Ein Gespräch mit Alirio Uribe Muñoz, kolumbianischer Anwalt und Abgeordneter, über die Herausforderungen einer linken Regierung:

»Der Reformbedarf ist immens«

Interview Von Knut Henkel

Am 19. Juni entscheidet sich in der Stichwahl, ob Gustavo Petro vom linken Bündnis Bündnis Pacto Histórico Präsident Kolumbiens wird und die Herrschaft der Rechtskonservativen endet. Der Menschenrechtsanwalt Muñoz spricht über Sozialprogramme, den Friedensprozess mit den Guerillagruppen und den Kampf gegen die Korruption.

Gustavo Petro ist als Kandidat des Pacto Histórico in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Kolumbien am 29. Mai mit über 40 Prozent der Stimmen auf den ersten Platz gekommen, für die angestrebte absolute Mehrheit hat es allerdings nicht gereicht. Wie bewerten Sie das Ergebnis?

Wir haben gewonnen und unsere Stimmanzahl von 5,5 Millionen bei den Parlamentswahlen vom 13. März (2,8 Millionen Stimmen bei den Wahlen zum Senat und 2,7 Millionen bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus, Anm. d. Red.) auf 8,5 Millionen im ­ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl gesteigert. Das ist ein Erfolg, auch wenn uns etwa zwei Millionen Stimmen für ein Sieg im zweiten Wahlgang am 19. Juni fehlen. Das ist die zentrale Herausforderung.

In der für den 19. Juni geplanten Stichwahl wird Petro Rodolfo Hernández gegenüberstehen, einem unabhängigen Überraschungs­kandidaten. Ist ein Strategiewechsel nötig?

Ja, wir haben unser Ziel verfehlt und das müssen wir verdauen, aber unsere Kampagne läuft mit der gleichen ­Energie weiter. Wir haben es nicht geschafft, alle unsere potentiellen Wäh­lerinnen und Wähler zu mobilisieren. Zu viele dachten, dass der Sieg sicher sei, und nun müssen wir uns neu ­orientieren.

Der Pacto Histórico hat ein dezi­diertes Wahlprogramm, will das Friedensabkommen mit der Guerilla Farc reaktivieren, Verhandlungen mit der Guerilla ELN führen, das Land endlich befrieden und soziale Programme initiieren. Rodolfo Hernández scheint hingegen allein auf das Thema der Korruptions­bekämpfung zu bauen. Ist das so?

Ja, für die Korruption macht er die konservative Führungsschicht verantwortlich. Paradox ist, dass gegen Hernández ein Korruptionsverfahren wegen des Missbrauchs öffentlicher Mittel in seiner Amtszeit als Bürgermeister der Stadt Bucaramanga läuft. Darauf müssen wir in unserem Wahlkampf hin­weisen, denn Hernández wird als Kandidat des Wandels, der Abkehr von den konservativen Führungsschicht wahrgenommen.

»Wir müssen Rodolfo Hernández demaskieren, klarmachen, dass ein Korrupter vorgibt, gegen die Korruption vorzugehen.«

Die Wählerinnen und Wähler haben Ihrer Meinung nach für einen politischen Wandel gestimmt, aber auf das falsche Pferd gesetzt?
In etwa. Fakt ist, dass 73 Prozent der Stimmen auf Petro, Hernández und den Kandidaten des Mitte-links-­Bündnisses Centro Esperanza (Zen­trum Hoffnung), Sergio Fajardo, ent­fallen sind. Die konservative Führungsschicht, der Uribismo (benannt nach dem rechtskonservativen ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez, 2002–2010, Anm. d. Red.) und die derzeitige Regierung von Präsident Iván Duque haben eine deutliche Abfuhr erhalten.

Der Kandidat des rechten Bündnisses Equipo por Colombia (Team für Kolumbien), Federico Gutiérrez, der Uribe Vélez nahesteht, hat noch in der Wahlnacht die Wählerinnen und Wähler der konservativen Parteien dazu aufgerufen, für Hernández zu stimmen. Könnte das zu einer Mehrheit für ihn führen?

Ja, aber die Wählerinnen und Wähler, die für Gutiérrez und den Uribismo stimmten, werden nicht automatisch für Hernández stimmen. Wir müssen Hernández demaskieren, klarmachen, dass ein Korrupter vorgibt, gegen die Korruption vorzugehen. Wir hoffen, dass etwa eine Million Konservative nicht automatisch für ihn stimmen werden und dass wir eine weitere Million Wählerinnen und Wähler davon überzeugen können, dass er kein wirklicher Kandidat für den Wandel ist. ­Zudem gehen wir von 500 000 Stimmen für Petro und unsere Vizeprä­sidentschaftskandidatin Francia Márquez aus, die von Menschen kommen, die in der ersten Runde für Fajardo vom ­Centro Esperanza gestimmt ­haben. Das würde für einen echten Wandel ­reichen.

