Ein Gespräch mit dem ukrainischen Fotografen Ruslan Hrushchak

»Einen Moment später sind sie aufgewacht«

Interview Von Tobias Prüwer

Der Fotograf Ruslan Hrushchak hat die Ukraine und ihre Menschen für einen Bildband festgehalten. Dieser zeigt intime Einblicke in einen friedlichen Alltag, den es jetzt so nicht mehr gibt.

Ihr Bildband über die ukrainische Gesellschaft kommt zu einem tragischen Zeitpunkt heraus.

Für das Buch schafft der Krieg Aufmerksamkeit, die es sonst nicht hätte. Aber natürlich habe ich mir das nicht gewünscht und leide dar­unter. Das Buch hätte schon 2019 erscheinen sollen, im Berliner Peperoni-Verlag bei Hannes Wanderer. Es sollte »родина« heißen: auf Russisch »Heimat«, »Familie« auf Ukrainisch. Hannes kam auf die Idee, Gedichte mitaufzunehmen, weil die ganze Welt die Ukraine nur aufgrund von Krieg und Korruption kennt. Und für ihn stellten die Bilder etwas Warmes, ja, Frieden dar. Also habe ich die ukrainische Schriftstellerin Iryna ­Zilyk gefragt, ob sie Texte beisteuern möchte.

»Mein Fotolehrer hat immer gesagt, macht Fotos von allem, was ihr seht. Sie werden irgendwann an Bedeutung gewinnen. Bei der tragischen Realität jetzt ist das bei meinen Bildern der Fall.«

Sie ist auch Regisseurin und hat mit »Die Erde ist blau wie eine Orange« 2020 beim Sundance Film Festival einen Preis gewonnen. Ihre Gedichte sind in Schreibschrift auf Spinnenpapier gedruckt, das man sonst in alten Fotoalben findet, wo es die beklebten Seiten trennt und schützt …

Genau. Bei jedem Betrachter soll die Assoziation kommen, dass es seine Verwandten auf den Bildern, sein persönliches Album sein könnte. Der Fokus lag damals noch auf meiner eigenen Verwandtschaft. Wenige Tage bevor das Buch in den Druck gehen konnte, ist Hannes an einem Schlaganfall gestorben ist. Dann pausierte das Projekt etwas, bis ein neuer Verlag gefunden war. Und wir haben die Bilder von meiner Familie um Aufnahmen von Landschaften und Schnappschüsse erweitert.

Die Fotos halten also das Leben in der Ukraine der vergangenen zehn Jahre fest?

Damals habe ich angefangen, die Ukraine zu fotografieren. 2014 fiel mein Vater vom Dach, hatte eine schwere Rückenverletzung. Da habe ich mich gefragt: Du fotografierst jeden Scheiß, belanglose Sachen, die niemanden interessieren. Das Leben ist flüchtig, und was zeige ich meinen Kindern eigentlich von meiner Heimat und Familie? Ich wollte machen, was mir persönlich wichtig ist.

Sie haben vor allem in Droho­bytsch südlich von Lwiw foto­grafiert, wo Ihre Eltern leben.

Meine Familie ist groß und über die Ukraine verteilt. Daher bin ich drei Mal für mehrere Wochen dorthin gereist, habe alle aufgesucht und sie fotografiert. Nur in den Donbass und nach Luhansk kam ich nicht, weil damals schon die Einreisebestimmungen kompliziert waren. Es sind natürlich nicht alle im Buch drin, aber ich habe jeden fotografiert, damit ich selbst weiß, wer wer ist.

Haben Sie eine neue Beziehung zu Ihrer Familie geknüpft?

Das ist großartig gewesen. Da kommt nach vielen Jahren einer aus dem Ausland, da erzählt man sich viel. Überall bekommt man Schnaps zu trinken, Salat und Fleisch zu essen – alles, was da ist. In jeder Familie, in der du zu Gast bist, wirst du so empfangen. Da kannst du nicht ablehnen. Die Menschen sind offen. Und dann kannst du auch solche Por­träts machen, auf denen die Menschen Ruhe ausstrahlen und Würde.

Das Buch enthält auch Alltags­beobachtungen und Schnappschüsse. Wer sind die schlafenden Frauen im Zug, die auf dem Cover abgebildet sind?

Ich kenne sie nicht, das ist eines der Zufallsbilder im Buch. Es ist ganz früh am Morgen entstanden, wahrscheinlich sind sie auf dem Weg zur Arbeit. Ich fand die Szene sehr schön, habe einen Schnappschuss gemacht. Einen Moment später sind sie aufgewacht. Das ist die Vergänglichkeit des Augenblicks.

Sie wissen gar nicht, dass sie fotografiert wurden?

