Generalstreik im öffentlichen Dienst Tunesiens

Die UGTT als Gegenmacht

Kommentar Von Bernd Beier

Ein eintägiger Generalstreik im öffentlichen Dienst beschert dem autoritären tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed neue Probleme.

Kein Flugzeug startete oder landete in Tunesien, kein Schiff wurde entladen, die Postämter waren geschlossen. Mit einem eintägigen Generalstreik im öffentlichen Dienst hat der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT sich am Donnerstag vergangener Woche als bedeutendste Gegenmacht zu dem autoritären Präsidenten Kaïs Saïed zu erkennen gegeben. Dem Generalsekretär der UGTT, Noureddine Taboubi, zufolge wurde der Streikaufruf zu 96 Prozent befolgt, Unterstützung fand der Streikbeschluss von internationalen Organisationen wie beispielsweise dem Internationalen Gewerkschaftsbund und der US-amerikanischen AFL-CIO, in Tunesien selbst von Vereinigungen wie der der Demokratischen Frauen Tunesiens (ATFD) und der nationalen Journalistenvereinigung SNJT.

Zwei Forderungen propagierte der Streik in erster Linie. Angesichts einer Inflationsrate von rund acht Prozent sollen neue Lohnabschlüsse der UGTT zufolge »die Kaufkraft korrigieren«, für die Jahre 2022 und 2023 sowie rückwirkend für 2021. Zudem soll das Zirkular Nummer 20 vom Dezember vorigen Jahres zurückgenommen werden, das Ministerien bilaterale sektorielle Verhandlungen mit den Gewerkschaften ohne eine vorherige Autorisierung der Premierministerin untersagt. Ein Text, der eine Verletzung der Verfassung und des internationalen Rechts darstelle, so Samir Tahri, Sprecher der UGTT.

Der Generalstreik war umso pikanter, als die vom Präsidenten in­stallierte Regierung unter Premierministerin Najla Bouden seit Monaten ergebnislos mit dem Internationalen Währungsfonds wegen eines neuen Kredits verhandelt, um eine drohende Staatspleite zu vermeiden. Ein dem IWF vorgelegter Reformplan der Regierung sieht unter anderem ein Einfrieren der Personalausgaben im öffentlichen Dienst und eine Restrukturierung der Staatsunternehmen vor. Doch ohne Zustimmung der UGTT zu diesem Plan ist ein IWF-Kredit fast ausgeschlossen.

Der Erfolg des Streiks verstand sich keineswegs von selbst. Hatte die UGTT zunächst Kaïs Saïeds Suspendierung des Parlaments und Auflösung der Regierung vom 25. Juli 2021 unterstützt, verschlechterte sich ihr Verhältnis im Dezember wegen des Zirkulars Nummer 20 beträchtlich. Mittlerweile ist sie endgültig ins Visier des autoritären Präsidenten geraten, seit sich ihr Generalsekretär Taboubi am 31. Mai weigerte, an einem vom Präsidenten ausgerufenen »nationalen Dialog« teilzunehmen, der unter anderem die Parteien ausschloss und deswegen nicht inklusiv sei und dessen Ergebnisse der Präsident vorweg bestimme.

Unterstützer des Präsidenten haben dem Magazin Jeune Afrique zufolge eine Verunglimpfungskampagne der UGTT insbesondere wegen angeblicher Korruption gestartet, in der Hoffnung, ein Präsidialdekret werde die gewerkschaftliche Aktivität untersagen. Ein ehemaliger prominenter Unterstützer des 2011 gestürzten autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali, Mezri Haddad, tauchte zweimal des Nachts in Saïeds Palast auf und twitterte, die Entscheidung der UGTT für einen Generalstreik sei eine antinationale Aktion, Hochverrat und eine Gefährdung der nationalen Sicherheit.

Saïed selbst äußerte sich nicht zu dem Generalstreik. Er hat Besseres zu tun, nämlich eine neue, auf ihn zugeschnittene Verfassung durchzusetzen. Sadok Belaïd, der Vorsitzende einer vom Präsidenten installierten Institution zur Ausarbeitung der neuen Verfassung, soll einen Entwurf bis zum Ende dieses Monats fertigstellen. Zum Jahrestag von Saïeds Coup, am 25. Juli, soll in einem Referendum über die neue Verfassung abgestimmt werden, das die von Saïed handverlesene Nationale Wahlkommission vorbereiten soll. NGOs und die wichtigsten Parteien, unter anderem die islamistische al-Nahda und der Ben-Ali-nostalgische Parti Destourien libre, haben bereits zum Boykott des Referendums aufgerufen. Das Referendum dürfte ausgehen wie das Hornberger Schießen. Was dann passiert, steht in den Sternen.