Das Massaker in Melilla und den Nato-Gipfel in Madrid

Die Toten von Melilla

Dutzende Menschen wurden bei dem Versuch getötet, die Grenzzäune der spanischen Exklave Melilla zu überwinden.

Hunderte Menschen liegen eng beieinander und zum Teil aufeinandergestapelt im Dreck auf dem Boden unter der heißen Sonne. Sie bewegen sich nicht, viele von ihnen sind schwer verletzt. Immer wieder werfen marokkanische Grenzschützer weitere reglose Körper auf sie, prügeln mit Schlagstöcken auf sie ein. Es waren schockierende Bilder von der spanisch-marokkanischen Grenze bei Melilla, die um die Welt gingen. An die 2 000 Geflüchtete, die Mehrheit aus dem Sudan, hatten vorvergangene Woche versucht, die Grenzanlagen der spanischen Exklave zu überwinden. Nur etwas mehr als 100 Menschen schafften es nach Europa. Die meisten wurden abgefangen, blieben verletzt in den mit Stacheldraht bewehrten Zäunen hängen oder wurden auf der spanischen Seite von Grenzpolizisten direkt wieder auf marokkanisches Gebiet gedrängt.

Mindestens 37 Menschen starben marokkanischen Menschenrechtsgruppen zufolge bei dem »Massaker« von Melilla, wie es Flüchtlingsorganisationen und Teile der spanischen Presse nannten. Bislang ist unklar, ob die Opfer vorrangig von anderen Geflüchteten in Panik totgetrampelt oder von Grenzbeamten totgeprügelt wurden. Auf Videos ist zu sehen, wie marokkanische Grenzbeamte Menschen auf dem Zaun mit Steinen bewerfen und am Boden mit Tritten und Stöcken misshandeln. Viele, auch Schwerverletzte, mussten stundenlang ohne medi­zinische Versorgung im Dreck liegen, zwischen ihren bereits verstorbenen Weggefährten. Vergangene Woche schaltete sich die Uno ein und verlangte ­angesichts der »unangemessenen Gewalt« eine unabhängige Untersuchung.

Zum ersten Mal taucht nun in einem Nato-Strategiepapier Migration auf: als »hybride Taktik« autoritärer Staaten, die Migration »instru­mentalisieren« würden, um andere Staaten zu destabilisieren.

Vor dem jüngsten Ansturm auf die Zäune hatte Marokko die Repression gegen die meist subsaharischen Geflüchteten verschärft, nachdem das nordafrikanische Land im April ein Abkommen mit Spanien geschlossen hatte. Darin erkennt Spanien die völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara an, im Gegenzug versprach Marokko, sich wieder mehr darum zu kümmern, Menschen auf der Flucht von der eu­ropäischen Außengrenze fernzuhalten. In der Folge kam es vor allem in der marokkanischen Grenzstadt Nador zu Razzien und Massenverhaftungen, ­provisorische Flüchtlingscamps wurden niedergebrannt, Essen und Trinkwasser wurde beschlagnahmt, wie 15 marokkanische und spanische NGOs Ende Juni in einer gemeinsamen Erklärung beklagten. Geflüchtete berichten, dass sie keine anderen Ausweg sahen, als den gefährlichen Weg durch die ­militärisch gesicherten Grenzanlagen zu wagen.

Melilla und Ceuta, zwei Exklaven Spaniens auf dem afrikanischem Kontinent – Überbleibsel der Kolonialzeit –, sind wegen ihrer besonderen Lage immer wieder Ziel der Fluchtbewegungen nach Europa. Regelmäßig kommt es dort zu Szenen, bei denen Hunderte Geflüchtete versuchen, kollektiv die meterhohen Grenzzäune zu überwinden. Immer wieder kommen Geflüchtete dabei zu Tode. Zuletzt hatten in Ceuta im Mai vergangenen Jahres etwa 8 000 Migrantinnen und Geflüchtete innerhalb weniger Tage die Grenzanlagen überwunden, nachdem Marokko ­aufgrund eine Disputes mit der spanischen Regierung seinerseits den Grenzschutz kurzzeitig aufgehoben hatte; Brahim Ghali, der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung Polisario, war in einem spanischen Krankenhaus behandelt worden, was den Zorn der marokkanischen Regierung erregt hatte.

Auf der spanischen Seite der zwischen sechs und zehn Meter hohen Zäune erwarteten die Geflüchteten Panzer und Beamte der Guardia Civil, die sie mit Gewalt zurück ins Wasser trieben. Über 6 000 Menschen, die es dennoch nach Ceuta geschafft hatten, wurden in den Tagen danach ohne Prüfung ihrer Asyl­gesuche wieder abgeschoben – ein klarer Verstoß ­gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.

Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez, der sich auf eine Koalition seiner sozialdemokratischen Partei PSOE mit dem linksalternativen Bündnis Unidos ­Podemos stützt, sprach damals von einem Angriff auf die Souveränität Spaniens: »Die spanische Regierung wird die territoriale Integrität der Grenzen von Ceuta und Melilla, die auch die Grenzen der EU sind, verteidigen. Zu jeder Zeit, unter allen Umständen, mit allen Mitteln.«

Wie das in der Praxis aussieht, konnte man nun in Melilla beobachten. Sánchez sprach erneut von einem Angriff auf die »territoriale Integrität« Spaniens und bedankte sich bei den Ordnungskräften auf beiden Seiten des Zauns, die die Situation »gut gelöst« hätten. Erst nachdem die Kritik lauter geworden war, äußerte auch er sein ­Bedauern über die Todesfälle. Mittlerweile hat die spanische Justiz Ermittlungen eingeleitet, die aber wohl wenig Erfolg haben werden: Die marok­kanische Menschenrechtsorganisation AMDH, Sektion Nador, berichtet, dass der Großteil der Opfer bereits begraben worden sei, ohne Identifizierung oder Autopsie.

Auch wenn die spanische Regierung wegen der zahlreichen Toten und ­Verletzten nun kritisiert wird, kamen die Bilder aus Melilla ihr nicht ganz ungelegen. Nur wenige Tage nach der Eskalation an der Grenze fand in ­Madrid der Nato-Gipfel statt, bei dem Spanien erreichen wollte, dass illegale Migration als eine Form »hybrider Bedrohung« in den Strategieplan des ­Verteidigungsbündnisses aufgenommen wird. Tatsächlich taucht nun zum ersten Mal in einem Nato-Strategiepapier Migration auf, und zwar als »hybride Taktik« autoritärer Staaten, die Migration »instrumentalisieren« würden, um andere Staaten zu destabilisieren. Spaniens Außenminister José Manuel Albares (PSOE) zeigte sich nach dem Gipfel erfreut, dass die Nato die Bedrohungen der »Südflanke«, wozu auch der »inakzeptable politische Gebrauch von irregulären Migrationsbewegungen« gehöre, in ihr Grundsatz­dokument aufgenommen habe.

Damit knüpfen Spaniens linke Regierung, ihrer Selbstbeschreibung zufolge die »progressivste Regierung der Geschichte«, und die Nato als Ganzes ­rhetorisch an den Konflikt zwischen Belarus und Polen im vergangenen Jahr an. Nachdem das autoritäre Regime in Belarus gezielt Geflüchtete ins Land geholt und ihnen den Zugang zur polnischen Grenze erleichtert hatte, um Druck auf die EU auszuüben, erklärte Polen das Grenzgebiet zur militärischen Sperrzone. Hunderte Menschen saßen dort monatelang in den Wäldern fest, einige erfroren oder verhungerten. Die Hilfesuchenden wurden als »Waffen« und Teil einer »hybriden Kriegsführung« bezeichnet und damit als Bedrohung, der man auch militärisch begegnen müsse.

Was passiert, wenn fliehende Menschen als Bedrohung angesehen werden, konnte man nun in Melilla erneut beobachten. Judith Sunderland, die Vizedirektorin von Human Rights Watch, sagte dem Guardian, es sei »fast unvermeidlich, dass sich diese Situa­tion wiederholt«. Grund sei die »EU-Migrationspolitik, die auf Abschreckung, Externalisierung und Auslagerung in Drittländer wie Marokko, ­Li­byen und die Türkei beruht«.