Die Lockerung der Coronamaßnahmen schränkt die Risikogruppen ein

Fuck Freedom Day

Bodycheck - Die Kolumne zu Biopolitik und Alltag Von Kirsten Achtelik

Bis zum 20. März sollen fast alle Corona­maßnahmen abgeschafft werden. Für viele bedeutet das mehr Freiheit, für Risiko­gruppen das genaue Gegenteil.

Die Covid-19-Pandemie ist in einer Phase, in der die allermeisten erschöpft und gereizt sind. Der zweite Covid-Winter geht ihnen hart auf die Nerven. Daraus werden jedoch sehr unterschiedliche Schlüsse gezogen: »Querdenker« und FDPler sehen die Freiheit ­gefährdet, weil sie ohne Impfnachweis keine Schuhe kaufen können (außer in Bayern, da gehören Schuhe zu den Gütern des täglichen Bedarfs). Viele Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten sowie Eltern von kleinen Kindern haben dagegen den Eindruck, dass sie nicht zählen. Weitgehende Lockerungen bedeuten für sie, gänzlich selbst für den eigenen Schutz sorgen zu müssen.

Die vergangene Woche auf der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen schrittweisen Lockerungen – private Treffen ohne Teilnehmerobergrenze, Wegfall der Zugangskontrollen im Einzelhandel, Öffnung von Clubs und Diskotheken mit 2G-plus-Regelung – erhöhen das Infektionsrisiko zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Die Inzidenzen sind weiterhin vierstellig, die kritische Infrastruktur ist ­immer noch gefährdet, wenn zu viele Leute gleichzeitig erkranken. Zwar weiß vermutlich sowieso fast niemand, wie viele Menschen sich zurzeit privat treffen dürfen, die 2G-Regel im Handel wird nicht gerade scharf kontrolliert, und der neue Subtyp von Omikron ist so ansteckend, dass es keiner Großveranstaltungen mit 25 000 Zuschauern bedarf, um für massenhafte Infektionen zu sorgen. Aber so zu tun, als wäre das alles wieder unproblematisch möglich, sendet ein völlig falsches Signal. Man beendet Maßnahmen norma­lerweise, wenn sie nicht zweckmäßig oder nicht mehr nötig sind. Genau diesen Eindruck erwecken die Öffnungen und die Rhetorik vom »Freedom Day« am 20. März: Das Schlimmste ist vorbei, jetzt kann alles wieder zum normalen Leben zurückkehren.

Am 20. März bekommen aber nicht »wir« »unsere Freiheit« ­zurück, vielmehr gibt die Legislative die Instrumente aus der Hand, mit denen sich Risiken in der Pandemie vermindern lassen. Am 19. März läuft die Infektionsschutzverordnung aus, die die Grundlage für alle Hygieneregeln bildet. Wenn der Bundestag diese nicht verlängert, würde beispielsweise der Anspruch entfallen, wenn möglich im Homeoffice zu arbeiten. Zwar heißt es, auch nach dem 20. März solle ein »Basisschutz« möglich bleiben, was das bedeuten soll, ist aber völlig unklar. Die FDP will den Worten ihres Bundestagsfraktionsvorsitzenden Christian Dürr zufolge nur eine Verlängerung der Maskenpflicht mittragen.

In der Pressekonferenz nach dem Treffen der Ministerpräsidenten am Mittwoch vergangener Woche sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), nach den zwei langen Jahren der Pandemie habe man verdient, dass es besser werde. So mag es sich zwar anfühlen, Pandemien funktionieren aber nicht nach dem Prinzip: Wenn du deinen Teller leer isst, gibt es Nachtisch. Das Ende einer Pandemie kann man sich nicht verdienen, man kann es auch nicht einfach beschließen, wenn man keinen Bock mehr hat oder weil einem ein Koali­tionspartner so sehr auf den Zeiger geht.

Und selbst wenn: Weder die vorherige noch die jetzige Regierung haben ihren metaphorischen Teller leer gegessen. Die am stärksten gefährdeten Menschen, diejenigen, die zu den Risikogruppen gehören, hätten verdient, dass die Angst und die Gefahr jetzt vorbei ­wären. Aber gerade für sie bedeuten die sogenannten Lockerungen, dass sie sich immer weiter zurückziehen müssen, weil die Allgemeinheit sie nicht mehr schützt. Diese Leute müssen am meisten Angst davor haben, sich mit dem Virus anzustecken, sie hatten in den vergangenen zwei Jahren noch weniger Kontakte, als erlaubt waren, sind nicht gereist, waren nicht in Kneipen und Restaurants. Für sie dauern die Auswirkungen der Pandemie an, auch nach dem 20. März.

Das ist keine Freiheit, das ist das Vorspielen von Normalität auf Kosten von Menschenleben. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat immerhin dem Gerede vom »Freedom Day« ­widersprochen und in der ARD-Talkshow von Sandra Maischberger darauf hingewiesen, dass eine Rückkehr zu der Normalität vor der Pandemie nicht möglich sei. Die neue Krankheit, ansteckender und tödlicher als die Grippe, werde nicht einfach wieder verschwinden, auch wenn manche das nicht gerne hören. Unter dem Hashtag #Basisschutzmassnahmen brach auf Twitter auch sogleich ein Sturm der Entrüstung über solche Aussagen aus.

Es gibt noch keine guten Medikamente gegen Covid, es gibt noch wenig Erkenntnisse dazu, wie schlimm Long Covid ist, die PCR-Testkapazitäten in Deutschland sind viel zu niedrig, in Schulen wird weiterhin gelüftet, statt Luftfilter aufzustellen oder an guten hybriden Formaten zu arbeiten. International sind noch viel zu viele unfreiwillig ungeimpft. Maskenpflicht, kostenlose Tests, Hygienekonzepte, die Möglichkeit zum Homeoffice – das sind unter den gegebenen schlechten Bedingungen immer noch notwendige Schutzmechanismen gegen eine gefährliche Krankheit. In der neuen Normalität, nicht nach Covid, sondern mit Covid, werden diese Mittel weiterhin gebraucht. Eine Grundlage von Freiheit ist es auch, die Realität anzuerkennen und nicht zu verleugnen. Es einfach satt zu haben, ist dagegen ein schlechter Ratgeber.