Die hohe Inflation macht dem türkischen Präsidenten Erdoğan zu schaffen

War es ein guter Neujahrsvorsatz?

Die Abwertung der Lira macht der Türkei zu schaffen. Die Regierung hält mit verzweifelten »Rettungspaketen« dagegen.

Anfang Januar versuchte es die türkische Statistikbehörde, der umfassende Manipulationen vorgeworfen werden, mit etwas Ehrlichkeit: Auf rund 36 Prozent bezifferte das Amt die Inflation in der Türkei im Dezember 2021 im Vergleich zum Vorjahresmonat, während im November 2021 noch 21 Prozent gemessen worden waren. Als Grund wurde der rasche Anstieg der Erzeugerpreise genannt, der teilweise an den Einzelhandel weitergegeben wird. Sie haben sich im vergangenen Monat um knapp 80 Prozent erhöht, was wiederum am Kurssturz der türkischen Lira liegt. Die türkische Industrie ist auf den Import von Rohstoffen, Energieträgern und Vorprodukten angewiesen, so dass der Währungsverfall der vergangenen Monate zwangsläufig zum Preisauftrieb in der Türkei beiträgt.

Wie dramatisch die Lage in dem autoritär geführten Schwellenland mit seinen rund 84 Millionen Einwohnern ist, zeigt die monatliche Teuerungsrate, die im Dezember auf 13,58 Prozent stieg. Unter der Inflation leiden die Ärmsten am meisten, da sich Lebensmittel im vergangenen Jahr nach offiziellen Angaben um 43 Prozent verteuerten. Doch selbst diese Zahlen dürften das wahre Ausmaß der Geldentwertung in der Türkei nur teilweise abbilden. Türkische Oppositionspolitiker haben im Dezember Strafanzeige gegen das Statistikamt gestellt, nachdem unabhängige Analysen eine jährliche Inflation von mehr als 58 Prozent ermittelt hatten. Eine Gruppe von Wissenschaftlern und ehemaligen Regierungsmitarbeitern ermittelte gar eine Teuerungsrate von 83 Prozent – die türkische Bankenaufsicht reagierte mit Strafanzeigen gegen ehemalige Geldpolitiker und Ökonomen, da diese den Kurs der Lira negativ beeinflusst hätten.

Erdoğan nötigte die Zentralbank in den vergangenen Monaten, trotz erheblicher Inflation die Leitzinsen mehrmals zu senken, was die Teuerung noch beschleunigte.

Solche Anzeigen passen zur Ideologie des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der sich auf das Zinsverbot des Koran beruft, hohe Leitzinsen für die Ursache von Inflation hält und überall Verschwörungen wittert, die den von ihm ausgerufenen ökonomischen »Unabhängigkeitskampf« der Türkei unterminieren würden. Erdoğan nötigte folglich die Zentralbank in den vergangenen Monaten, trotz der Inflation die Leitzinsen mehrmals zu senken. Zwischen Oktober und Dezember 2021 sank der Leitzins von 18 auf 14 Prozent, was zu einem dramatischen Kursverfall der Lira führte und somit die Teuerung noch beschleunigte. Anfang Oktober konnte ein US-Dollar für rund neun Lira erworben werden, Mitte Dezember waren es schon mehr als 18 Lira.

Danach schien sich eine dramatische Wende anzubahnen. Binnen eines Tages, am 21. Dezember, wertete die Lira um rund 40 Prozent auf, so dass der US-Dollar zeitweise nur noch 11,5 Lira kostete. Dies geschah, nachdem die türkische Regierung ein »Rettungspaket« ankündigt hatte, das die Währung trotz niedriger Leitzinsen stabilisieren sollte. Unter anderem sollen demnach Lira-Spareinlagen von Privatpersonen in der Türkei eine garantierte Verzinsung erhalten, wobei die Wechselkursver­luste gegenüber dem US-Dollar notfalls durch staatliche Zahlungen ausgleichen werden sollen. Dadurch soll Sparern und Sparerinnen die Motivation genommen werden, die schwindsüchtige Lira gegen Devisen oder Gold zu ­tauschen. Doch letztlich übernimmt so der türkische Staat einen Teil des Wechselkursrisikos, was einem staatlichen Spekulationsmanöver gleichkommt, das nur dann gelingen kann, wenn die Bevölkerung Vertrauen in den neuen »Erdoğan-Dollar« (Financial Times) entwickelt. Bei fallenden Lira-Kursen muss sich die Türkei in Devisen verschulden – oder abermals die Geldmenge erhöhen.