Nein, das war zu flüchtig. Wobei ich immer den Kontakt gesucht habe. Auch nach solchen Momentaufnahmen habe ich die Menschen an­gesprochen. Zum Beispiel mit dem Mönch, der vor dem Altar betet, habe ich mich kurz ausgetauscht. Ich habe das Foto ans Kloster geschickt und da haben sie mir geantwortet, dass der Mann an Krebs gestorben ist.

Man könnte über Ihr Buch sagen, dass es zu einer Art Erbschaft geworden ist.

Es gewinnt durch die aktuellen Vorkommnisse an Bedeutung. Mein ­Fotolehrer in Berlin hat immer gesagt, macht Fotos von allem, was ihr seht. Sie werden irgendwann an Bedeutung gewinnen. Bei der tragischen Realität jetzt ist das bei meinen Bildern der Fall.

Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?

Ich habe immer nebenbei fotografiert. Aber als ich dann so versunken in meinem Informatikalltag war, merkte ich, dass das für mich eine Weise ist, zu reflektieren und die Welt zu erfassen. So habe ich angefangen und dann festgestellt, dass mir die Fotografie wichtig ist, als ich Menschen fotografierte, die mir wichtig sind.

Sie haben Informatik studiert, führen eine Firma für Software-Dienstleistungen. Professioneller Fotograf wollten Sie nie sein?

Informatik habe ich zu studieren angefangen, als ich vor 20 Jahren der Liebe wegen nach Leipzig kam. Ich konnte kaum Deutsch, Informatik ist eine universelle Sprache. Fotografie wollte ich nicht als Hauptberuf machen, weil ich dann viele Aufträge annehmen müsste, die keine Herzensanliegen sind. In der Firma kann ich mir die Zeit relativ frei einteilen und meinem Hobby nachgehen.

Sie haben die Porträts auch für Ihre Kinder gemacht. Was sagen die dazu?

Mein älterer Sohn interessiert sich für diese Themen. Als er am Anfang der Invasion hörte, dass mein Vater sich freiwillig zur Verteidigung gemeldet hat, sagte er, das ist doch Selbstmord. Putin sei so mächtig, Gegenwehr sinnlos. Da meinte ich, dass ich stolz bin auf meinen Vater. Er wurde nicht genommen, weil er zu alt ist. Aber es ist seine Überzeugung, dass die Zukunft seiner Enkelkinder darin bestehen soll, freie Menschen zu sein. Hätten sich nicht Menschen gegen Hitler gestellt, wer weiß, in welcher Welt wir aufgewachsen wären? Darüber hat mein Sohn nachgedacht und mir zwei Tage später voller Stolz erzählt, dass er über den »Geist von Kiew« gelesen hat. Auch wenn es nicht klar ist, ob es diesen mysteriösen Kampfpiloten wirklich gibt, der am 24. Februar zehn russische Flugzeuge abgeschossen haben soll, hat sich mein Sohn mit der Geschichte identifiziert. Er hat gemerkt: Die Ukrainer geben nicht nach.

Wie schwierig ist derzeit der Kontakt zu Ihrer Familie?

Ich habe endlich erreicht, dass meine Mutter, die Schwägerin und zwei Kinder zu uns nach Leipzig gekommen sind. Wir haben sie hier auf­genommen. Mein Vater und mein jüngerer Bruder sind in der Ukraine geblieben.

Wie haben Sie als Kind den Fall des Eisernen Vorhangs erlebt?

Die Ukraine war die erste Sowjetrepublik, die die Unabhängigkeit ­erklärte. Das war für uns Kinder zumindest in der Westukraine wichtig. Wir wussten von den Großvätern vom Unabhängigkeitswillen, der ­immer da war. Mein Opa zeigte mir heimlich, wie man die blaugelbe Flagge zeichnet, hat damals eine selbstgeschriebene Zeitung mitgemacht, die sie vor dem Rathaus aufhängten. Tschernobyl war auch ein Faktor, mein Vater gehörte zu den sogenannten Liquidatoren (Katastrophenschutzkräfte, die am und im explodierten Reaktor arbeiteten, Anm. d. Red.). Und in der Zeit, als ich Kirchendiener war, hat man auf dem Kirchengelände Skelette gefunden. Das waren vom sowjetischen NKWD (der Geheimdienst, Anm. d. Red.) in den vierziger, fünfziger Jahren ermordete Menschen, die nicht mit dem Regime einverstanden ­waren. Man trug die Leichen dann in einer Prozession zu einem Massengrab. Diese Verbindung von Unabhängigkeitskampf und Menschen, die dafür ihr Leben geben, hat mich als Kind sehr geprägt. Daran muss ich in letzter Zeit wieder oft denken, wenn Putin von Demilitarisierung spricht. Die Ukrainer kämpfen um ihr Leben, das ist nicht pathetisch, das ist die Realität.

Ruslan Hrushchak: The Road Beyond. Mit Gedichten von Iryna Tsilyk, Kominek Books, Berlin 2022, 120 Seiten plus 20 Seiten Pergamentpapier, 50 Euro