Die Wirtschaftssanktionen ­gegen Russland sollen das Land vom Welthandel ­abschneiden

Wirtschaftskrieg ohne Gewinner

Das westliche Staatenbündnis belegte Russland mit starken Wirt­schafts­sanktionen. Das birgt Risiken, etwa für die Zukunft des Welthandels.

Siemens gibt den russischen Markt auf. Das teilte der Industriekonzern am 12. Mai mit. Seit Anfang des Jahres hätten die wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine erlassenen Sanktionen die Profite bereits um 630 Mil­lionen US-Dollar sinken lassen, so Siemens. Der Gesamtprofit des Konzerns, der nach dem Zerfall der Sowjetunion in Russland stark expandiert hatte, sei von Januar bis März mit 1,3 Milliarden US-Dollar im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast die Hälfte zurückgegangen. Jetzt will sich Siemens vollständig aus Russland und Belarus zurückziehen.

Die zahlreichen von den USA und der EU gegen Russland verhängten Sank­tionen sind in der jüngeren Geschichte fast präzedenzlos. Sie kommen einem Wirtschaftskrieg gegen eine Volkswirtschaft nahe, deren Bruttoinlandsprodukt 2020 größer als das Australiens oder Brasiliens war, ein Vorgehen, das zuvor nur gegen Länder wie Iran oder Nordkorea praktiziert worden ist.

Die Fertigung vieler russischer Waffensysteme, darunter avancierte Raketensysteme, soll von westlichen Bauteilen oder dem Import von Mikrochips ab­hängig sein.

Doch bietet sich fast drei Monate nach Beginn der Invasion noch kein eindeutiges Bild, was ihre Wirksamkeit betrifft, was vor allem daran liegt, dass es der russischen Regierung gelang, den Kurs des russischen Rubels künstlich zu stützen. Dieser brach zwar nach Kriegsausbruch ein, von 75 Rubel pro US-Dollar auf mehr als 135 Rubel, was einem Wertverlust von 45 Prozent binnen knapp zwei Wochen entspricht. Doch inzwischen hat sich die russische Währung wieder erholt, sie notiert Mitte Mai bei rund 64 Rubel pro US-Dollar.

Zwei Faktoren waren hierbei entscheidend: Zunächst schränkte die rus­sische Regierung die Möglichkeiten stark ein, Rubel in ausländische Währungen zu konvertieren. Russische Bürger durften zunächst in Russland nur noch maximal 10 000 US-Dollar in sechs Monaten kaufen oder in bar außer Landes bringen, und russische Firmen müssen mindestens 80 Prozent aller Deviseneinnahmen in Rubel umtauschen. Auch der Verkauf von russischen Aktien und anderen Kapitalgütern ist stark eingeschränkt, was es erschwert, Kapital außer Landes zu schaffen. Das stabilisiert zwar die russische Währung, wird aber langfristig die russische Wirtschaft lähmen und ausländische Investoren abschrecken.

Ebenfalls wichtig ist, dass die Sanktionen der westlichen Staaten den Verkauf zahlreicher Güter nach Russland einschränken, vor allem von Hochtechnologiewaren. Weil russische Firmen keine Maschinen oder oft essentielle Ersatzteile und russische Verbraucher keine Computer, Smartphones oder andere Waren aus vielen Ländern mehr kaufen können, wird Russland in diesem Jahr Schätzungen zufolge einen Handelsüberschuss von 250 Milliarden US-Dollar verzeichnen.

