonomie bei der Eurasischen Wirtschaftskommission, dem Exekutivorgan der Eurasischen Wirtschaftsunion, tätig ist. Er fordert, »die nationale Souveränität der Wirtschaft zu stärken«. Bereits nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 und den darauf folgenden Sanktionen hat er zahlreiche Vorschläge gemacht, zum Beispiel, ausländische Guthaben einzufrieren, Devisentransaktionen zu beschränken und die Importsubstitution durch russische Produkte staatlich zu erzwingen.

Seit langem schon tritt Glasjew für eine weitgehend autarke »Mobilisierungswirtschaft« als Alternative zur »liberalen Utopie« des Westens ein. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung träumt er von einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die er in einem kurz nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine publizierten Text mit dem Titel »Sanktionen und Souveränität« skizzierte. Diese neue Ordnung soll nicht zuletzt de facto auf einer Abkopplung von westlichen Finanzmärkten und einer Stärkung der heimischen Produktion basieren.

Dass dies nicht längst geschehen ist, ist Glasjew zufolge in erster Linie die Schuld der russischen Zentralbank, die »den Empfehlungen der Finanzinsti­tute Washingtons« folge. Die strenge, am Weltmarkt orientierte Geldpolitik der Zentralbank sei dafür verantwortlich, dass »Russland, seine Industrie, ausgeblutet war«; gestiegene Kreditkosten hätten die Geschäftstätigkeit zum Erliegen gebracht und die Entwicklung der Infrastruktur im Land behindert. Er fordert neben Investitionen in die Realwirtschaft unter anderem die Rückführung von russischem Kapital aus dem Ausland (»De-Offshorisierung«) und die »De-Dollarisierung« der russischen Devisenreserven. Es gelte, die Politik der Zentralbank »mit ihren verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten in Einklang zu bringen«.

Deren Maßnahmen zur Stützung der russischen Wirtschaft waren an auste­ritätspolitischen Gesichtspunkten und damit an einem ausgeglichenen Staatshaushalt, der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt sowie der Schaffung eines monetären Polsters und der Vermeidung einer hohen Inflation orientiert. Wenn die wirtschaftlichen Pro­bleme zunehmen, der Export von Gas und Öl sanktionsbedingt weiter sinkt oder gar die Energiepreise fallen, dürfte sich die Zentralbankpräsidentin ­Nabiullina gezwungen sehen, aktiv den Staatshaushalt zu stützen und sich ­damit tendenziell einem Diktat der Politik zu unterwerfen, während Putin ihr bisher offenbar relativ freie Hand gelassen hat.

Am Beispiel Russlands lässt sich daher mustergültig studieren, was Gerhard Scheit in seinem neuen Buch »Mit Marx« zur Rolle der Zentralbanken im Verhältnis der Souveränität von Staaten zum Weltmarkt ausführt. Ohne die Unabhängigkeit der Notenbank nämlich lasse »sich der Souverän in seinen kurzfristigen Entscheidungen von den längerfristig geltenden Bedingungen auf dem Weltmarkt nichts mehr dreinreden«. Dadurch tendiere er zwangsläufig in Richtung Autarkie. In gewisser Weise sei daher »die längerfristig entscheidende Gewaltenteilung die zwischen Regierung und Zentral- beziehungsweise Notenbank«.

Am Verhältnis beider bestimmt sich nämlich, ob die staatliche Einheit sich noch an einem auf längere Frist ausgerichteten rationalen Verständnis von Selbsterhaltung unter Weltmarktbedingungen orientiert oder ob die unmittelbaren Interessen der herrschenden Rackets allein maßgeblich werden, wie Scheit zeigt: »Die Notenbank ist das Scharnier zwischen Souveränität und Weltmarkt, so wie sie im Inneren das Scharnier zwischen privatem Kredit­apparat und staatlicher Intervention ist.« Sergej Glasjew möchte dieses Verhältnis einseitig zugunsten von Sou­veränität, Autarkie und Staatsaktionen aufgelöst sehen.

Manches deutet darauf hin, dass Präsident Putin nun bereit sein könnte, diesen Weg zu gehen. In seiner Petersburger Rede pochte er darauf, dass »Souveränität im 21. Jahrhundert nicht segmentiert oder fragmentiert werden kann«: »Es geht uns also nicht nur um die Verteidigung unserer politischen Souveränität und nationalen Identität, sondern auch um die Stärkung all dessen, was die wirtschaftliche, finanzielle, fachliche und technologische Unabhängigkeit unseres Landes ausmacht.« Die westlichen Sanktionen beruhten auf der falschen Annahme, »dass Russland wirtschaftlich nicht souverän und äußerst verwundbar sei«. Die ökono­mische Struktur des Landes habe sich jedoch dauerhaft verändert: »Diese Veränderungen sind das Ergebnis unserer geplanten Anstrengungen, eine nachhaltige makroökonomische Struktur zu schaffen, Ernährungssicherheit zu gewährleisten, Importsubstitutionsprogramme durchzuführen und ein ­eigenes Zahlungssystem aufzubauen, um nur einige zu nennen.«

