Weltweit setzt sich ein autoritärer Kapitalismus durch, der auf politische Rechte verzichtet

Vertraue niemandem

Weltweit hat sich der Kapitalismus durchgesetzt. Doch der kann auch gut ohne politische Freiheiten und demokratische Rechte funktionieren. Denn wer Macht hat, kann aus Lügen Fakten machen.

Es ist noch nicht lange her, da schien die Zeit für Diktatoren abzulaufen. Mit dem Ende des Realsozialismus und der sich beschleunigenden wirtschaftlichen Globalisierung zerfielen vielerorts autoritäre Regime und Regierungen. Anlass zu diesbezüglichen Hoffnungen gaben vor allem Schwellenländer wie Brasilien, Russland oder China, aber auch die Türkei und Südafrika. Die Integration in den Weltmarkt und die hohe Nachfrage nach Rohstoffen erzeugten zu Beginn des Jahrhunderts einen Boom, der sich unweigerlich auf die politischen Systeme auswirken musste. »Wandel durch Handel« lautete eine beliebte Losung.

Zwei Dekaden später hat sich zwar der Kapitalismus fast weltweit durchgesetzt. Doch seit der Finanzkrise von 2007/2008 gerieten viele Länder in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, die mit sozialen Verwerfungen einhergingen. Seither haben sich neue despotische Regierungen etabliert, befinden sich faschistische Bewegungen im Aufwind. Noch immer werden Minderheiten und Oppositionelle verfolgt, diffamiert und ermordet. Offensichtlich kann ein kapitalistisches System auf demokratische Rechte verzichten und auch ohne politische Freiheiten gut funktionieren.

Im vergangenen Jahr stammten 45 Prozent der Gasversorgung der EU aus Russland. Vor allem Deutschland war mit einem Anteil von 55 Prozent in hohem Maß von russischen Gaslieferungen abhängig.

Dass bereits überwundene Diktaturen auch die heutigen Gesellschaften weiter prägen, zeigt sich besonders in Brasilien. Die gleichen Polizeieinheiten, die während der Militärdiktatur (1964–1985) linke Oppositionelle jagten und folterten, zogen nach dem Ende der Diktatur in einen regelrechten Krieg gegen Kleinkriminelle und die Bewohner in den Elendssiedlungen. Tatsächlich nahm die Gewalt zu, nachdem sich die Generäle aus der Politik zurückgezogen hatten. Manche Polizeioffiziere rühmten sich, über sechzig Personen erschossen zu haben. Städte wie Rio de Janeiro stuft die Uno auf einem Gewaltindex wie Kriegsgebiete ein.

Besonders eifrig hat die Streitkräfte und die Polizei Jair Bolsonaro unterstützt, der noch unter der Militärherrschaft eine Offizierslaufbahn beendet hatte und 2018 überraschend zum P­räsidenten gewählt wurde. Seinen ­Erfolg verdankt er mutmaßlich unter anderem einer Fake-News-Kampagne: Unternehmer, die Bolsonaro unterstützen, sollen Digitalmarketing-Agenturen damit beauftragt haben, massenhafte Falschnachrichten in Whatsapp-Gruppen zu verbreiten. Der Messaging-Dienst ist mit über 120 Millionen ­Nutzerinnen und Nutzer in Brasilien weitverbreitet.

Bolsonaro konnte sich bei seinem Wahlsieg auf jene gesellschaftlichen Gruppen verlassen, die von den liberalisierten Märkten profitierten, sich aber zugleich vor sozialen Unruhen fürchteten. Sie unterstützten Bolsonaro und erhielten dafür exklusiven Zugang zu staatlichen Aufträgen; Gesetze und Vorschriften wurden in ihrem Sinne geändert. Arbeiterrechte wurden hingegen beschnitten, Sozialleistungen gekürzt, ökologische Verordnungen aufgehoben. Diese Klientelherrschaft erweist sich im entfesselten Kapitalismus als adäquate Regierungsform.

Als Feindbilder dienen nun Minderheiten, sei es wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft oder einem von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Glauben. Und wer es wagt, die informellen Netzwerke zwischen Politik und organisiertem Verbrechen aufzudecken, muss mit dem Schlimmsten rechnen.

