Senthuran Varatharajahs neuer Romanm »Rot (Hunger)«

Die Einverleibung

In seinem zweiten Roman »Rot (Hunger)« tastet sich Senthuran Varatharajah in die Grenzbereiche von Liebe, Verführung und Sprache vor. Der Text wirft implizit die Frage auf, welchen Stellenwert Moral in der Kunst haben sollte.

»Bis zur äußersten Bedeutung müssen wir gehen«, schreibt Senthuran Varatharajah, bis an die Grenze dessen, was aussag- und mitteilbar ist. Und wo ließe sich diese Herausforderung besser annehmen als im Suchen nach einer Sprache für die Liebe? Zugegeben, auch Varatharajah bietet keine allgemeingültige Definition für dieses große Menschheitsrätsel an, sondern umkreist es lediglich in seinem neuen experimentellen Werk »Rot (Hunger)«. Und zwar in zwei auf den ersten Blick sehr heterogenen Erzählsträngen: Zum einen taucht man in die Gedanken eines biographisch an den Autor angelehnten Ich-Erzählers ein, der eine zurückliegende Beziehung vor seinem inneren Auge Revue passieren lässt, zum anderen wird man mit einem der krudesten Kriminalfälle des beginnenden 21. Jahrhunderts konfrontiert, dem Kannibalenmord von ­Rotenburg.

Damit diese beiden Handlungsstränge irgendwie etwas miteinander zu tun bekommen, bedarf es schon einiger Phantasie. Aber es eint sie durchaus ein gemeinsamer Ursprung in heillosem Begehren, im übersteigerten Wunsch, mit dem anderen zu verschmelzen. Bereits die Literatur, die der Protagonist in seinen Erinnerungsschleifen an seine zurückliegende Partnerschaft zitiert, zeigt anschaulich, wie Liebe im Bild der Einverleibung aufgeht: »Verschlinge mich. Verforme mich bis zur Häßl / ichkeit.« Entnommen sind diese Sätze Alain Resnais’ und Marguerite Duras’ berühmtem Filmdrama »Hiroshima, mon amour« (1959) über eine kurze, alles verzehrende Affäre. Schon die eigenar­tige und in »Rot (Hunger)« oft angewandte Zerschneidung eines Worts, hier »Häßl / ichkeit«, legt nahe, dass diese Metapher des ­Verschlingens auch mit Gewalt verbunden ist.

Das Skandalon des Buchs besteht in der ästhetischen Inszenierung, man könnte auch sagen: Veredelung des schauerlichen Tods von Brandes.

Genau an dieser Stelle lässt sich auch die Brücke zum Mord an dem Ingenieur Bernd Jürgen Brandes schlagen. Bevor dieser am 9. März 2001 zum Täter Armin Meiwes fuhr, hatten sich beide wochenlang via Chat über den genauen Tötungs- und Zerlegungsplan ausgetauscht. Unter den vielen von Varatharajah verwandten und kursiv markierten Originalzitaten trifft man auf Sätze wie: »Du weißt / nicht wie sehnsüchtig wie / lange / ich darauf gewartet habe. Ich werde den Schlachttraum einweihen. Und wenn du den Nächsten einlädst, bin ich da. In dir. Als Teil von dir. Als Nährstoff in deinen Zellen.« Das Aufessen wird dabei mehrfach mit der Überwindung von Einsamkeit und der Herstellung von Nähe assoziiert. Der Übergang von »nach jemandem verlangen« oder »jemanden vermissen« zu »jemanden in sich aufnehmen« ist hier gleitend. Der Schriftsteller bringt damit zum Ausdruck: Der Liebe wohnt in ihrer extremen Form auch ein zerstörerischer Zug inne. Sie kann zum Wahn, zur Obsession werden, kann von der Fürsorge in die Belagerung und gar Inbesitznahme des Gegenübers kippen.

Muss man eine derartige Verquickung von amourösem Begehren und kannibalischen Wunschträumen als perverses Unterfangen bezeichnen? Und ob! Das eigentliche Skandalon dieses so aparten wie verstörenden Buchs besteht allerdings in der ästhetischen Inszenierung, man könnte auch sagen: Veredelung des schauerlichen Tods von Brandes. Denn um die abscheuliche Chronologie des Treffens zwischen ihm und Meiwes detailreich zu beschreiben, bedient sich der 1984 in Jaffna (Sri Lanka) geborene Varatharajah eines durch und durch poetischen Stils. Gleich einem über die Seite verlaufenden Gedicht vernimmt man Sätze wie »Ich wollte / immer / nur einen Bruder / in mir haben einen / Mann«.

