Nichts gelernt? Das Comeback der Atomkraft

Abgebrannter Stoff

Das Wiederaufleben der Atomenergie birgt allerlei Risiken.

Im vergangenen Juni hielt Bill Gates in Cheyenne, Wyoming, eine Rede vor ­Politikern und Journalisten. »Vor 15 Jahren habe ich eine Expertengruppe zusammengestellt (…), um das zweifache Problem der globalen Energiearmut und des Klimawandels zu lösen«, verkündete der im Pullover auftretende Multimilliardär per Video. »Es wurde klar, dass fortgeschrittene Kernenergie ein wichtiges Instrument zur Lösung von beidem ist.« Allerdings, fuhr er fort, müsse die Technologie sicherer und kostengünstiger werden. Zu diesem Zweck habe er sich verpflichtet, eine Milliarde US-Dollar in Terrapower zu investieren, ein im Jahr 2008 von ihm gegründetes Unternehmen mit dem Zweck, kleine modulare Reaktoren zu entwickeln, die am Fließband pro­duziert werden könnten. Nun freue er sich, den Bau einer Anlage auf dem Gelände eines stillgelegten Kohlekraftwerks in Wyoming bekanntzugeben.

Der angekündigte natriumgekühlte Reaktor werde »kleiner, billiger und von vorneherein sicher« sein, sagte mir (Andrew Cockburn, Anm. d. Red.) Jeff Navin, der Pressesprecher von Terrapower.

Am auffallendsten ist der Erfolg offizieller Kampagnen, die behaupten, selbst die schwersten Unfälle hätten wenige oder keine gesundheitlichen Schäden angerichtet.

Angesichts der wachsenden Besorgnis über den Klimawandel hat die Atomkraft auch in der Linken neue Anziehungskraft gewonnen, da sie sich bei der Reduzierung von CO2-Emissionen als Ergänzung zu Wind- und Sonnenenergie anbietet. Zu Beginn ihrer ersten Amtszeit begrüßte die demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez die Abschaltung des 50 Jahre alten Atomkraftwerks Indian Point nördlich von New York City, warnte jedoch zugleich, dass »eine vor Jahrzehnten gebaute Anlage kein Sinnbild für die Technologie ist, die wir heute ­haben«. Sie fügte hinzu, dass »der Green New Deal die Tür für Atomenergie ­offen lässt«, und bekräftigte diese Position ein Jahr später, als sie die Atomkraft »einen entscheidenden Beitrag zur Debatte« nannte, auch wenn »wir dafür sorgen müssen, dass die Technologie überprüft wird«. (Maßgeblich Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez hatten als Programm der Demokraten für eine ökologische Wende in den USA einen Green New Deal vor­geschlagen, den die Regierung Joe Biden in großen Teilen übernahm, Anm. d. Red.)

Saikat Chakrabarti, der 2019 als Stabschef von Ocasio-Cortez an der Aus­arbeitung des Green New Deal beteiligt war, war weniger zweideutig. »Im ursprünglichen Text hatten wir eine technologisch ignorante Position zur Atomenergie bezogen, weil sie so ein polarisierendes Thema ist«, sagte er mir. Er räumte vorhandene Befürchtungen in der Öffentlichkeit ein und bestand darauf, dass »Atomkraft jetzt extrem sicher zu betreiben ist und die Technologie mit diesen kleinen modularen Reaktoren ständig verbessert wird«, beispielsweise beim Design von Terrapower.

Das Sunrise Movement, eine 2017 gegründete Graswurzelbewegung, die eine »Armee junger Leute« für den Kampf gegen den Klimawandel ­rekrutieren möchte, hat zeitweise die Idee eines Hy­bridnetzes unterstützt, das erneuerbare Energien und Atomkraft kombiniert. Selbst Gruppen, die seit langem als Gegner der Atomkraft bekannt sind, wie die Union of Concerned Scientists (UCS) und der Sierra Club (eine einflussreiche Naturschutzorganisation in den USA und Kanada, Anm. d. Red.), scheinen in aller Stille zu Zugeständnissen bereit zu sein, etwa beim zeitlich begrenzten Weiterbetrieb bestehender Anlagen als vorübergehende Energiequellen.

