Die vorgezogene Parlamentswahl in Bulgarien nach dem Sturz der prowestlichen ­Regierung

Wahlen allein machen noch keine Regierung

Wieder einmal steht Bulgarien vor Neuwahlen, weil nach sechs Monaten die liberal-sozialdemokratische Koalition durch ein Misstrauensvotum gestürzt wurde. Der Vorgang war beispiellos in der bulgarischen Geschichte.

Es war das erste erfolgreiche Misstrauensvotum in der bulgarischen Geschichte. Ende Juni war damit die als prowestlich geltende, liberal-sozial­demokratische Regierung des nach wie vor ärmsten EU-Landes gestürzt worden. Zuvor war die Partei »Es gibt ein solches Volk« (ITN), die von dem Fernsehmoderator und Sänger Slawi Trifonow geführt wird, aus der Regierungskoalition ausgetreten. Drei Versuche, eine neue Regierung zu bilden, schlugen fehl, obwohl Tausende Menschen für das Weiterbestehen der ­Regierung demonstrierten.

Die Protestpartei ITN hat nicht zum ersten Mal für einen politischen Crash gesorgt. Bei der Parlamentswahl im Juli 2021 hatte sie die meisten Stimmen erhalten und dann angekündigt, mit keiner Partei zu koalieren und stattdessen zu versuchen, alleine eine Min­derheitenregierung zu bilden, was ihr allerdings nicht gelang. Bei erneuten Wahlen im November 2021 schnitt die neu gegründete, sich als korruptionskritisch inszenierende Partei »Wir setzen den Wandel fort« (PP) am stärksten ab. Sie bildete daraufhin mit drei weiteren Parteien eine Regierung, darunter der ITN, die bei dieser Wahl nur noch fünftstärkste Kraft geworden war. Ministerpräsident wurde Kiril Petkow von der PP.

Am 2. Oktober 2022 soll eine vorgezogene Parlamentswahl stattfinden. Es ist die vierte Wahl innerhalb von eineinhalb Jahren.

Nach dem Zerbrechen dieser Koalition und dem erfolgreichen Misstrauensvotum setzte der parteilose Staatspräsident Rumen Radew Anfang August eine Interimsregierung unter dem gleichfalls parteilosen ehemaligen ­Sozialminister Galab Donew ein. Am 2. Oktober 2022 soll eine vorgezogene Parlamentswahl stattfinden. Es ist die vierte Wahl innerhalb von eineinhalb Jahren.

Viele Menschen in Bulgarien sind besorgt wegen der rasant steigenden Inflation und der steigenden Gas­preise. Das Nationale Statistische Institut (NSI) hat im Juni 2022 eine Infla­tionsrate von fast 17 Prozent ermittelt. Die Regierung Petkow hatte sich in den sechs Monaten Amtszeit nicht nur mit der Vorgängerregierung unter Bojko Borissow (von der konservativen Partei GERB) angelegt, aus deren Reihen ­mehrere führende Politiker wegen Korruption vorübergehend festgenommen wurden, sondern auch mit Russland. 70 Diplomaten und Mitarbeiter der russischen Botschaft wurden Ende Juni wegen des Verdachts der Spionage ausgewiesen. Russland wiederum hatte schon Ende April die Gaslieferung eingestellt, weil sich die bulgarische Regierung geweigert hatte, diese in Rubel zu bezahlen. Die jetzige Interimsregierung hat nun jedoch öffentlich in Erwägung gezogen, die russischen Bedingungen zu erfüllen, damit Gazprom die Lieferungen wiederaufnimmt. Daraufhin formierte sich unter dem Slogan »Gaz­WithMe« eine Bürgerbewegung, die fordert, dass sich Bulgarien unabhängig von Russland macht.

In den jüngsten Umfragen verschiedener Institute liegt zwar die GERB vor der PP, allerdings waren auch vor der Wahl im November 2021 die Umfragewerte verschiedener Institute häufig zugunsten der GERB ausgefallen, und dann hatte die PP doch vorne gelegen.