Der zweite Grund für den starken Rubelkurs sind deshalb die auch durch die Sanktionen weiter in die Höhe getriebenen Energiepreise, wodurch ein stetiger Zufluss von Devisen besteht, die zu einem großen Teil in Rubel konvertiert werden. Während einige Unternehmen und westliche Regierungen ihre Ölimporte aus Russland verringern – die USA verhängten bereits ein komplettes Embargo, in der EU wird ein solches derzeit noch von Ungarn blockiert –, nutzten andere Länder die Gelegenheit, günstige Lieferverträge abzuschließen. So importiert beispielsweise Indien trotz deutlicher Kritik der US-Regierung wieder mehr Öl aus Russland. Vor allem aber bleibt die EU nach wie vor Abnehmer von 71 Prozent der russischen Energieexporte. In den ersten beiden Kriegsmonaten konnte Russland seine Einnahmen aus den ­Exporten fossiler Energieträger auf 62 Milliarden US-Dollar nahezu ­verdoppeln.

Der Ressourcenreichtum Russlands und die teilweise Umlenkung des Exports besonders nach Asien setzen somit der Wirkung der Sanktionen Grenzen. Der inzwischen verstorbene vormalige US-Präsidentschaftskandidat John McCain nannte Russland 2015 spöttisch »eine Tankstelle, die sich als Land ausgibt«. Doch ist Russland nicht nur der größte Gasexporteur der Welt sowie, mit Saudi-Arabien und den USA, einer der größten Exporteure von Erdöl, die Russische Föderation zählt überdies zu den größten Exporteuren von Uran, Nickel, Kohle, Aluminium, Kupfer, Pal­ladium, Weizen und (gemeinsam mit Belarus) Düngemitteln. Russlands von McCain verspottete Wirtschaftsstruktur, die angesichts gescheiterter Modernisierungsbemühungen auf Ressourcenexport basiert, bildet nun einen Sicherheitspuffer. Hinzu kommt, dass die weltweit zu erwartenden Versorgungsengpässe mit Weizen infolge des Kriegs in der Ukraine, die mit Russland zu den größten Exporteuren zählte, zu Hungerkrisen und Destabilisierung führen könnten, die auch die westlichen Zentren negativ betreffen würden. Zwar sind die russischen Nahrungsmittel­exporte von Sanktionen ausgenommen, doch würden auch diese durch Sank­tionen im Logistikbereich und im Handel erschwert, wie Bloomberg zufolge die Vertretung der russischen Weizenexporteure kritisierte. In der Ukraine verhindert die von Russland verhängte Seeblockade den Handel über die Schwarzmeerhäfen komplett.

Trotzdem treffen die Wirtschaftssanktionen Russland hart, indem sie es von großen Teilen des Welthandels und der globalen Finanzströme abschneiden. Der Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungssystem Swift (mit Ausnahme der für die Abwicklung des Energiehandels notwendigen Institute Sberbank und Gazprombank) sowie der Rückzug vieler internationaler Kon­zerne aus Russland haben bereits eine scharfe Rezession ausgelöst. Das Bruttoinlandsprodukt wird der russischen Zentralbank zufolge in diesem Jahr um acht bis zehn Prozent schrumpfen und wohl erst 2024 wieder wachsen, während die Inflation gen Jahresende bei 18 bis 23 Prozent liegen soll. Elvira Nabiullina, der Vorsitzenden der russischen Notenbank, zufolge sei auch der Zeitraum, in dem Russlands Wirtschaft mit staatlichen Finanzreserven stabilisiert werden könne, »endlich«. Schon im Sommer müsse folglich ein wirtschaftlicher »Strukturwandel« ­eingeleitet werden, warnte sie.

Die russische Regierung hatte sich auf die Folgen des Kriegs vorbereitet, indem sie Devisenreserven im Umfang von ungefähr 640 Milliarden US-Dollar anlegte. Doch wurde ein großer Teil dieser Reserven, knapp 300 Milliarden US-Dollar, die außerhalb Russlands ­untergebracht waren, im Rahmen der Sanktionen faktisch eingefroren. Der russische Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete das als »Diebstahl«.

Die wirtschaftliche Entwicklung Russlands ist somit stark beeinträchtigt und die Kosten des Kriegs sind extrem in die Höhe getrieben worden. Auch die russische Bevölkerung wird in den kommenden Monaten die Folgen in Form von Arbeitslosigkeit und dramatisch steigender Preise spüren.