Seit langem genießt die Nuklearindustrie Unterstützung durch die etablierte Politik. Navin war unter Barack Obama stellvertretender Stabschef im Energieministerium. Die derzeitige Energieministerin Jennifer Granholm wirbt für den Natriumreaktor und sein Versprechen von »345 Megawatt sauberem, erschwinglichem und zuverläs­sigem Grundlaststrom«. Die Nationale Klimaberaterin des Weißen Hauses, Gina McCarthy, betont die Notwendigkeit, bestehende Anlagen weiterzubetreiben, sowie die Zukunftsaussichten für »jene kleinen Kernreaktoren«, in die »die Leute ganz erhebliche Ressourcen investieren«. Das US-Außenministerium hat Anstrengungen unternommen, um ähnliche Programme im Ausland zu fördern. Vor allem haben beide Kongressparteien, trotz erbitterter Kämpfe um die Vorlagen der Regierung zur Infrastruktur und zur Sozialreform, die Aufnahme von 41 Milliarden US-Dollar an Industriesubventionen in die Gesetzgebung durchgewinkt. »Erfreulicherweise hat die breitere Diskussion dazu geführt, dass der positive Wert der Kernenergie für die Umwelt anerkannt wird«, sagte mir Maria Korsnick, die Präsidentin des Nuclear Energy Institute.

Als Dwight Eisenhower 1953 sein Programm »Atoms for Peace« vorstellte, gab er den optimistischen Grundton für die Atomkraft vor: »Die Vereinigten Staaten wissen, dass Atomenergie zu friedlichen Zwecken keine Zukunftsmusik ist.« Vier Jahre später bezog Moor­park, eine Kleinstadt nordwestlich von Los Angeles, als erste US-amerikanische Gemeinde Elektrizität aus einem Atomreaktor. Moorparks Strom kam vom Sodium Reactor Experiment, das die Atomenergiekommission (AEC) im 20 Meilen entfernten Santa Susana Field Laboratory aufgebaut hatte. »Hier in Moorpark«, hieß es in einer Fernsehsendung, habe die nukleare Kettenreaktion »das Geschirr gespült und einem kleinen Jungen Licht gemacht, damit er sein Buch lesen konnte«. Solch poetische Klänge gab es nicht, als im Juli 1959 das Kühlsystem der Anlage versagte und die Uranoxid-Brennstäbe zu schmelzen begannen. Als der Reaktor außer Kontrolle geriet und zu explodieren drohte, setzten seine verzweifelten Betreiber fast zwei Wochen lang gewaltige Mengen an radioaktiven Stoffen in die Atmosphäre frei, was dazu führte, dass dies mit ziemlicher Sicherheit der gefährlichste Nuklearunfall in der Geschichte der USA gewesen ist (auch als Simi-Valley-Unfall bezeichnet, Anm. d. Red.). Allein die Menge an Jod-131, die in die südkalifornische Atmosphäre entlassen wurde, war 260 Mal so hoch wie beim Unfall von Three Mile Island, der allgemein als schlimmste Nuklearkatastrophe gilt, die sich in den USA jemals ereignet hat. Nichts davon wurde der Öffentlichkeit mitgeteilt. Als der Großraum Los Angeles in den folgenden Jahren boomte, wurde das Gebiet um den Versuchsreaktor mit neuen Bewohnern dicht besiedelt. Niemand informierte sie über die ­astronomischen Mengen radioaktiver Schadstoffe, die sich tief im Boden ­abgelagert hatten.

Unterdessen nahmen Versorgungsunternehmen im ganzen Land zahl­reiche Atomkraftwerke in Betrieb und versprachen Strom »zu billig zum Messen«. Die rasante Entwicklung in den sechziger Jahren führte zu hoffnungsvollen Prognosen der AEC, dass bis zur Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten mehr als 1 000 Reaktoren in Betrieb sein würden. Aber es sollte nicht sein. Als die Umweltbewegung in den siebziger Jahren an Stärke gewann, riefen die mit der Atomkraft verbundenen Gefahren – von der Entsorgung radioaktiver Abfälle bis zum Risiko katastrophaler Kernschmelzen – eine entschlossene, informierte und organisierte Opposition hervor. Dann kam es 1979 in einem von zwei Reaktoren auf Three Mile Island zu einer teilweisen Kernschmelze. Abgesandte des Präsidenten empfahlen eine beruhigende Wortwahl und spielten die Gesundheitsrisiken herunter. Von negativen Einschätzungen wurde abgeraten; als der Gesundheitsminister von Pennsylvania, Gordon MacLeod, die Reaktion des Staats kritisierte, wurde er vom Gouverneur umgehend entlassen. Mac­Leod enthüllte später, dass sich die Kindersterblichkeit in einem Umkreis von zehn Meilen um das Werk verdoppelt hatte. Eine weitere Expansionsbremse waren die steigenden Kosten beim Anlagenbau. Sie waren teilweise doppelt so hoch, wie die Branche sie veranschlagt hatte. Schließlich wurden mehr als 120 Projekte abgesagt, Baustellen wurden aufgegeben. »Das Scheitern des US-Atomprogramms gilt als das größte Management-Desaster der Wirtschaftsgeschichte, ein Desaster monumentalen Ausmaßes«, kommentierte das Magazin Forbes 1985, ein Jahr vor Tschernobyl.

Inmitten der Dunkelheit begann der Industrie ein fernes Licht zu flackern. An einem heißen Tag im Juni 1988 erklärte der Nasa-Wissenschaftler James Hansen bei einer brechend vollen Senatsanhörung, »mit 99 Prozent Sicherheit« habe die Temperatur auf der Erde ein Rekordniveau erreicht, das auf Emissionen von Kohlendioxid zurückzuführen sei. Im folgenden Januar stellte die New York Times in einem Leitartikel fest: »Der Treibhauseffekt ist real«, und forderte »eine neue Generation von sichereren und billigeren Atomkraftwerken«.

Eine Möglichkeit, die Umweltverschmutzung zu begrenzen, besteht dar­in, die Kosten für den Verursacher zu erhöhen. Diese Sachlage ist zumindest einem weitsichtigen Industriellen nicht entgangen. 1992 begann John Rowe, der damalige Vorstandsvorsitzende von New England Electric System, dem mehrere Atomkraftwerke in der Region gehörten, für eine CO2-Bepreisung als Antwort auf den Klimawandel einzutreten.

Im Oktober 2000 gründete der Vorreiter der CO2-Bepreisung die Exelon Corporation, indem er zwei große Energieversorger mit umfangreichen Be­teiligungen an Atom- und Kohlekraftwerken fusionierte. Rowe verkaufte den Kohlezweig, weil er, wie er rückblickend erklärte, dachte, »dass die Klimagesetzgebung früher oder später kommen würde und ich mein Geld lieber im Atompark hätte«. Gleichzeitig gab Exelon viel Geld für Lobbyarbeit in Washington aus. In den ersten zehn Jahren nach seiner Gründung wandte das Unternehmen mehr als 35 Millionen US-Dollar für solche Bemühungen auf.

Die Investition sollte sich lohnen, insbesondere 2005 beim Gesetz zur Energiepolitik. Die Vorlage genehmigte Steuervergünstigungen in Höhe von 13 Milliarden US-Dollar sowie zusätzliche Kreditgarantien für neue kommerzielle Reaktoren. 2007 bewilligte der Kongress 18 Milliarden US-Dollar Kreditgarantien für neue Reaktoren und weitere vier Milliarden US-Dollar für Urananreicherung. Die Großzügigkeit weckte Hoffnungen auf eine »nukleare Renaissance«, wie die Energieunternehmen ihre Pläne für neue Reaktoren nannten.

Inzwischen war der Klimawandel in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt. Obama sprach im Wahlkampf 2008 eloquent über die Bedrohung und forderte Obergrenzen und Zertifikate zur Eindämmung der CO2-Emissionen. Seine engen Verbindungen zu Exelon mit Sitz in Chicago wurden durch großzügige Wahlkampfspenden von Rowe und anderen Führungskräften sowie durch die vorherige Tätigkeit seines Chefstrategen David Axelrod als Berater für das Unternehmen unterstrichen.

Aber sie waren nicht die einzigen, die sich die Gunst des Präsidenten sicherten. Im Februar 2010 kündigte Obama an, Kreditgarantien in Höhe von 8,3 Milliarden US-Dollar für zwei neue Reak­toren namens Vogtle 3 und 4 zu gewähren, die in Burke County, Georgia, errichtet werden sollten.

Elf Jahre später befanden sich die Vogtle-Reaktoren immer noch im Bau. Ursprünglich für 2017 geplant, könnten sie nun 2023 fertiggestellt werden. Die Kosten sind von 14 auf 27 Milliarden US-Dollar gestiegen, ein erheblicher Teil der entstandenen Mehrkosten wird auf die Stromkunden in Georgia abgewälzt. Im Nachbarstaat South ­Carolina sehen die Verbraucher immer noch merkliche Zuschläge auf ihren monatlichen Rechnungen. Sie finanzieren zwei Kraftwerke, die 2017 wegen steigender Kosten und Insolvenz des Hauptauftragnehmers aufgegeben wurden (es geht um die geplanten Blöcke 2 und 3 im AKW V. C. Summer, ­Jenkinsville, Anm. d. Red.). Im November 2020 bekannte sich Kevin Marsh, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Scana, dem Energieversorger von South Carolina, des Betrugs schuldig; er hatte die Aufwendung von neun Milliarden US-Dollar für nicht fertiggestellte Reaktoren verschleiert. Dafür verbüßt er eine zweijährige Haft­strafe.

Die Abwälzung zusätzlicher Kosten auf die Versorger scheint ein gängiges Geschäftsmodell zu sein. Es erfordert in der Regel die Nachgiebigkeit der ­Gesetzgeber, die einen hohen Preis für ihre Gefälligkeiten fordern und er­halten können – dubiose Geschäfte, welche die Vorstellung einer »sauberen« Atomenergie in Frage stellen. Die offenen oder versteckten Subventionen der Bundesstaaten werden jedoch von der Regierung Biden weit in den Schatten gestellt, die mit ihrer Infrastruktur- und Klimagesetzgebung noch mehr Großzügigkeit verspricht. Einer Analyse des Nuclear Informa­tion and Resource Service zufolge entfallen 54 Prozent der insgesamt 41 Mil­liarden US-Dollar auf lediglich drei Unternehmen, von denen Exelon 15 Mil­liarden US-Dollar erhalten soll.

Bei allem hoffnungsvollen Gerede über neue Technologien ist es das Hauptanliegen der Industrie, alternde Reaktoren noch lange über ihre ursprünglich vorgesehene Betriebsdauer hinaus am Laufen zu halten, auch wenn dies ernsthafte Sicherheitsrisiken birgt. Bei der sogenannten Versprödung zum Beispiel reißen kritische Komponenten wie Sicherheitsbehälter nach jahrzehntelangem Neutronenbeschuss, wodurch tödliche Strahlung freigesetzt wird. Trotzdem scheint die Atomaufsichtsbehörde der USA, die Nuclear Regulatory Commission (NRC), gerne Verlängerungen zu gewähren: Anlagen, die ursprünglich für eine Laufzeit von 40 Jahren ausgelegt waren, werden für insgesamt 60 oder 80 Jahre zugelassen.

West Hills, Kalifornien, ist eine der Gemeinden, die in den Jahrzehnten nach der Kernschmelze von 1959 in der Nähe des Santa Susana Field Labora­tory entstanden sind. Bis vor kurzem hatten ihre Einwohner allenfalls eine schwache Ahnung, dass Atomkraft in der Nachbarschaft unliebsame Folgen haben könnte. »Fast niemand wusste vom Santa Susana Field Lab, oder sie hielten es für eine lokale Legende«, sagte mir kürzlich Melissa Bumstead, die im nahe gelegenen Thousand Oaks aufgewachsen ist. 2014 wurde bei Bumsteads vierjähriger Tochter Grace eine aggressive Form der Leukämie diagnostiziert. »Das steht in keinem Zusammenhang mit der Umwelt«, sagte ihr der Kinderonkologe mit Nachdruck. Krebserkrankungen im Kindesalter seien selten und einfach ein grausames Schicksal. Später traf Bumstead, als sie Grace ins Kinderkrankenhaus von Los Angeles brachte, auf eine Frau, die sie wiedererkannte, weil ihre Töchter im selben Park gespielt hatten. Das Kind dieser Frau hatte auch eine seltene Krebskrankheit, ein Neuroblastom, ebenso wie ein weiteres Kind aus dem nahegelegenen Simi Valley, dem sie ­begegneten, als die Kinder eine Chemotherapie erhielten. Zurück zu Hause bemerkte jemand in ihrer Straße den Aufkleber »Awareness Childhood Cancer« an Bumsteads Auto und erwähnte, dass ein Teenager in der Nachbarschaft an Krebs gestorben sei.

Ich rief Bumstead an, weil mir aufgefallen war, dass der Natriumreaktor von Terrapower in seinen Grundzügen dem alten Sodium Reactor Experiment von Santa Susana ähnelt (sodium ist das englische Wort für Natrium, Anm. d. Red.). »Genau das hatten wir!« rief sie aus, als ich erwähnte, dass flüssiges Natrium ein wesentlicher Bestandteil des Projekts von Terrapower sei. Die Kühltechnik mit flüssigem Natrium ist also keineswegs innovativ. Bei zahlreichen Versuchen in der Vergangenheit hat sie sich nie empfohlen – nicht zuletzt, weil flüssiges Natrium beim Kontakt mit Wasser explodiert und sich an der Luft entzündet. Darüber hinaus wirkt es auf Metalle stark korrosiv, was ein Grund dafür ist, dass diese Technologie von der US-Marine schnell aufgegeben wurde, nachdem sie 1957 in einem Seawolf-U-Boot getestet worden war. Das System »leckte, noch bevor es das Dock für seine erste Reise verließ«, erinnert sich Foster Blair, der lange Jahre als leitender Ingenieur im Reaktorprogramm der Navy beschäftigt war.

Als die Umweltbewegung in den siebziger Jahren an Stärke gewann, riefen die mit der Atomkraft verbundenen Gefahren eine entschlossene, informierte und organisierte Opposition hervor.

Wie die endlose Geschichte der Na­triumkühlung zeigt, ist die tatsächliche Historie der Atomenergie allen außer Fachleuten weitgehend unbekannt, was besonders ironisch wirkt, da sie sich ständig wiederholt. Eine weitere Kon­stante ist der Versuch von Verantwort­lichen, sowohl in Unternehmen als auch in Regierungen, Informationen so lange wie möglich vor der Öffentlichkeit zu verbergen. In dieser Hinsicht hält Santa Susana den Rekord: Die Vertuschung hielt 20 Jahre lang, bis Studierende der University of California in Los Angeles (UCLA) die Wahrheit in Dokumenten der Atomenergiekommission fanden.

Am auffallendsten ist der Erfolg offizieller Kampagnen, die behaupten, selbst die schwersten Unfälle hätten wenige oder keine gesundheitlichen Schäden angerichtet. Das spektakuläre Ausmaß der Katastrophe von Tschernobyl mit ihren Massenevakuierungen und den länderübergreifenden radio­aktiven Wolken erschwerte solche Verharmlosungen. Doch wie Kate Brown, Wissenschaftshistorikerin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), in ihrem Buch »Manual for Survival: An Environmental History of the Chernobyl Disaster« beschreibt, halfen die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Vorstellung zu verbreiten, die gesundheitlichen Auswirkungen der Katastrophe seien minimal gewesen. 2005 einigte sich die Uno auf eine Zahl von 4 000 Toten in der Ukraine, Weißrussland und Russland, den am stärksten exponierten Ländern. Die Zahl liege am unteren Ende einer bemerkenswert weiten Spanne, stellte Brown fest. Die IAEA hatte zuvor »keine gesundheitlichen ­Beeinträchtigungen, die direkt auf die Strahlenbelastung zurückgeführt werden könnten«, gemeldet. Erst als Keith Baverstock, ein Wissenschaftler der WHO, einem Vorgesetzten trotzte und den starken Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei belarussischen Kindern öffentlich machte, wurden die tödlichen Folgen der Katastrophe widerwillig akzeptiert.

