Die Debatte über »Westsplaining« ­verflacht zu Identitätspolitik

Identitätspolitik-Ost

Disko Von Peter Korig

Die Debatte über das »Westsplaining« driftet ins Identitätspolitische ab. Diese Oberflächlichkeit ist Ausdruck der Irrelevanz und Macht­losigkeit von Linken in Ost- wie Westeuropa.

Wer mit älteren ostdeutschen Linksradikalen über die frühen neunziger Jahre spricht, bekommt neben Erzählungen von einer Zeit unglaublicher Freiheiten und harter physischer Auseinander­setzungen oft auch Anekdoten über die westdeutschen Genossinnen und Genossen zu hören. Diese hatten sich bis 1990 bestenfalls nicht für die Verhältnisse in der DDR und den anderen realsozialistischen Staaten interessiert oder, schlimmer noch, eine idealisierte Vorstellung von diesen gepflegt. Der Zusammenbruch des Realsozialismus und der Anschluss des Territoriums der DDR an die Bundesrepublik waren für die meisten kein Grund, von dieser Haltung abzurücken.

Ostdeutschen Linken hielten sie gerne Vorträge darüber, was nun eigentlich los sei und wie soe politisch zu agieren hätten – eine Attitüde, die bis heute nicht gänzlich verschwunden ist. Das Desinteresse und die Unkenntnis der sozialen und politischen Verhältnisse vor Ort ist, wenn es um die einst realsozialistischen Gesellschaften östlich der Oder geht, noch ausgeprägter. Mit ihrem paradigmatisch gewordenen Text »Fuck leftist westplaining« gab die aus Polen stammende Anarchistin Zosia Brom diesem Verhalten einen prägnanten Namen.

Der Internationalismus der westlichen Linken ist weithin Ausdruck ihrer Schwäche.

Dass ein bestimmtes Phänomen auf den Begriff gebracht worden sei, könnte man mit dem Ausruf »endlich!« begrüßen. Doch bei genauerer Betrachtung der Diskussion über das »Westsplaining« erstirbt dieser Impuls. Denn hierzulande besteht sie größtenteils darin, dass osteuropäische Autoren und Autorinnen westlichen Linken vor­werfen: »Ihr habt uns nicht zugehört«, während Letztere den Vorwurf ent­weder ignorieren oder ihre Ignoranz schuldbewusst eingestehen. Die De­batte verbleibt dabei auf dem fruchtlosen Niveau identitätspolitischer Twitter-Schlachten.

Die nur allzu berechtigte Kritik an der westlichen Mischung aus Ignoranz und Arroganz verkommt zur Ideologie, wo sie nicht durch historische Analysen und theoretische Reflexionen unterfüttert wird. Das deutet sich schon in Broms Text an, wenn sie über die Nato-Osterweitung schreibt: »Wir sehen die Nato ganz anders.« Wo die westliche Linke von einer aggressiven Expan­sion der Nato spreche, so Brom, sei es Osteuropäern darum gegangen, mit dem Nato-Beitritt unabhängig von Russland »das zu tun, was wir tun wollten«.

Doch die Behauptung der Existenz eines kollektiven osteuropäischen »Wir«, das sich in den vergangenen Jahrzehnten ungebrochen nach dem Schutz durch die Nato gesehnt habe, ist zumindest problematisch. Erinnert sei beispielsweise daran, dass es 2002, auf dem Höhepunkt der Nato-Osterwei­terung, tschechische und slowakische Anarchistinnen und Anarchisten waren, die zu internationalen Protesten gegen den damals in Prag und damit zum ersten Mal in der Hauptstadt eines ehemals realsozialistischen Landes stattfindenden Nato-Gipfel aufriefen.

Hier wird ansatzweise auch ein grundlegendes Problem der Diskussion erkennbar: Es ist völlig unklar, wer mit wem auf welcher Basis worüber diskutiert. Denn unter dem Begriff der »Linken« versammeln sich politisch sehr unterschiedliche Individuen, Gruppierungen und Organisationen. Diese lassen sich grob drei Hauptströmungen zuordnen. Da sind einmal die Reste der alten Arbeiterbewegung, wie sie sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert herausgebildet hat, Sozialisten, Kommunistinnen, Anarchisten und Gewerkschafterinnen. Dann die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Sozialstaaten des Westens entstandene, oft (sub)kulturell geprägte Neue Linke. Und schließlich liberale Milieus, die sich ­gegen Diskriminierungen anhand von Gender, sexueller Identität und Herkunft richten.