Hilft es, dass Hernández bisher ­nicht klar dargelegt hat, wie er das Land befrieden will?

Hernández hat sich vor wenigen Tagen zu Verhandlungen mit der Guerilla ELN bekannt. Dabei soll es jedoch nicht um ein individuelles Abkommen mit dem ELN gehen, sondern dieser soll das Abkommen zusammen mit der Guerilla Farc unterzeichnen. Dass das klappen kann, bezweifle ich. Dazu muss man wissen, dass die Tochter von Hernández laut der Familie vom ELN entführt und ermordet wurde. Vielleicht sind deshalb separate Verhandlungen nicht erwünscht, aber dazu gibt es keine de­taillierten Aussagen von Hernández. Belegt sind hingegen sein patriar­chales Auftreten und ein Hang zum Autoritären durch Aussagen und ­Dokumente aus seiner Amtszeit in Bucaramanga.

Hernández ist erfolgreicher Ingenieur, Unternehmer und Millionär, der in Kolumbien immer wieder mit Donald Trump oder dem früheren peruanischen Autokraten Alberto Fujimori verglichen wird. Sind die Vergleiche berechtigt?

Der Hang zum Autoritären und das Insistieren auf ein zentrales Thema deuten in diese Richtung, aber wesentlich für unseren Wahlkampf muss sein, dass Petro und Márquez Antworten für alle grundlegenden Probleme dieses Landes haben. Das neue Ministerium für Gleichstellung und Gleichberechtigung, das Márquez im Falle eines Wahlsiegs leiten wird, ist dafür ein Beispiel. Wir bauen auf soziale In­klusion, nicht auf Exklusion wie die konservativen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte. Wir wollen auch auf die Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft reagieren, die mit der globalen Nahrungsmittelkrise noch sichtbarer werden: Mehr Lebensmittel im Land produzieren, statt sie zu importieren, den Kleinbauern neue Optionen aufzeigen und in den ländlichen Regionen endlich die Infrastruktur verbessern.
Diese Verpflichtung steht auch im Friedensabkommen mit den Farc.

Genau, ihr wurde aber nicht nachgekommen. Das ist einer der Gründe, weshalb der bewaffnete Konflikt in einige Regionen zurückgekehrt ist und die Koka-Anbauflächen wachsen statt zu schrumpfen. Das belegt die Auswertung der Satellitenaufnahmen durch die Vereinten Nationen.

Was soll in den ersten 100 Tagen ­unter einer Regierung des Pacto Histórico geschehen?

Klar ist, dass es in den ersten 100 Tagen soziale Reformen geben soll: Nahrungsmittelhilfe, Verbesserung der Trinkwasserversorgung, aber auch Bildungsinitiativen. Hinzu kommen ­erste Initiativen zur Bekämpfung der Korruption und die Wiederbelebung der Umsetzung des Friedensabkommens mit den Farc. Vier, fünf richtungsweisende Initiativen, die dafür sorgen, dass die Leute spüren, dass die Regierung anders tickt als die vorherigen, dass sie für die Bevölkerung agiert.

Welche Bedeutung haben strukturelle Reformen? Zum Beispiel in der Justiz, deren Unabhängigkeit Francisco Barbosa, ein Generalstaatsanwalt und enger Freund von Präsident Duque, regelmäßig in Frage stellt. Arbeiten Sie als Jurist in einer Kommission innerhalb Ihrer Partei an neuen Konzepten?

Ja, ich studiere gerade Unterlagen dazu und werde in einer Parlamentskommission mitarbeiten. Das sind jedoch Reformen, die Zeit brauchen, zumal der jetzige Generalstaatsanwalt Barbosa noch etwa zwei Jahre im Amt bleiben wird und es wahrscheinlich ist, dass er Initiativen blockieren wird. Auch ­andere Reformen, wie die der Polizei und der Armee, sind erst langfristig möglich – ich denke, dass wir uns als Pacto Histórico für mehrere Legisla­turperioden bewerben. Der Reformbedarf ist immens.

 

Alirio Uribe Muñoz

Alirio Uribe Muñoz ist Menschenrechtsanwalt und langjähriger Leiter des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo (Cajar). Seit den kolumbianischen Parlamentswahlen vom 13. März sitzt er als Abgeordneter im Repräsentantenhaus für das linke Bündnis Pacto ­His­tórico (Historischer Pakt). Er gehört auch zum Wahlkampfteam von dessen Präsidentschaftskandidat Gustavo ­Petro und Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez.