Der Video­assistent beeinflusst die Wahrheitsfindung im Fußball erheblich

Tatsachen aus dem Keller

Was der Schiedsrichter entscheidet, wird zur unanfechtbaren Tatsache, also zur Wahrheit auf dem Platz. Daran hat auch die Einführung des Videoassistenten im Profifußball nichts geändert.

Von Adi Preißler, der in den 1950er Jahren mehr als 200 Spiele für Borussia Dortmund absolvierte und mit dem Club zweimal Deutscher Meister wurde, ist der schöne Satz überliefert: »Grau is’ im Leben alle Theorie – aber entscheidend is’ aufm Platz.« Manche glauben sich zu erinnern, dass Preißler »die Wahrheit« statt »entscheidend« gesagt habe; auch dem Fußballtrainer Otto Rehhagel wird dieses Zitat gelegentlich zugeschrieben. Gemeint ist jedenfalls, dass sich ausgeklügelte taktische Überlegungen immer noch in der Praxis beweisen müssen, ansonsten sind sie nutzlos.

Zur Wahrheit auf dem Feld trägt aber auch der Schiedsrichter bei, der »die uneingeschränkte Befugnis hat, die Spielregeln beim Spiel durchzusetzen«. Seine Entscheidungen »zu Tatsachen im Zusammenhang mit dem Spiel sind endgültig«. So kategorisch steht es im Regelwerk des Fußballs. Das bedeutet: Was eine Tatsache ist, stellt und legt der Unparteiische fest, und zwar »nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Spielregeln und des Fußballs«, wie es in den Regeln weiter heißt. Letztlich gilt das Preißler’sche Diktum also auch für die Schiedsrichter: Ob ein Tor korrekt erzielt wurde, ob es sich um ein Foul oder einen fairen Einsatz handelt, ob ein Handspiel strafbar ist, ob eine Regelübertretung mit der Gelben oder Roten Karte geahndet werden muss – all das entscheidet er  in der Praxis auf der Grundlage des Regelwerks.

Aus gutem Grund hat man den anfänglich verwendeten Begriff »Videobeweis« bald zu den Akten gelegt. Denn die Bilder liefern eben nicht immer klare Beweise.

Wenn also von »Tatsachenentscheidungen« die Rede ist, heißt das: Was immer der Unparteiische beschließt und durchsetzt, ist grundsätzlich nicht im Nachhinein anfechtbar, es ist die Wahrheit auf dem Platz – selbst wenn er sich nachweislich geirrt hat. Daran hat sich auch durch die Einführung des »Video Assistant Referee« (VAR) nichts geändert, den es seit der Saison 2017/18 in der Bundesliga gibt. Formal ist er, wie sein Name schon sagt, ein Assistent des Schiedsrichters wie auch die beiden Helfer an den Seitenlinien und der Vierte Offizielle. Wie diese kann er dem Schiedsrichter nur Empfehlungen geben, aber nicht selbst entscheiden. Dieser hat weiterhin stets das letzte Wort auf dem Feld. Folgt er einem Rat des VAR, dann macht er dessen Einschätzung zu seiner eigenen.

Dennoch beeinflussen die Video­assistenten die Wahrheitsfindung stärker, als es diese formale Rolle vermuten lassen könnte. Denn faktisch sind sie mehr als nur Helfer des Schiedsrichters. Ihre Aufgabe ist es, bei bestimmten besonders wichtigen Entscheidungen – Tor, Elfmeter, Rote Karte, Spielerverwechslung bei persönlichen Strafen – einzugreifen, wenn der Schiedsrichter entweder eindeutig und offensichtlich falsch liegt oder einen gravierenden Vorfall übersehen hat. Der VAR soll also verhindern, dass ein womöglich spielentscheidender Fehler des Unparteiischen bestehen bleibt. Er fungiert, wie Jochen Drees, der Projektleiter des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) für die Videoassistenten, es einmal formuliert hat, gewissermaßen als »Airbag« für den Spielleiter auf dem Feld.

Das klingt nach einer klar umrissenen Aufgabe. Nüchtern betrachtet leistet der VAR tatsächlich, was er leisten soll: Er hilft seit seiner Einführung jede Saison dabei, an die ­jeweils hundert spielrelevante Fehlentscheidungen zu korrigieren. Abseitstore werden annulliert, zu Unrecht aberkannte Tore doch noch für gültig erklärt, fehlende Strafstöße gegeben, fälschlich gegebene Elfmeter zurückgenommen und Feldverweise verhängt, die der Schiedsrichter zunächst nicht ausgesprochen hat. Die Proficlubs wollten den Videoassistenten, weil sie als (Fußball-)Konzerne an einer Risikominimierung interessiert sind und falsche Entscheidungen der Schiedsrichter zu diesen Risiken gehören.

Bei vielen Fans dagegen ist der VAR äußerst unbeliebt. Erzielt der Lieblingsverein ein Tor, dann steht der ­Jubel unter Vorbehalt – schließlich kann es sein, dass der Videoassistent bei der Überprüfung einen ungeahndeten Verstoß des Teams entdeckt, das den Treffer erzielt hat, und der Schiedsrichter das Tor daraufhin annulliert. Dass nur in kurzen Satzbausteinen auf der Anzeigetafel bekanntgegeben wird, was der Anlass der Überprüfung durch den VAR und der Grund für die Änderung einer Entscheidung ist, empfinden ebenfalls viele als großes Manko. Und schließlich gibt es immer wieder Diskussionen darüber, warum der Videoassistent hier eingreift und dort nicht, obwohl der Schiedsrichter sich da doch ebenfalls ganz unzweifelhaft und eindeutig geirrt hat.

Die Implementation des VAR hat die Debatten über die Entscheidungen der Schiedsrichter nicht zum Erliegen gebracht, sondern vielmehr verlagert: Diskutiert wird nun weniger über den Spielleiter auf dem Rasen und dafür umso mehr über den »Kölner Keller«, wie das Video Assist Center oft etwas spöttisch genannt wird. Diese Veränderung hängt wesentlich damit zusammen, dass man dem Unparteiischen, der auf dem Feld in Sekundenbruchteilen aus nur einer Perspektive und ohne technische Hilfsmittel entscheiden muss, einen Fehler eher zubilligt als dem Videoassistenten, dem eine Vielzahl von Kameraeinstellungen zur Verfügung steht und der mehr Zeit hat, bei der Überprüfung einer Entscheidung zu einem Urteil zu gelangen. Hinzu kommt die verbreitete Meinung, dass die Fernsehbilder objektiv seien und Tatsachen zeigten; dass sie also die Wahrheit ans Tageslicht beförderten – und dass es auch nur eine Wahrheit gebe, die der VAR dann nur noch dem Unparteiischen übermitteln müsse.

Doch genau das ist ein Trugschluss. Gewiss, bei simplen Fragen wie der, ob sich ein Spieler im Abseits befunden oder der Ball eine ­Linie vollständig überschritten hat, gibt es im Normalfall nur eine wahre Antwort. In solchen Situationen können die Videobilder tatsächlich ein objektives Ergebnis liefern. Doch ob ein Spieler gefoult wurde und ob ein Handspiel strafbar ist, ist häufig eine Frage des Ermessens. Das Regelwerk des Fußballs lässt den Schiedsrichtern in diesen Situationen einige Spielräume bei der Regelauslegung und damit bei der Bewertung. Gar nicht so selten lassen unterschiedliche Kameraperspektiven auch unterschiedliche Schlüsse zu, und die Superzeitlupe verzerrt häufig die Dynamik eines Vorgangs, bildet also keineswegs immer die Realität auf dem Feld ab. Die Bilder liefern somit oftmals keine unumstößliche Wahrheit, sondern müssen von Menschen interpretiert werden.

Gar nicht so selten lassen unterschiedliche Kameraperspektiven auch unterschiedliche Schlüsse zu, und die Superzeitlupe verzerrt häufig die Dynamik eines Vorgangs, bildet also keineswegs immer die Realität auf dem Feld ab.

Entsprechend ist es längst nicht immer klar und offensichtlich, was klar und offensichtlich falsch ist. Manche Entscheidungen des Schiedsrichters lassen sich aus der Sicht des einen Videoassistenten mit Bauchschmerzen noch vertreten, während ein anderer seinen Kollegen auf dem Rasen an den Monitor schickt, weil er davon überzeugt ist, dass eindeutig ein Fehler vorliegt. Das spiegelt sich auch in den Diskussionen unter den Fans wider: Während die Anhänger des einen Teams ein glasklares Foul an ihrem Stürmer wahrgenommen haben wollen und es für einen Skandal halten, dass der »Kölner Keller« nicht interveniert hat, als der Schiedsrichter weiterspielen ließ, finden die Unterstützer der anderen Mannschaft, dass die Entscheidung zumindest akzeptabel ist.

Aus gutem Grund hat man bei der sportlichen Leitung der Bundesliga-Schiedsrichter den anfänglich verwendeten Begriff »Videobeweis« bald zu den Akten gelegt. Denn die Bilder liefern eben nicht immer klare Beweise. Wie unterschiedlich sie interpretiert werden können, zeigt sich bisweilen auch, wenn ein Unparteiischer auf Empfehlung seines Videoassistenten an den Monitor am Spielfeldrand läuft, um sich eine Szene noch einmal anzusehen. Zwar ändert er danach in den meisten Fällen seine Entscheidung – aber keineswegs immer. Tut er es nicht, dann bewertet er die Bilder anders als sein VAR. Ihm stellt sich die Wahrheit mithin anders dar.

Auch aus der Perspektive des Schiedsrichters bleibt die Wahrheit auf dem Platz; was eine Tatsache ist, stellt weiterhin ausschließlich er fest. Allerdings wird die Wahrheitsfindung nun durch das technische Hilfsmittel namens Videobilder beeinflusst. Es ist im Profifußball nicht mehr nur die Wahrnehmung des Schiedsrichters auf dem Feld, die den Ausschlag für bestimmte Entscheidungen gibt. Diese Änderung entspricht dem fortschreitenden Wandel des bezahlten Fußballs hin zu einem Fernsehsport, der sich zu einem großen Teil aus den Geldern der Fernsehsender finanziert. Auch das gehört zur Wahrheit.