Doch bergen die Sanktionen auch Risiken für die westlichen Staaten. Insbesondere der Ausschluss aus dem Swift-System könnte andere Staaten dazu veranlassen, nach Alternativen zur in der Jurisdiktion westlicher Regierungen liegenden Infrastruktur des Weltfinanzsystems zu suchen. Ähnlich verhält es sich mit dem US-Dollar, den viele Staaten als Reservewährung ansehen. Nachdem die russischen Devisenreserven de facto konfisziert wurden, könnten mit den USA rivalisierenden Staaten zukünftig verstärkt versuchen, zumindest ihren internationalen Handel in anderen Währungen abzuwickeln.

Solche Reaktionen auf die Sanktionen könnten gemeinsam mit dem relativen Bedeutungsverlust der westlichen Staaten in der Weltwirtschaft dazu beitragen, auch deren weltpolitische Macht zu unterminieren. Das zumindest scheint die russische Führung zu hoffen, die unter anderem darauf baut, dass die Wirtschaftsbeziehung mit China den unterbundenen Handel mit den westlichen Staaten zumindest in Teilen wird ausgleichen können.

Die Sanktionen schaden auch der russischen Rüstungsindustrie. Mitte April tauchten Berichte über Verzögerungen bei der Produktion von russischen Panzern bei Uralwagonsawod auf, dem weltweit größten Panzerproduzenten, wobei gerade die Herstellung der neuen Modelle T-90 und T-14 Armata betroffen sei, da diese auf westliche Hightech-Komponenten angewiesen seien. Die Fertigung vieler Waffensysteme, darunter avancierte Raketensysteme, soll von westlichen Bauteilen oder dem Import von Mikrochips abhängig sein. Hinzu kommt eine mutmaßliche Sabotagekampagne in Russland, bei der in den vergangenen Wochen Öldepots, Schienenwege und auch Rüstungsbetriebe, die zum Beispiel Raketentreibstoff oder Sprengstoffe herstellen, angegriffen worden sind.

Die Gegenstrategie Russlands zielt darauf, die Sanktionen durch Reimporte oder Ersatzimporte aus China zu umgehen, oder eine technisch weniger avancierte Substitutionsproduktion aufzubauen. In erbeuteten russischen Drohnen wurden etwa handelsübliche Kameras gefunden, und der US-Regierung zufolge müssten russische Panzer bereits jetzt mit Halbleitern repariert werden, die eigentlich für Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen vorgesehen seien. Zudem greift die russische Armee verstärkt auf ihre gigantischen Lager von Waffen aus der ­Sowjetzeit zurück. Während die Nato die Ukraine mit moderneren Waffensystemen ausrüstet, tauchen im Netz Videos von alten sowjetischen Artilleriegeschützen auf, die per Bahn in die Ukraine rollen.

Unabhängig von seinem militärischen Ausgang könnte der Ukraine-Krieg in seiner ökonomischen Dimension einen Epochenbruch markieren, eine Destabilisierung der neoliberalen kapitalistischen Globalisierung unter westlicher Hegemonie. Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnte nach Kriegsausbruch vor einer Fragmentierung der Weltwirtschaft in »geopoli­tische Blöcke«. Diese hatte sich bereits mit dem Protektionismus des US-Prä­sidenten Donald Trump und den Handelskonflikten zwischen USA, EU und China angekündigt, auch die Lieferengpässe und Versorgungsschwierigkeiten in der Pandemie verstärkten weltwirtschaftliche Krisentendenzen.

Die Grundlagen der finanzmarktgetriebenen kapitalistischen Globalisierung mit ihren beständig wachsenden Schuldenbergen, globalen Handels­ungleichgewichten und Defizitkreisläufen scheint ernsthaft erschüttert. Versorgungsmängel, Ressourcenknappheit, Inflation, und auch klimatische Veränderungen sind Zeichen einer sich verschärfenden Krise des kapitalistischen Weltsystems.