Ferner wird das blutrünstige Geschehen von der Abtrennung des Penis bis zum tödlichen Halsschnitt stets zur Sprachhandlung reduziert. Denn »wir öffnen einen Körper wie ein Buch«. Und als wäre das nicht schon genug der Zuspitzung, zieht der Autor auch noch mit reichlich Pathos Parallelen zur Religion. So werde die »Fleischwerdung des Wortes« spätestens mit Jesu Abendmahl ­verwirklicht, der der Bibel zufolge bekanntlich seinen Leib für die ­sündige Menschheit hingab.

In derlei Gleichnissen und Querverweisen eine unbedachte Verharmlosung zu sehen, würde dem Anspruch des Textes allerdings nicht gerecht werden. Vielmehr wirft er implizit eine bemerkenswerte Frage auf: Kann es eine Kunst ohne Moral geben? Darf mithin die geradezu minutiös arrangierte Schlachtung und das Zuschneiden des menschlichen Körpers als formvollendet gelten? Unmittelbar fühlt man sich als beim Lesen an Lars von Triers Splatter-Film »The House That Jack Built« (2018) erinnert, in dem ein eiskalter Serienmörder aus den Häuten seiner Opfer ein perfektes Haus zu errichten sucht. Immerhin wird er damit scheitern und in einer Dante-Reminiszenz in die Hölle stürzen.

Ähnlich dem Film muss auch Literatur mit Mitteln der Verfremdung operieren, um Distanz oder Ironie zu erzeugen. Weil sich der Ich-Erzähler als Autor und Dokumentarist des Kannibalenmords zu erkennen gibt, befindet er sich in einer Metaposition. Wie viel Projektion seiner Verlusterfahrung und seiner unglücklichen Liebe sich in der Schilderung des Verbrechens niederschlägt, bleibt offen, die Erzählweise fragmentarisch. Viele Sätze enden entweder abrupt oder werden nicht durch einen stimmigen Übergang miteinander verbunden. Kurzum, dieses Werk vermeidet jedweden Eindruck von Geschlossenheit. Warum? Weil es eben nicht um ein stimmiges Weltbild geht. Es bleiben Dissonanzen, Widersprüche und Leerstellen.

Dass den Autor die Form mehr interessiert als der Plot, hat er bereits in seinem gefeierten Debüt »Vor der Zunahme der Zeichen« (2018) zu erkennen gegeben. Auch in diesem Text steht ein Chat-Dialog im Vordergrund, in dem mit sprachkritischer Verve Kategorien wie Heimat und Herkunft zerlegt werden. In »Rot (Hunger)« finden sich ähnliche Auseinandersetzungen. »Als ich ein Kind war«, berichtet der Ich-Erzähler dem verlorenen Du, »sc / hrieb ich: häute. Wir hießen Dahergeschleifte, Asylantenschweine, Affen; alle N-Wörter. Wenn sie haut ab sagten, zog ich meine Haut ab, nachts, auf dem Bett, mit meinen Zähnen. Du weißt es. / Ich kenne diese Sprache nicht. / Aber diese Sprache kennt mich.« Mit derselben Finesse, mit der Varatharajah hier die Mehrdeutigkeit der Klänge von »Haut« beziehungsweise »Häute« durchspielt, deckt er auch die Bedeutungsschichten von Liebe und Begehren auf.

Entstanden ist so ein unbequemes Werk aus den Untiefen der menschlichen Vorstellungskraft. Es ist ekel­erregend, blutrünstig und auf beklemmende Weise schön verfasst, in manchen Teilen so lakonisch wie der Minimalismus von Marguerite Duras, in anderen so ausufernd verträumt wie die Suaden Friederike Mayröckers. Von dieser Sprachar­tistik lässt man sich allzu leicht einfangen und verfällt der Anziehung des Absonderlichen. Man erschrickt jedoch, sobald man diese eigenartige Verführung durchschaut. Genau ­darin besteht die Genialität dieses Romans, der letztlich ein faszinierendes Täuschungsmanöver ist.

Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger). S. Fischer, Frankfurt am Main 2022, 120 Seiten, 23 Euro