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Sechs Jahre nach dem britischen Referendum über den EU-Austritt sind kaum Vorteile erkennbar, die dieser gebracht hätte. Trotzdem sieht es nicht so aus, als würde das Vereinigte Königreich bald wieder der EU beitreten. Die größte Oppositionspartei, Labour, schließt dies aus und unterstützt das Austrittsprojekt immer mehr.
»Wenn ein Armeegeneral mitten im Kampf reif genug ist, um seine Strategie zu verfeinern, um den Missionserfolg zu sichern, dann sollte die Regierung das auch tun.« So versuchte der konservative Hinterbänkler Tobias Ellwood kürzlich in einem Artikel für das Parlamentsmagazin The House seine Partei zu einer 180-Grad-Wende zu bewegen. Der ehemalige Armeeangehörige Ellwood argumentierte, dass das Vereinigte Königreich wieder dem EU-Binnenmarkt beitreten sollte; nur so könnten die wirtschaftlichen Probleme des Landes gelöst werden.
Am 23. Juni jährt sich das britische Referendum, in dem eine Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union stimmte, zum sechsten Mal. Nach mehreren Verzögerungen trat das Vereinigte Königreich schließlich am 31. Januar 2020 aus der EU aus, seit dem 1. Januar 2021 ist es nicht mehr Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion. Britische Exporte in die EU sind seither deutlich zurückgegangen, besonders die britische Landwirtschaft und Fischerei leiden unter dieser Entwicklung. Zudem gibt es weiter Streit mit der EU um das sogenannte Nordirland-Protokoll. Premierminister Boris Johnson kündigte zuletzt an, dass er Teile des Abkommens über den Status der inneririschen Grenze – der wichtigsten Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU – einseitig ändern möchte.
Premierminister Boris Johnson kündigte zuletzt an, dass er Teile des Abkommens über den Status der inneririschen Grenze einseitig ändern möchte.
Ellwoods Vorschlag stieß auf eine heftige Gegenreaktion in seiner Partei, die nach wie vor den EU-Austritt zu ihrem Markenkern zählt. Aber bei den Tories herrscht Unruhe an der Basis und die Parteiführung hat weniger Rückhalt als je zuvor. Am 6. Juni hat Johnson ein Misstrauensvotum seiner Unterhausfraktion nur knapp überstanden, mit 211 zu 148 Stimmen. Selbst Theresa May, seine Vorgängerin im Amt und im Parteivorsitz, wurde vor ihrem Rücktritt von einer prozentual größeren Mehrheit der Abgeordneten der eigenen Partei das Vertrauen ausgesprochen.
Johnsons lockere Art und sein jovialer Führungsstil finden seit dem Skandal um Partys, die gegen die Pandemieschutzbestimmungen seiner eigenen Regierung verstießen (Jungle World 19/2022), bei der Bevölkerung nur noch wenig Anklang. Zudem leidet auch Großbritannien unter einer hohen Inflationsrate (im April betrug sie neun Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat) und Heizkosten sind für die meisten Briten und Britinnen schon seit Beginn des Jahres enorm gestiegen, was den Unmut weiter wachsen lässt.
Die Diskussion über den EU-Austritt dominiert die politische Debatte weiterhin. Ökonomen tun sich noch schwer damit, die genauen wirtschaftlichen Auswirkungen des Austritts zu bewerten. Die pessimistischen Kurzzeitprognosen vieler Banken nach dem Referendum im Jahr 2016 erfüllten sich zunächst nicht. Die mittel- und langfristigen Folgen des Austritts sind jedoch schwerer zu beurteilen. Die Covid-19-Pandemie erschwert es, zu beurteilen, wie stark er die britische Wirtschaft geschädigt hat. Neuere Studien wecken jedoch zumindest den Eindruck, dass Großbritannien beim Aufschwung, der in anderen Ländern nach dem Ende der meisten Pandemiemaßnahmen eingesetzt hat, stark hinterherhinkt.
Am Austritt und der Frage nach dem Verhältnis des Landes zur EU scheiden sich die Meinungen in der britische Gesellschaft. Beim Referendum stimmte mit 51,9 Prozent nur eine knappe Mehrheit für den EU-Austritt. Umfragen zufolge ist mittlerweile eine gewisse Skepsis gegenüber dieser Entscheidung eingekehrt. 49 Prozent der Briten und Britinnen sagen nun, dass es falsch war, die EU zu verlassen; nur noch 37 Prozent halten es für die richtige Entscheidung.
Dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass Großbritannien sich wieder um eine Mitgliedschaft in der EU oder dem EU-Binnenmarkt bemüht. Das liegt auch an der Opposition: Labour scheint sich derzeit nicht nur mit dem Austritt abzufinden, es wird auch immer öfter betont, wie wichtig die Entscheidung für das Land gewesen sei. Schon im Februar hatte der Labour-Vorsitzende Keir Starmer beteuert: »Wir haben die EU verlassen und wir kehren nicht zurück. Es gibt keine Gründe, wieder beizutreten.« Labours Slogan lautet jetzt: »Make Brexit Work«. Die Partei wirft den Tories vor, dass sie ihre vollmundigen Versprechen über die Zukunft des Landes nach dem Austritt nicht einhalten können und dass die Regierung nicht weit genug vorausgeplant habe. Labour könne eine bessere Beziehung zur EU garantieren und gleichzeitig mehr von den Austrittsversprechen der Tories einlösen.
Unter anderem hatte die Konservative Partei vor dem Referendum versprochen, dass der britische Finanzsektor von einem Austritt profitieren werde, weil man einschränkende EU-Regularien loswerden könne. In den Worten des konservativen Magazins Spectator sollte London sich in ein »Singapur an der Themse« verwandeln. Davon konnte man in den vergangenen Jahren wenig sehen. Zumindest zum Teil hat Labour diese Idee nun gekapert. Die Schattenwirtschaftsministerin Tulip Siddiq hat kürzlich dargelegt, wie die Reform einiger »zu restriktiver« Regelungen der britischen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen könne. Ein weiteres Versprechen Johnsons war eine Mehrwertsteuerbefreiung für Energie, die, behaupteten die Tories, in der EU nicht möglich gewesen wäre. Dieses Versprechen wurde jetzt aufgrund fehlender Haushaltsmittel von Johnson fallengelassen. Ein weiteres gefundenes Fressen für die Labour-Partei, die die Regierung drängt, diesen »Brexit-Bonus« einzuführen.
Angesichts der wachsenden Skepsis in der britischen Bevölkerung gegenüber dem Austritt scheint die Labour-Strategie überraschend. Starmer geht es jedoch vor allem darum, ehemalige Labour-Wähler und -Wählerinnen zurückzugewinnen. 2019 hatte die Partei in ihren früheren nordenglischen Hochburgen viele Stimmen verloren. Viele Wahlkreise, die Labour jahrzehntelang gewonnen hatte, fielen zum ersten Mal an die Tories. Im vergleichsweise armen Norden hatte 2016 auch ein Großteil der Wähler und Wählerinnen für den Austritt gestimmt. In den Augen Starmers hatte Labour unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn diese von ihm als sozialkonservativ charakterisierten Wählergruppen aus den Augen verloren. Deshalb stellt sich Labour nun als »wahre Partei des britischen Patriotismus« dar. Ob diese Strategie aufgeht, wird sich zeigen müssen. Johnson scheint auf jeden Fall das Vertrauen vieler Wähler verloren zu haben – beim diesjährigen Thronjubiläum von Königin Elisabeth II. wurde er ausgebuht.