Die Stadtverordnete Marielle Franco etwa, eine linke Aktivistin und Stadträtin aus Rio de Janeiro, wurde im März 2018 mit ihrem Fahrer von einem Killerkommando auf offener Straße ermordet. Sie hatte die Polizeigewalt in den Favelas angeprangert und die Verbindungen zwischen Politikern und paramilitärischen Milizen kritisiert. Vier Jahre nach dem Mord sind die Auftraggeber immer noch nicht ermittelt. Bekannt ist, dass sie aus dem Milieu krimineller Milizen stammten, mit denen ein Sohn Bolsonaros verbunden war.

Eine ähnlich autoritäre Herrschaft setzte sich auch in Indien durch. Dort kombiniert der seit 2014 amtierende Premierminister Narendra Modi erfolgreich eine wirtschaftsliberale Modernisierungsstrategie mit hindunationalistischer Propaganda. Das Versprechen dynamischen Fortschritts machte ihn sowohl bei der Mittelschicht als auch bei Armen populär. Vor allem die RSS, eine Vorfeldorganisation von Modis Partei BJP, propagiert Indiens Größe und Einmaligkeit. Ihr gelten nur Hindus als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Konzepte wie Gleichheit und Liberalität finden darin keinen Platz.

Wer dagegen opponiert, lebt gefährlich. »Hasskampagnen gegen Medienschaffende bis hin zu Aufruf zum Mord sind in sozialen Netzwerken alltäglich und werden von Trollarmeen aus dem Umfeld der hindunationalistischen Regierung befeuert«, heißt es in einem aktuellen Bericht von Reporter ohne Grenzen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit rangiert Indien auf Platz 150 – von 180 Ländern. Immer wieder kommt es zu Übergriffen und Morden an Journalisten, die in Regel nicht aufgeklärt werden.

Im vergangenen April wurden mindestens fünf Journalisten angegriffen, die über eine von hindunationalistischen Gruppen organisierte Veranstaltung in Delhi berichteten. Anstatt die Täter zu verfolgen, leitete die Polizei in Delhi eine strafrechtliche Untersuchung gegen einen der Journalisten ein, dem sie vorwarf, mit einem Tweet zum Hass aufgestachelt zu haben. Er hatte behauptet, Teilnehmer der Veranstaltung hätten ihn und einen Fotojournalisten attackiert, weil sie Muslime seien.

Weit fortgeschritten ist die Regierung in Russland bei ihrem Versuch, die Gesellschaft gleichzuschalten. Dort gelang es Präsident Wladimir Putin, die Profiteure der Liberalisierung in den neunziger Jahren an sich zu binden. Wer sich unterordnete, wurde belohnt. Rund 1,3 Billionen US-Dollar sollen reiche Russen seit dem Ende der Sowjetunion außer Landes geschafft haben – genauso viel wie der Rest der Bevölkerung besitzt. Wer sich jedoch Putins Ansprüchen entzog, musste ­fliehen oder wurde umgebracht.

Exemplarisch steht dafür Putins Pakt mit Ramsan Kadyrow, dem Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Kadyrow fungiert seit dem zweiten Tschetschenien-Krieg (1999–2009) als Statthalter Putins und sorgt dafür, dass dort keine Opposition mehr existiert. Für seine Loyalität erhält er wiederum freie Hand und kann mit einer schier unbegrenzten Machtfülle regieren. Wer Kadyrows quasifeudale Herrschaft kritisiert, riskiert Gefangenschaft, Folter und Tod. Seine Regierung orchestriert Massenverhaftungen, außergerichtliche Tötungen und Verschleppungen und foltert Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung.

Zu den Opfern gehört die Journalistin Natalja Estemirowa, die 2009 vor der Tür ihres Wohnhauses in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt und wenige Stunden später erschossen aufgefunden wurde. Sie hatte jahrelang schwere Verbrechen in der Kaukasusrepublik angeprangert. Bereits drei Jahre zuvor war ihre Freundin Anna Politkowskaja ermordet worden, die die Regierung Kadyrow regelmäßig kritisiert hatte. Die Verbrechen wurden nie vollständig aufgeklärt und dienten als Blaupause für zahlreiche weitere Anschläge und Morde an Kritikern der russischen Regierung, die bis heute weit über die Landesgrenzen hinaus verfolgt werden.

