Ein Besuch in einer progressiven Schule in einem kolumbianischen Konfliktgebiet

Lernen im Konfliktgebiet

Reportage Von Knut Henkel

In Kolumbien hat der Wahlsieg des designierten linken Präsidenten Gustavo Petro gezeigt, dass viele einen grundlegenden Wandel wünschen. Dabei spielen die Schulen des Landes eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein Besuch in einer Schule in Santa Marta, die Versöhnung, Dialog und die historische Wahrheit bereits didaktisch aufgenommen hat.

Patricia Jiménez weist den Weg an der verwaisten Kantine vorbei zum Schul­sekretariat. »Wir haben gerade ein Finanzierungsproblem bei der Schulspeisung. In Bogotá werden die Mittel zurückgehalten, weil wir als progressive Schule bekannt sind«, ärgert sich die 54jährige Lehrerin mit den kurzen Korkenzieherlocken. Jiménez ist Pädagogin an der »Escuela Normal Superior San Pedro Alejandrino«. Mit rund 1 600 Schülerinnen und Schülern ist sie eine der größeren Schulen von Santa Marta, einer Hafenstadt im Departamento del Magdalena an der kolumbianischen Karibikküste. »In Kolumbien wird nahezu alles politisiert und wir hier an der San Pedro Alejandrino versuchen, es gerade anders zu machen«, sagt Jiménez, die eines der neuartigen Bildungsprogramme leitet.

»Escuelas de Palabra« (Schulen des Wortes) heißt es und hat zum Ziel, die jüngere Geschichte mit all ihren Facetten in den Unterricht einfließen zu lassen. Es ist eine Initiative des Nationalen Programms für Friedenserziehung (Educapaz), das mit Unterstützung der Wahrheitskommission stattfindet.

»Als ich anfing, hatten wir es mit einer Regierung zu tun, die alles der Armee unterordnete, die Gesellschaft militarisierte.« Javier Yaney Pérez, Schuldirektor

In etlichen Regionen des Landes schwelt der bewaffnete Konflikt zwischen Armee, Guerillagruppen, kri­minellen oder paramilitärischen Banden – wobei die Übergänge oft fließend sind – weiter, in weiteren Regionen hat der Konflikt alltägliche Verhaltensweisen stark geprägt, was Friedens­erziehung erschwert. So auch in Santa Marta, wo sich die Bevölkerung erst langsam von der jahrelangen Kontrolle durch paramilitärische Gruppen erholt. »Hier war alles unter Kontrolle. In der Stadt mussten alle Händler auf dem Markt die sogenannte vacuna, die Steuer der Paramilitärs, zahlen. Mädchen und junge Frauen waren vor den schwerbewaffneten Freischärlern nicht sicher«, erinnert sich Jiménez. Sie hat an der Universität von Magdalena studiert, als paramilitärische Kämpfer 2001 den stellvertretenden Direktor der Universität, Julio Otero Muñoz, ermordeten, und kann sich noch gut an die bleierne Angst erinnern, unter der Studierende und Dozierende litten. Über Jahre habe diese angehalten, nicht nur in Santa Marta, sondern in weiten Teilen der Gebiete an der kolumbianischen Karibikküste. »Davon waren auch viele Schulen betroffen«, so Jiménez, während sie über einen der Schulhöfe der weitläufigen Anlage geht, die vor 60 Jahren gegründet wurde.

Die Beliebtheit der Schule ist der relativ guten Infrastruktur, aber noch viel mehr dem engagierten Kollegium geschuldet. Jiménez, die nebenberuflich als Anwältin arbeitet, ist dafür ein gutes Beispiel, denn sie engagiert sich für den Wandel in einer polarisierten Gesellschaft.