All das klingt sehr nach Vorstellungen, wie Glasjew sie formuliert. Kaum denkbar, dass die russische Zentralbank einer solchen Entwicklung wirklich etwas entgegenzusetzen hat. El­wira Nabiullina wird bisweilen nachgesagt, sie lehne die russische Invasion in der Ukraine ab und habe deshalb gar zurücktreten wollen, Putin habe ihr Gesuch jedoch abgelehnt. Dem russischen Exil-Onlinejournal Meduza zu­folge wird dieser Darstellung aus den Reihen der Zentralbank widersprochen. Vielmehr habe Nabiullina an ihre Mitarbeiter appelliert, ungeachtet des Kriegs zu bleiben, um die russische Wirtschaft und damit »alle zu retten«. Der Kritik, sie und ihre Chefin würden mit dem Verbleib im Amt auch den Krieg gegen die Ukraine ermöglichen, begegnet Nabiullinas Stellvertreterin Ksenia Judajewa mit dem Argument, ansonsten werde der vakante Posten von Glasjew oder ihm Gleich­gesinnten ersetzt. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin gegenüber Meduza sagte, wird die Rolle der russischen Zentralbank und ihrer Vorsitzenden dort angeblich schon mit jener von Hjalmar Schacht, dem Präsidenten der Deutschen Reichsbank von 1933 bis 1939, verglichen. Schacht, der von 1934 bis 1937 auch Reichswirtschaftsminister war, hatte der von Adolf Hitler und Hermann Göring voran­getriebenen Autarkiepolitik vergeblich entgegenzuwirken versucht – und zugleich tatkräftig die Finanzierung von Deutschlands Aufrüstung organisiert.

Die Entstehung dieser Autarkiepolitik analysierte damals auch der an Marx orientierte Gesellschaftstheoretiker Alfred Sohn-Rethel. Infolge des Zusammenbruchs des Weltmarkts hätten gerade jene Teile der deutschen Wirtschaft, die nach Weltmarktmaßstäben nicht konkurrenzfähig waren, »politische Bewegungsfreiheit« erlangt. »Und von dieser Bewegungsfreiheit«, so Sohn-Rethel, »wurde von allen defizitären Elementen nachhaltiger Gebrauch gemacht.«

Möglicherweise, so mutmaßen nun einige, habe auch Putin von vornherein auf eine bestimmte Form »politischer Bewegungsfreiheit« spekuliert, die ihm zwar nicht durch den Zusammenbruch des Weltmarkts, aber durch die wirtschaftlichen Sanktionen gewährt wird. Was, wenn die Kriegsziele Putins in Wahrheit andere seien als die proklamierten, fragt etwa der Ökonom Milanović. Er formulierte auf seinem Blog die These, Putin gebe für mehr staatliche Souveränität bereitwillig wirtschaftlichen Wohlstand auf, da er nicht gewillt sei, Erstere zugunsten des Letzteren durch wirtschaftliche Verflechtung auf dem Weltmarkt ein­zuschränken.

»Das Problem ist jedoch, dass weder der Bruch mit Europa, wenn er von der Führung angekündigt wird, noch ein niedrigeres Einkommen von der Bevölkerung begrüßt werden würde«; es sei denn, so spekuliert Milanović, man könne das Kappen der Wirtschaftsbeziehungen den westlichen Nationen in die Schuhe schieben. Das trüge nicht nur zur für den russischen Racket-Staat so wichtigen Dauermobilisierung der Gesellschaft bei, sondern erlaube es der russischen Führung auch, »alle Ver­bindungen zwischen Russland und dem Westen abzubrechen und damit Russland die Freiheit zu geben, seinen eigenen Weg zu gehen«.

Wie dieser Weg aussehen könnte, hat Putin in seiner Rede auf dem Petersburger Wirtschaftstreffen skizziert. Man wolle »die Zusammenarbeit mit all jenen« ausbauen, »die daran interessiert sind«, und das sei »die überwältigende Mehrheit der Menschen auf der Erde«. »Der Trend geht immer deutlicher in Richtung eines multipolaren Wachstumsmodells anstelle der Globalisierung«, so der russische Präsident; es sei »keine einfache Aufgabe, eine neue Weltordnung aufzubauen und zu gestalten«. Nur mächtige souveräne Staaten könnten in dieser entstehenden Weltordnung mitreden, alle anderen seien dazu verdammt, rechtlose Kolo­nien zu werden oder zu bleiben. Was klingen mag wie Analyse, ist ihm, wie seine Sicht auf die Ukraine zeigt, ebenso sehr Programm.

So gesehen sind die geopolitischen Ambitionen Russlands, wie sie derzeit im Krieg gegen die Ukraine zum Ausdruck kommen, nur ein Bestandteil der umfassenderen gegenhegemonialen Phantasien, die dem von Putin verkörperten System zugrunde liegen; im Raum soll mit militärischen Mitteln kompensiert werden, was mit öko­nomischen Mitteln auf dem Weltmarkt nicht gelingt. Es scheint ganz so, als sei der russische Präsident bemüht, nicht nur den Weltmarkt zu torpedieren, sondern eine andere Version desselben zu schaffen, um im Verbund mit dem Iran, China und anderen die ökonomische Dominanz der USA, ihrer Währung sowie ihrer Verbündeten zu brechen; eine Version des Weltmarkts, die funktionieren soll wie ein erweiterter Binnenmarkt, auf dem man als ­regionaler Hegemon trotz einer wenig ausdifferenzierten, technologisch rückständigen Warenproduktion ökonomisch erfolgreich konkurrieren kann, weil es die politische Machtposition erlaubt.