In Bulgarien sind ehemalige Regierungsmitglieder kurzzeitig festgenommen worden

Umstrittene Ermittlungen

In Bulgarien wurde unter anderem der ehemalige bulgarische Minister­präsident Bojko Borissow vorige Woche wegen des Verdachts der Misswirtschaft festgenommen. Nach einem Tag war er wieder frei.

Es war eine kleine Sensation, als bulgarische Medien in der Nacht von Donnerstag auf Freitag vergangener Woche vermeldeten, dass der ehemalige Ministerpräsident Bojko Borissow, der ehemalige Finanzminister Wladislaw Goranow und die ehemalige Leiterin des Pressedienstes der Regierung, Sewdalina Arnaudowa, festgenommen worden seien. Das Pressezentrum des Innenministeriums teilte mit, dass eine große Polizeioperation im Zusammenhang mit Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) im Gange sei, Wohnungen durchsucht würden und Beweismaterial gesammelt werde. Die EPPO ermittelt in Bulgarien in 120 Fällen wegen Misswirtschaft und Veruntreuung von EU-Geldern, umgerechnet rund 285 Millionen Euro sollen unter Borissows Regierungen aus dem Staatshaushalt verschwunden sein. Der Operation vorausgegangen war ein Besuch der Leiterin der EPPO, Laura Kövesi, am Mittwoch in der Hauptstadt Sofia, wo sie Vertreterinnen und Vertreter der Regierung von Ministerpräsident Kiril Petkow und der Justiz getroffen hatte.

Noch in der Nacht der Festnahmen versammelten sich vor Borissows Haus protestierende Anhänger von dessen konservativer Partei »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« (GERB). Der 62jährige war einst für den Personenschutz des Diktators Todor Schiwkow (1954 bis 1989) zuständig und mit kürzeren Unterbrechungen von 2009 bis 2021 Ministerpräsident Bulgariens. Die GERB gehört im EU-Parlament zur Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Prompt äußerte deren Fraktionsvorsitzender, Manfred Weber (CSU), auf seiner Facebook-Seite, die EVP sei »sehr besorgt« über die Ereignisse in Sofia, die Verhaftung werfe »viele Fragen auf« und die bulgarische Polizei scheine »ohne Haftbefehl« aktiv geworden zu sein. Mittlerweile habe die EVP eine »dringende Erkundungsmis­sion nach Sofia« geschickt, wie sie am Montag mitteilte.

Nach nur einem Tag auf dem Polizeipräsidium waren alle drei Festgenommenen wieder frei. Der ehemals von Borissow eingesetzte Generalstaats­anwalt Iwan Geschew hatte sich am Freitag beschwert, dass er nicht vorab über die Festnahme von Borissow informiert worden sei. Bereits bei den Protesten gegen Korruption und Borissows Regierungen, zuletzt 2020, hatte die Kritik auch Geschew, der noch bis 2026 im Amt verbleiben soll, gegolten – und er ist umstritten wie eh und je. Die bulgarische Juristin Radosweta Wassilewa sagte im Gespräch mit der Jungle World, eine gründliche Reform des bulgarischen Justizsystems sei längst überfällig. Die neue Regierung befinde sich seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2021 in einem institutionellen Krieg mit Borissows »Staat im Staat«, so Wassilewa. Die neue Regierung »scheint entschlossen zu sein, aber ihr sind aufgrund des von Borissow geschaffenen Rechtsrahmens in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden. Ohne Geschew aus dem Amt zu entfernen und die Staatsanwaltschaft zu reformieren, ohne Borissows pa­ralleles Gerichtssystem abzuschaffen, das er seit seinem Amtsantritt eingerichtet hatte, und ohne die von Borissow eingesetzte Antikorruptionskommission zu reformieren, die Korruption beschönigt und Borissows Gegnerinnen und Gegner schikaniert, wird kein Rechtsstaat möglich sein.«

Der Oberste Justizrat Bulgariens hatte am 10. März einstimmig beschlossen, die Prüfung von zwei Anträgen auf Entlassung Geschews aus dem Amt zu verschieben. Die Justizministerin Nadeschda Jordanowa und der ehemalige Justizminister Janaki Stoilow hatten beide Anträge gegen Geschew wegen »schwerwiegender Verstöße oder sys­tematischer Versäumnisse bei der Erfüllung offizieller Pflichten sowie wegen Handlungen, die das Ansehen der Justiz untergraben«, eingereicht. »Der Oberste Justizrat hat bei jedem Amtsmissbrauch Geschews ein Auge zugedrückt«, so Wassilewa.

Am Freitag vergangener Woche entfernte das Innenministerium die Information über die Festnahme Borissows von seiner Website. Die Staatsanwaltschaft in Sofia teilte mit, gegen Borissow werde wegen Erpressung ermittelt; die EPPO sei gar nicht zuständig und auch nicht an der Festnahme Borissows beteiligt gewesen. Ministerpräsident Petkow postete nach der Festnahme zunächst nur einen einzigen Satz auf seiner Facebook-Seite: »Niemand steht über dem Gesetz!« Später postete er noch eine längere Stellungnahme. Das Land könne sich demnach nur ohne Angst vor dem »unantastbaren Bulgarien« ändern. Damit meinte er all diejenigen, die bisher mit Korruption ­davongekommen sind, vermutlich auch die Clique um Borissow.

Die Staatsanwaltschaft scheine nicht informiert worden zu sein, weil die Regierung die Korruption mit internationaler Unterstützung habe aufdecken wollen, meint Wassilewa. Einen Tag nach der Festnahme Borissows gab Petkow weitere erklärende Hinweise: Die EPPO habe zwar eine Untersuchung eingeleitet, seine Regierung habe jedoch gewollt, dass die bulgarische Staatsanwaltschaft eine separate Untersuchung zu denselben Fakten einleite, was diese abgelehnt habe. Am 19. März räumte er zudem ein: »In Bulgarien gibt es keine unabhängige Staatsanwaltschaft.«

Petkows Partei und Antikorruptionsbewegung »Wir setzen den Wandel fort« (PP) hatte im November bei der dritten Parlamentswahl in nur einem Jahr überraschend die meisten Stimmen erhalten und regiert seit Mitte Dezember in einer Koalition mit drei anderen Parteien. PP war mit dem Versprechen angetreten, innerhalb von vier Jahren ein neues Bulgarien ohne Korruption zu schaffen. Die alte Führungsschicht möchte jedoch nicht so einfach klein beigeben. Die EPPO äußerte sich schließlich am Montag in einer Stellungnahme zu ihren Ermittlungen. Sie bestätige »den Erhalt mehrerer Signale aus Bulgarien, die schwerwiegende Vorwürfe des Betrugs mit europäischen Geldern und der systemischen Korruption gegen hochrangige Beamte enthalten«. Die Ermittlungen dauerten an, um deren ­Ergebnis nicht zu gefährden, würden weitere Details nicht bekanntge­geben.