Aufgrund ökonomischer und politischer Veränderungen in den Gesellschaften westlicher Staaten haben die ersten beiden Strömungen in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung verloren, was im Zusammenbruch so­zialdemokratischer und kommunistischer Parteien, dem Bedeutungs­verlust von Gewerkschaften, aber auch dem Verschwinden subkultureller Bewegungen zum Ausdruck kommt. Diese Entwicklung ist für das hier verhandelte Thema relevant. Denn der Internationalismus der westlichen Linken ist weithin Ausdruck ihrer Schwäche. Sei es in Form eines Antiimperialismus, der staatliche Gegenspieler des Westens hofiert, sei es in Form der ­Begeisterung für soziale Bewegungen zum Beispiel in Lateinamerika oder dem Nahen Osten, für die sich die westliche Linke oft im Detail interessiert. Das Interesse schützt vor projektiver Aufladung nicht – ganz im Gegenteil. In beiden Fällen wird der Wunsch nach gesellschaftlicher und historischer Wirkungsmacht, die man selbst nicht mehr hat, auf Staaten und Bewegungen andernorts projiziert.

Und hier liegt auch ein wichtiger Grund für das Desinteresse westlicher Linker an den Entwicklungen in Ost­europa: In den vergangenen 30 Jahren hat sich diese Region nicht als Gegend erwiesen, in die man die Hoffnung auf Revolution, Fortschritt oder wenigstens weitreichende emanzipatorische Reformen hätte auslagern können. Denn die Lage der Linken in weiten Teilen Osteuropas ist noch katastrophaler als im Westen. Linke Strömungen sind hier durchgehend marginal und oft bar jeden gesellschaftlichen Einflusses.

Westliche Linke erklären sich das oft damit, dass durch die realsozialistischen Diktaturen linke Ideen weithin diskreditiert seien. Dass dies als alleinige Erklärung nicht trägt, wird offensichtlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass es in allen ehemals realsozialistischen Gesellschaften Teile der Bevölkerung gibt, in denen ein nostalgisches Erinnern an die Vergangenheit verbreitet ist, an verlorenen Wohlstand und Sicherheit. Dieses Gefühl wird heute, nicht nur in Russland, zumeist durch rechte Parteien und autoritäre Herrscher bedient und instrumentalisiert.

Gleichzeitig ist diese schwache Linke mit gesellschaftlichen Krisen konfrontiert, die weit härter sind als in vielen Regionen des Westens und bei denen die Kriege um Bergkarabach 2020 und seit Februar in der Ukraine nur die jüngsten Höhepunkte markieren. Wie sich im Gespräch mit Renata Kaminska zeigt, kompensieren zumindest Teile der liberalen osteuropäischen Linken die fehlende Hoffnung darauf, die Ursachen dieser Krisen durch soziale Bewegungen zu beseitigen, mit der positiven Bezugnahme auf die Kategorien nationaler Identität.

Die im Angesicht des Krieges sich nicht zum ersten Mal, aber mit unerwarteter Eindringlichkeit zeigende Bedeutungslosigkeit der Linken – in Ost- wie in Westeuropa – verleiht der Debatte ihren eigenartigen Charakter. Hätte die von Kyrylo Tkachenko und Kaminska scharf kritisierte Partei »Die Linke« auf ihren Parteitagen in Bezug auf Russland, die Ukraine oder die Nato in den vergangenen 20 Jahren irgendetwas anderes beschlossen, wäre das für die jetzige Situation genauso bedeutungslos wie die geltende Beschlusslage. Dabei sind sich ukrainische beziehungsweise osteuropäische und deutsche beziehungsweise westeuropäische Linke in dieser Situation weit näher als der etwas einseitige derzeitige Schlagabtausch auf den ersten Blick vermuten lässt. Beide haben keine Antwort darauf, wozu eine Linke, die weder als revolutionäre noch radikalreformerische Kraft wirkmächtig ist und die kaum gesellschaft­lichen Rückhalt hat, noch da sein soll.

Vor allem hat die Linke, hier wie dort, meistenteils nur ansatzweise ein Verständnis der globalen gesellschaftlichen Krise und der sozialen Bewegungen entwickelt, die auf diese Krise reagieren und die in den Regionen des fort­geschrittensten Gesellschaftszerfalls zumeist reaktionäre Bewegungen sind. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, wie oberflächlich politische Phänomene bewertet werden. Zum Beispiel an der Diskussion über die Rolle der radikalen Rechten in der Ukraine, die die eine Seite mit Blick auf die Tattoos der Asow-Kämpfer hervorhebt und die ­andere mit Verweis auf die jüdische Familiengeschichte des Präsidenten negiert. Statt die Ethnisierung des Sozialen als ideologischen Ausdruck gesellschaftlicher Zerfalls- und Neuformierungsprozesse zu analysieren, wird für eine der Seiten Partei ergriffen. Aber erst die Auseinandersetzungen mit diesen historischen, sozialen und ideologischen Prozessen würde auf der ­Basis der Entwicklung von Kategorien, Begriffen und Analysen eine gegen­seitige Kritik der westlichen und osteuropäischen Linken ermöglichen, die diesen Namen verdient.