Lehrkräfte als Multiplikatoren
Diesem Wandel habe sich die Escuela Normal Superior San Pedro Alejandrino verschrieben, wie Rektor Javier Yaney Pérez wenig später im Schulsekretariat bestätigt. Sein eigenes Büro hat er gerade einer Arbeitsgruppe zur Verfügung gestellt, und so nimmt er gegenüber der Schulsekretärin Olga Chicas Palma unter dem in in leuchtenden Farben gehaltenen Bild eines afrokolumbianischen Künstlers Platz. Seit 2010 leitet Pérez die Schule, er hat den gesellschaftlichen Wandel miterlebt und an der Schule gestaltet. »Als ich anfing, hatten wir es mit einer Regierung zu tun, die alles der Armee unterordnete, die Gesellschaft militarisierte«, erinnert er sich. Damals regierte noch Álvaro Uribe Vélez (2002–2010), der angetreten war, um die Guerilla Farc militärisch zu besiegen. Sein Nachfolger Juan Manuel Santos (2010–2018) schlug einen anderen Kurs ein und begann die Friedensverhandlungen mit den Farc, die im November 2016 mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens endeten.

»Mit dem Politikwechsel gab es wieder etwas Platz für den Dialog und damals haben wir hier die ersten Initiativen gestartet – hin zu einem zivilen Miteinander«, erinnert sich der Rektor. Hilfreich dabei war das 2015 in Kolumbien verabschiedete Gesetz für das Schulische Zusammenleben (Ley de Convivencia Escolar), eine Initiative, um Gewalt an den Schulen zu unterbinden und die Menschenrechte an den Schulen zu stärken. »Damals begann eine neue Etappe an den Schulen, mit Initiativen wie der Cátedra de la Paz (Lehrstuhl für Frieden), die Versöhnung an den Schulen auf den Lehrplan setzte«, erinnert sich Pérez. Jiménez nickt zustimmend. »Zentrale Fragen waren damals, wie wir es schaffen, an den Schulen ein Atmosphäre des Dialogs zu schaffen, wie wir die Schüler zu mehr Toleranz erziehen, wie wir dafür sorgen, dass Konflikte, die sich durch die Gesellschaft ziehen, an den Schulen keine Rolle spielen«, sagt Jiménez.

Davon zeugen vergilbte Zettel mit Verhaltensregeln für das gemeinsame Miteinander, die in den langen Schul­fluren aushängen. Die Regeln und das Schulkonzept scheinen gegriffen zu haben, denn auf dem Schulgelände sind immer wieder Kleingruppen von Schülerinnen und Schülern zu sehen, die vernünftig diskutieren und gemeinsam an Projekten arbeiten. Vor allem bei den Älteren, die eine fünfsemestrige Ausbildung zur Lehrkraft an der Schule absolvieren, an deren Ende ein dreiwöchiges Praktikum an einer Landschule steht, sei zu spüren, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind, so Jiménez. Sie unterrichtet eine dieser Klassen, die heute eigenständig Unterricht macht, während ihre Lehrerin dem Besucher die Schule zeigt.

»Unsere Schüler sind Multiplikatoren, sie gehen in abgelegene Dörfer, in ­denen es oft kaum Internet gibt, wo die Bedingungen für Unterricht alles an­dere als einfach sind, wo bewaffnete Gruppen teilweise noch aktiv sind«, erzählt Jiménez. »Sie müssen gut vorbereitet sein und machen ihr erstes Praktikum in einer Landschule in Kleingruppen von vier bis fünf Schülerinnen und Schülern«, erläutert sie das Procedere und winkt eine Schülerin heran: Luisa.Sie wird in ein paar Monaten in eines der abgelegenen Dörfer in der Sierra Nevada de Santa Marta gehen, um dort erste Unterrichtserfahrungen zu sammeln. Die 19jährige sagt, sie sei gespannt, was sie erwarte. Sie wisse genau, dass in der Region rund um Minca, ei­ne touristische Kleinstadt mitten in den Bergen des höchsten Küstengebirges der Welt, nach wie vor paramilitärische Gruppen aktiv sind. Minca ist kaum 20 Autominuten von der Schule  entfernt und ein paar Schülerinnen und Schüler kommen aus der Region.

Luisa ist klar, dass sie sich dort vorsichtig zu verhalten hat, aber sie weiß auch, was sie will: »Meine Generation und meine Kommilitonen wollen etwas ändern, und damit fangen wir hier in Santa Marta an – gemeinsam. Korruption, das Fehlen von Integrität und Werten prägt diese Gesellschaft. Werte wollen wir vermitteln und an dieser Schule haben wir gelernt, dass es auch anders geht«, sagt sie selbstbewusst.

Dialog statt Konfrontation
Viele der Lehrkräfte, die an der Schule San Pedro Alejandrino ausgebildet werden, werden zumindest in den ersten Jahren wahrscheinlich an einer Landschule unter oft prekären Bedingungen unterrichten. Häufig ohne ­Zugang zum Internet, manchmal auch ohne ausreichende Unterrichtsmateri­alien, in Gebäuden, die dringend renoviert werden müssen. Das Stadt-Land-Gefälle im kolumbianischen Schulsystem ist laut der Lehrergewerkschaft Fecode groß, gute Lehrkräfte können die klaren Unterschiede partiell kompensieren.

Für deren Ausbildung haben sich Lehrerinnen wie Jiménez, ihre Kollegin Fabiola Muñoz und Blanca Fabiola engagiert. »Wir alle sind Teil des Konflikts. Fast alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer haben Opfer in ihrer Familie, sind direkt von dem Konflikt geprägt, der dieses Land seit Dekaden im Griff hat«, sagt Fabiola. Die Lehrerin von Ende 40 arbeitet mit Kindern, die eine spezielle Förderung brauchen und oft aus benachteiligten Familien kommen.

»Wir alle sind Teil des Konflikts. Fast alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer sind direkt von dem Konflikt geprägt, der dieses Land seit Dekaden im Griff hat.« Blanca Fabiola, Lehrerin

Die jüngere Geschichte Santa Martas ist auch Thema im Unterricht: Recherchen zur Geschichte des eigenen Stadtteils, der Schule, der Universität oder der bewaffneten Verbände, paramilitärischen oder Guerillagruppen, aber auch der Armee, sowie zur sozialen Situation im Land. Diese Inhalte sind alles andere als typisch für Kolumbiens Bildungssystem; dass sie nun vermittelt werden, daran hat das Programm Escuelas de Palabra seinen Anteil. Die Über­arbeitung der Lehrpläne, die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte im Unterricht und die Ausbildung von Lehrkräften als Multiplikatoren der Idee eines friedlichen Zusammenlebens sind dabei zentrale Elemente.

Die weitreichende Autonomie der einzelnen Schulen und der Kollegien ist dafür eine wichtige Voraussetzung, denn das Bildungsministerium gibt nur die Inhalte der aus seiner Sicht entscheidenden Fächer vor, nicht aber jene in Geschichte oder Sozialkunde. Was ­eigentlich ein Nachteil ist – die Geschichte des eigenen Landes wird in Kolumbien nicht mehr obligatorisch unterrichtet –, wandelt sich im Kontext des Programms zum Vorteil. »Dadurch haben Lehrer und Schulen Autonomie, und genau die haben wir genutzt, um eine Kultur der Konfrontation durch eine Kultur des Dialogs auf allen Ebenen der Schule zu ersetzen«, sagt Jiménez mit einem zufriedenen Lächeln und verabschiedet sich aus der Klasse ihrer Kollegin Fabiola.

Mehr als Wissensvermittlung
Genau das haben die Initiatoren von Escuelas de Palabra auch beabsichtigt. Landesweit sind rund 80 Schulen am Programm beteiligt und es könnten mehr werden, wenn es nach der Wahrheitskommission geht. Diese stellte ­ihren Abschlussbericht Ende Juni fertig. Darin werde es auch Empfehlungen geben, kündigte Lucía González einige Tage vor dem Veröffentlichungstermin an. Sie ist Mitglied der Wahrheitskommission, war in den vergangenen drei Jahren viel im Land unterwegs und hat mit ihrem Team und den Kommissionsmitgliedern in den vergangenen Wochen in Bogotá letzte Hand an den Bericht gelegt.

»Wir haben die Erfahrungen aus dem Programm ausgewertet und in unsere Empfehlungen aufgenommen. Im Kern geht um Fragen wie: Warum muss ich wissen, was in meinem Dorf, meiner Stadt, meiner Region passiert ist? ­Warum ergibt es Sinn, den anderen zu respektieren, Andersdenkende als Anregung und nicht als Bedrohung zu begreifen? Warum gehört das zu einer demokratischen Gesellschaft dazu?« so die 64jährige bei einem Treffen in Bogotá in ihrem Apartment im Zentrum nahe der Altstadt. Für González, ehemalige Direktorin des Museums Haus der Erinnerung in Medellín, ist klar, dass die kolumbianische Gesellschaft sich mit ihrer Geschichte auseinander­setzen muss, um die Frage zu beantworten, wie die eigene Zukunft gestaltet werden soll. »All das sind Fragen, die im Unterricht thematisiert werden sollten«, meint sie und nippt an ihrem ­Espresso.

Man sei damit vorangekommen, sagt sie und deutet auf bunte Schulbücher, die in Eigenregie beispielsweise in Tumaco, einer Stadt nahe der Grenze mit Ecuador, entstanden sind, und auf Ausstellungsprojekte von Schulen in Konfliktregionen. Für sie sind auch die Proteste der jüngeren Generation von 2019 und vor allem 2021, der landesweite »nationale Streik«, dafür ein Beispiel. »Heute weiß das Gros der Jugend dieses Landes genau, was hier läuft, und sie protestiert gegen Ausgrenzung, fordert inklusive Angebote und verurteilt die staat­liche Repression – das ist deutlich zu sehen«, so González.

Davon zeugt auch das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen, die der Linke Gustavo Petro gewonnen hat. Eine Zäsur, mit der für viele in Kolumbien etliche Hoffnungen verbunden sind. Sie richten sich auch auf den Bericht der Wahrheitskommission und deren Empfehlungen. Diese will die Kommission durch die enge Zusammenarbeit mit Kulturschaffenden, aber auch der Lehrergewerkschaft Fecode in die Gesellschaft tragen.

Auf Jiménez und Rektor Pérez kommt dann wieder Mehrarbeit zu, denn für sie ist klar, dass die Empfehlungen an der Schule San Pedro Alejandrino möglichst schnell in den Unterrichtsstoff aufgenommen werden sollen. »Unsere Aufgabe ist nicht allein die Wissensvermittlung, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung. Da setzen wir seit Jahren an. Das diskutieren wir auch mit den Eltern. Das geht nicht immer reibungslos, denn hier treffen Schülerinnen und Schülern aus allen Gesellschaftsschichten aufeinander«, so Pérez. Dazu gehören Anhänger der paramilitärischen Verbände oder der mittlerweile demobilisierten Guerilla Farc ebenso wie Angehörige von Opfern und Menschen, die beiden Seiten abgeneigt sind.

Dieser schwierigen Konstellation begegnet die Schule mit der Maxime der Friedenskultur. Das trifft immer wieder auf Widerstand, auch aus der Politik, die die Schule finanziell des Öfteren an die kurze Leine gelegt hat, wie das Beispiel der Schulspeisung zeigt. Die Mittelvergabe nach politischen Kriterien kritisiert Rektor Pérez, aber unbeirrt hat er am Schulkonzept festgehalten. Das Wahlergebnis der Parlaments- und der Präsidentschaftswahlen dürfte nun an den Verhältnissen in der Region etwas ändern. In Santa Marta hat das linke Bündnis »Pacto Histórico« des designierten Präsidenten Gustavo Petro im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl rund 60 Prozent der Stimmen erhalten – ein gutes Zeichen für die Zukunft. Auch für die Escuela Normal Superior San Pedro Alejandrino.