Seit dem Angriff auf die Ukraine hat das russische Regime die letzte Zurückhaltung aufgegeben. Die letzten oppositionellen Medien wurden geschlossen oder sind längst aus dem Land geflohen. Allein in den vergangenen beiden Monaten wurden nach Informationen der russischen Bürgerrechtsorganisation OWD-Info über 16.000 Menschen verhaftet, die in irgendeiner Weise gegen den Krieg protestiert hatten. Wer Bilder von Butscha oder Mariupol postet oder Fotos und Videos westlicher Medien teilt, riskiert bis zu 15 Jahre Haft. Unterdessen legitimiert die russische Regierung den Krieg mit einer beispiellosen Fake-News-Kampagne auf Social Media.

Mit brachialen Mitteln geht auch die chinesische Regierung gegen jede Form von Opposition vor und durchdringt dabei die ganze Gesellschaft. Fast kurios mutetet die restriktive Regelung an, die bei Online-Videospielen seit vergangenem Herbst für Minderjährige gilt. Unter anderem dürfen diese nur noch drei Stunden wöchentlich online spielen, denn die Spiele würden »westliche Dekadenz« fördern. Drakonisch geht die Regierung in Peking gegen jene vor, die politische Entscheidungen kritisieren. Man denke an die Zerschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong oder die beispiellosen Maßnahmen gegen die uigurische Bevölkerung in der Provinz Xinjiang.

Weltweit bekannt wurde der Fall des Arztes Li Wenliang aus Wuhan. Er warnte als einer der ersten die Öffentlichkeit vor Sars-CoV-2. Die Polizei brachte ihn zum Schweigen und nannte ihn einen »Gerüchteverbreiter«. Wenig später erkrankte Li selbst an der Lungenkrankheit, an der er im Alter von 33 Jahren verstarb.

Die deutlich zunehmende Repression unter Präsident Xi Jinping, der für sein Amt 2018 die Begrenzung der Anzahl der Amtszeiten aufheben ließ, geht mit sozialen Umwälzungen einher. Die wirtschaftliche Liberalisierung seit dem späten 20. Jahrhundert befreite zwar Hunderte von Millionen Menschen aus der absoluten Armut, sie schuf aber zugleich eine neue Elite, die sich auch mittels Korruption bereicherte. Heutzutage ist die soziale Ungleichheit in China enorm, die Ungleichheit der Einkommen ist (gemessen am Gini-Koeffizienten) Schätzungen zufolge inzwischen sogar größer als in den USA.

Bislang galt der unausgesprochene Pakt, dass sich die Bevölkerung konform verhalte, die politische Führung im Gegenzug dafür Wohlstand und wirtschaftlichen Aufschwung garantiere. Vieles deutet darauf hin, dass die Regierung sich daran immer weniger gebunden fühlt. Was an dessen Stelle tritt, ist totale Kontrolle. Ein Beispiel dafür ist die Null-Covid-Strategie, an der unbeirrt festgehalten wird, obwohl sie unter der Omikron-Variante kaum erfolgreich sein kann. Aber Präsident Xi Jinping hat sie für richtig erklärt, also kann sie nicht falsch sein und muss mit noch härteren Mitteln durchgesetzt werden.

So unterschiedlich Staaten und Regionen auch sein mögen, so sehr gleichen sich doch die Methoden, mit denen sich autoritäre Regime an der Macht halten. Dieser Befund wird dadurch nicht besser, dass er auch für demokratische Staaten gilt. Einer aktuellen Umfrage zufolge sind rund ein Viertel der US-Wähler überzeugt, dass der ehemalige Präsident Donald Trump nur durch Betrug abgewählt worden sei. Unter den republikanischen Wählern glaubt dies sogar eine Mehrheit – obwohl es keinerlei Indizien oder Beweise dafür gibt.

»Es ist die Folge einer Desinformation industriellen Ausmaßes«, erklärte die philippinische Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Marie Ressa kürzlich den Wahlsieg von Ferdinand Marcos Junior, dem Sohn des früheren Diktators Ferdinand Marcos. »Wenn Lügen zu ›Fakten‹ gemacht werden, haben Fakten keine Chance. Aber wenn Sie keine Fakten haben, dann kennen Sie die Wahrheit nicht. Dann können Sie niemandem vertrauen. Am Ende gibt es keine gemeinsame Realität mehr.«