Begegnung der antisemitischen Art im Hinterhof

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Begegnung im Hinterhof.

Samstag, am frühen Nachmittag. 34 Grad. Ich muss zum Supermarkt. Als ich in den Hof komme, um mein Fahrrad zu holen, sehe ich den Hinterhof-Messie aus dem vierten Stock vor den Mülleimern stehen. Wir begegnen uns nur selten, weil er zu anderen Uhrzeiten einkaufen geht als ich. Überhaupt ist er nicht oft auf der Straße zu sehen. Jetzt sage ich freundlich: »Hallo.« Er steht mit dem Rücken zu mir. Bleibt regungslos. Ich wiederhole: »Hallo!« und setze hinzu: »Guten Tag!« Jetzt dreht er sich zu mir und mustert mich einige Sekunden lang, als müsse er entscheiden, ob ich einen Gruß wert bin. Ob ich ich der Richtige bin, um sein eremitisches Schweigen zu brechen und den einen Plausch pro halbes Jahr zu halten. »Guten Tag«, sagt er. »Ich gucke gerade, ob der Baum schon Früchte trägt.« Die Worte tropfen aus ihm heraus. Er rollt das R. Ich komme ein paar Schritte näher auf ihn zu. Er trägt eine Schirmmütze aus Wolle, um die ein dünner Schal gewickelt ist, einen blauen Kittel und riesige Turnschuhe. Außerdem einen blauen Mundschutz.

Ich gucke hoch in den Baum und erkenne kleine grüne Früchte. Er greift in seine Tasche und zeigt mir zwei winzige rote Pflaumen. »Ist noch zu früh, vielleicht ist dieses Jahr auch zu trocken.« »Ja, es ist wieder sehr trocken dieses Jahr. Aber vielleicht kommen sie im Spätsommer«, antworte ich. Wir kommen ins Gespräch. Oder besser, ich entscheide mich, ihm zuzuhören. Er beginnt eine Geschichte zu erzählen, der ich nur mit Mühe folgen kann. Es fehlen viele Artikel, auch wenn der Satzbau erstaunlich gut ist. Vieles verschluckt die Maske. Ich nicke lächelnd, um anzuzeigen, dass ich ihm zugewandt bin. Er wurde 1936 in Bulgarien geboren, in einer Kleinstadt in der Nähe von Sofia. »Ich werde im August 86!« »Das gibt’s ja nicht! Das hätte ich nie gedacht«, antworte ich überrascht. Er lächelt unter der Maske, scheint geschmeichelt. »Ich bin drei Jahre alt«, fährt er fort, »und stehe auf dem Balkon im ersten Stock und beobachtete drei nackte Männer, die sich gegenseitig waschen. Das kommt mir sehr seltsam vor!« Dann schweift er ab, springt wild in der Zeit hin und her und erzählt, wie er von Bulgarien zunächst in die Türkei ging, nachdem er als Soldat in den fünfziger Jahren auf der Krim gewesen war. »Auf der Krim, wo ­Helene Fischer herkommt.« Wie er das so selbstverständlich einfließen lässt … Ich sehe ihn oft unter einer Lampe Zeitung lesen, aber nie fernsehen. Es ist sicher Zeitungswissen, dass Helene Fischer auf der Krim geboren wurde.

In dem Moment klopft der griechische Nachbar aus dem Treppenhaus ans Fenster. Ich winke ihm zu. Er winkt zurück und dreht mir dann seine offene Handfläche entgegen. Die fragende Geste und sein finsterer Blick erinnern mich daran, dass der Hinterhof-Messie ein Kauz ist, den sonst alle meiden. Ich wende mich ihm wieder zu und frage: »Was war denn nun mit den nackten Männern? Warum war das so seltsam?« »Warte, warte! Kommt noch. Ich bin drei Jahre alt, als ich auf dem Balkon stehe. Stefanie Heinzmann war drei Jahre alt, als sie das erste Mal auf einer Bühne stand. Ebenso erinnere ich mich auch an dieses Erlebnis.« Stefanie Heinzmann? Vielleicht hat er doch einen Fernseher! Aber ich habe noch nie irgendetwas flimmern gesehen bei ihm, und überhaupt geht er bei Sonnenuntergang ins Bett. Woher weiß er so was?

Dann erzählt er, dass seine Mutter heißes Wasser nach draußen brachte, damit die Männer sich waschen konnten. Es waren Soldaten aus der Hauptstadt, die übers Land zogen, um Telefonmasten zu errichten. Schon seit Monaten waren die Soldaten nicht mehr zu Hause gewesen. Als einer der Soldaten den kleinen Jungen auf den Arm nahm und hin und her wiegte, liefen ihm Tränen über das Gesicht. Der Soldat hatte Sehnsucht nach seiner Familie. »Aber was ist denn an so einer kleinen Geschichte so besonders, dass man sich noch nach über 80 Jahren daran erinnert?« frage ich. »Warte, mein Lieber«, sagt er. »Es war keine kleine Sache! Weil, in dem Moment, als ich drei Jahre alt war, habe ich mich entschieden, dass ich auch so werden will.« Jetzt verstehe ich. Er meint seine Mutter, die fremden Männern auf der Straße heißes Wasser zum Waschen anbot. »Eine kleine Geste kann einen großen Unterschied machen. Genau sowie ein kleines Wort. Deshalb habe ich dir geantwortet, als du ›guten Tag‹ gesagt hast.«

Ich bin noch ganz verwirrt von dem intimen Schluss, da ist er schon weiter in seiner Geschichte. Erzählt, wie er später Ökonomie studierte und den unbedingten Willen hatte, nach Deutschland zu kommen. Es scheint so, dass er, jetzt, da er erst mal angefangen hat zu erzählen, feststellt, dass er sehr viel zu sagen hat. Die Sätze sprudeln aus ihm heraus. Der Hahn ist aufgedreht und lässt sich so leicht nicht mehr schließen. Ich kenne das von mir selbst, wenn ich mehrere Tage das Haus nicht verlassen habe. »Beruhige dich! Du wirkst ja wie ein Tier, das gerade aus dem Käfig gelassen wurde!« ermahnt mich meine Freundin dann regelmäßig. Plötzlich meine ich zu hören, wie er brummelt: »Und warum haben die Juden immer Geld?« »Wie bitte?«, frage ich nach. »Das habe ich akustisch nicht verstanden!« Er blinzelt mich frech an und setzt seinen biographischen Monolog fort. Es ist heiß, ich muss noch zum Supermarkt. Ich verliere den Faden, plötzlich bemerkt er: »Alle gescheiten Menschen hassen die Juden.« »Was? Das ist doch Unsinn!« sage ich. Was soll das denn jetzt? Sagt er das nur, um mich zu provozieren? Weil er den he­bräischen Schrift­zug auf meinem T-Shirt gelesen hat? Seine Stimme ist jetzt kaum mehr hörbar. »Ich muss jetzt leider los«, sage ich. »Auf Wiedersehen!« »Auf Wieder­sehen!« sagt er. Als ich mein Fahrrad aufschließe, brummt er hinter mir: »Tja, das Gute und das Böse liegen nah beieinander.« Ich mache, dass ich wegkomme, schnell.