Vor einigen Wochen hat sich aus verschiedenen Organisationen die linke Plattform Progress (Fortschritt) gegründet, die sich laut ihrem Manifest für Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit, Wohlstand und Demokratie einsetzt. Die Jungle World sprach mit den beiden Gründungsmitgliedern Stanislaw Dodow und Alexander Filipow. Ihnen zufolge ist das Ziel der PP, die Partei GERB, die die meiste Zeit seit 2009 die Regierung führte, endgültig aus der Politik zu drängen. »Der Regierung Petkow gelang es zwar, die makroökonomischen Indikatoren in einer sehr komplizierten Situation zu sta­bilisieren, im Grunde enden die guten Nachrichten aber hier.« Es gäbe in der offiziellen Politik schon lange keine »legitime Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterklasse«, das müsse sich ­ändern, sagt Dodow.

Die Frage, ob ihr linkes Bündnis bei den nächsten Wahlen antreten möchte, verneint Filipow: »Wenn unsere Akti­vitäten irgendwann das Entstehen einer kohärenten linken Partei ermöglichen, wäre das natürlich phantastisch. Die Plattform zielt jedoch zunächst ­darauf ab, politische und ideologische Räume zu öffnen und die erforderliche soziale Basis aufzubauen.« Im Moment sei Progress darauf ausgerichtet, Linken und sozial Benachteiligten eine Stimme zu geben.

Von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) haben Dodow und Filipow eine denkbar schlechte Meinung. In der derzeitigen tiefen politischen Krise schneide die BSP katastrophal ab, breche Nega­tivrekorde bei den Wahlergebnissen und zeige immer wieder, dass sie weder die bulgarischen Linken noch die arbeitende Mehrheit der Bevölkerung ver­treten könne. Zudem habe die Partei in den vergangenen fünf ­Jahren auch eine scharfe Wendung hin zu einem schrillen Konservatismus vollzogen. Beispielsweise hatte sie eine erfolgreiche Kampagne gegen die gegen die Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen initiiert.

Doch nicht nur die Wahlen und die wirtschaftliche Situation bestimmen derzeit die öffentliche Debatte. Bulgarien ist weiterhin Transitland für Flüchtende. Immer wieder gab es in diesem Jahr Verkehrsunfälle und andere Vorfälle, in denen Geflüchtete zu Schaden kamen. Im Februar fand die bulgarische Polizei 61 afghanische Geflüchtete in einem verlassenen Lastwagen. Im April starben zwei afghanische Geflüchtete bei einem Unfall mit einem Fahrzeug der bulgarischen Armee. Vor zwei Wochen prallte ein Bus mit 30 Menschen afghanischer Staatsbürgerschaft in der westbulgarischen Kleinstadt ­Godetsch in Nähe der serbischen Grenze gegen einen Baum und fing Feuer. Der Fahrer starb bei dem Unfall.

Vorige Woche verfolgte die Polizei in der Region Burgas einen Bus mit 47 ­syrischen Flüchtlingen 25 Kilometer weit, der daraufhin einen Verkehrs­unfall verursachte. Den Medienberichten zufolge hielt der 15jährige syrische Fahrer des Busses nicht an, als sich ihm ein Polizeiauto in den Weg stellte, und prallte mit diesem zusammen. Der Unfall, bei dem zwei Polizei­beamte starben, löste große politische Diskussionen aus. Innenminister Iwan Demerdschiew sprach von einer »Kriegserklärung der Schlepperbanden« und schloss nicht aus, dass bulgarische Grenzbeamte am illegalen ­Transit von Geflüchteten beteiligt sein könnten. Er kündigte an, in den nächsten Tagen alle Flüchtlingsunterkünfte kontrollieren zu lassen. Dem bulgarischen Nationalradio sagte er, dass derzeit täglich fast 1 000 Migrantinnen und Migranten in Bulgarien aufgegriffen würden.