Brown verbrachte zehn Jahre in Archiven der Ukraine, Weißrusslands und Russlands, um Aufzeichnungen darüber auszugraben, was mit Millionen von Menschen passiert ist, die nicht nur der unsichtbaren Wolke ausgesetzt waren, sondern auch ihren Rückständen im Boden, von dem sie ihre Nahrung be­zogen. Doch sie fand nur ein einziges offizielles Dokument, das eine kon­krete Zahl von Todesfällen im Zusammenhang mit Tschernobyl nannte: 36 525. So viele Frauen in der Ukraine erhielten Renten, weil ihre Ehemänner an den Folgen der Katastrophe gestorben waren – eine Zahl, die weit über den Angaben westlicher Behörden liegt. Doch diese nackte Zahl dürfte nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtheit darstellen. »Das ist nur die Ukraine«, sagte sie mir, »die lediglich 20 Prozent der Strahlung ausgesetzt war. Es gibt keine vergleichbare Zahl für Weißrussland, das wesentlich mehr abbekommen hat.«

Aufgrund der Hinweise auf Schilddrüsenkrebs nach Tschernobyl unternahmen Forscher große Anstrengungen, um Kinder in der Umgebung von Fukushima zu untersuchen. Jahr für Jahr stieg die Zahl der Erkrankten an und erreichte schließlich das 20fache des früheren Niveaus. Unterdessen starteten die lokalen Behörden eine Kampagne, um Kinder davon abzuhalten, sich untersuchen zu lassen, und wiesen sie auf »das Recht, nichts zu wissen«, hin. Die Kampagne hatte einigen Erfolg, und die Zahl der teilnehmenden Kinder ging zurück.

Weit über Fukushima hinaus erfreut sich das »Recht auf Nichtwissen« über die Auswirkungen der Atomenergie derzeit großer Beliebtheit. Inmitten der wachsenden Besorgnis über den Klimawandel findet der Sirenengesang von »sauberer, bezahlbarer und zuverlässiger« Energie ein Publikum, das bereit ist, über ein Geschäftsmodell hinwegzu­sehen, das von staatlicher Unterstützung abhängt und oft mit Korruption geschmiert wird: das hin­wegsieht über das Scheitern von Experimenten, die heutzutage als »innovativ« gefeiert werden, hinwegsieht über ein Schema ausgeklügelter Desinformation und hinwegsieht über eine giftige Spur von Unfällen und Lecks, die zukünftige Generationen ­beeinträchtigen werden (ganz zu schweigen von den 95 000 Tonnen radioaktiver Abfälle, die derzeit an Reaktorstandorten gelagert werden und nirgendwo entsorgt werden können). Argumente von Befürwortern erneuerbarer Energien, dass Wind-, Solar- und Geothermie ausreichten, um die Lücke zu schließen, haben bei Politikern wenig Anklang gefunden. Wenn wir die Geschichte ignorieren, könnten wir dazu verurteilt sein, sie zu wiederholen. Bill Gates hat darauf eine Milliarde US-Dollar gewettet.

Der Essay ist eine von Detlef zum Winkel aus dem Englischen übersetzte, gekürzte und ­redaktionell leicht bearbeitete Version des in der Januarausgabe des US-amerikanischen Harper’s Magazine unter dem Titel »Spent Fuel. The Risky Resurgence of Nuclear Power« erschienenen Artikels von Andrew Cockburn.