Dass dieses riskante Manöver scheitern könnte, deutete sich Anfang dieses Jahres an, als die Lira nach ihrer spektakulären Erholung binnen einer Woche 15 Prozent ihres Wertes einbüßte, der Dollarpreis lag nun bei 13,6 Lira. Zehnjährige türkische Staatsanleihen weisen inzwischen eine Zinslast (Rendite) von 24,325 Prozent auf; vor einem Monat waren es 20 Prozent, vor vier Monaten 18 Prozent, vor einem Jahr knapp 13 Prozent. Damit wird es für den türkischen Staat immer teurer, Schulden aufzunehmen und die Differenz zwischen Währungsabwertung und garantierter Verzinsung bei Spareinlagen auszugleichen, ohne Geld zu drucken.

Überdies ist längst durchgesickert, dass die türkische Regierung die Ankündigung des Rettungspakets mit verdeckten Stützungskäufen begleitete, um die gewünschte Aufwertung der Lira zu erreichen. Die Financial Times berichtete bereits am 22. Dezember über »abgestimmte Bemühungen«, die Lira zu stützen. Insider sagten der Wirtschaftszeitung, dass die Türkei zwischen 5,5 und sieben Milliarden US-Dollar verkauft habe, um »Erdoğans Ankündigung gut aussehen zu lassen«. Nun seien die Devisenreserven, sozusagen die Kriegskasse der türkischen Notenbank, erschöpft. Das Nettoauslandsvermögen der türkischen Zentralbank (die Differenz zwischen Devisenreserven und den Verbindlichkeiten in Fremdwährungen) soll durch solche Stützungskäufe von umgerechnet 20 Milliarden US-Dollar im Oktober 2021 auf ein Defizit von 5,1 Milliarden gefallen sein.

Es mehren sich die Verzweiflungsakte: Offenbar um keinen Verlust für 2021 auszuweisen, meldete die Zentralbank am 30. Dezember eine ominöse Einnahme von umgerechnet zehn Milliarden US-Dollar – diesbezügliche Anfragen von Analysten und Journalisten blieben unbeantwortet. Spekuliert wird über schlichte Umbuchungen, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Überdies wurden Anfang Januar Banken in der Türkei angewiesen, die Zentralbank über alle größeren Fremdwährungskäufe zu informieren und ihre Kunden davon »abzuschrecken«, so Bloomberg. Das könnte der erste Schritt in Richtung Kapitalverkehrskontrollen sein, die sich die Türkei eigentlich aufgrund ihres Leistungsbilanzdefizits nicht erlauben kann. Und eben darum, um den Abbau des Leistungsbilanzdefizits, geht es Erdoğan.

Auf die sich beschleunigende Inflation mit Zinssenkungen zu reagieren, wird oftmals als schlicht irrational bezeichnet, doch weist der Verschwörungs- und Zinswahn des türkischen Präsidenten durchaus ein rationales Moment auf. Hohe Zinsen würden die Türkei schlicht in eine Rezession treiben. Erdoğan will durch die Niedrigzinspolitik die Exporte steigern und so der Türkei hohe jährliche Handelsüberschüsse verschaffen. Damit soll das langjährige Leistungsbilanzdefizit der Türkei – ihre Abhängigkeit von aus­ländischen Kapitalzuflüssen – überwunden werden. Das ist der Kern des ökonomischen »Unabhängigkeitskampfs« Erdoğans. Da das Land auf den Import von Rohstoffen und Energieträgern angewiesen ist, kann diese Exportausrichtung nur durch die Verbilligung der Ware Arbeitskraft, durch inflations­bedingte Reallohnverluste, verwirklicht werden.

Die Parallelen zur sogenannten Agenda 2010 und den Arbeitsgesetzen Hartz I bis IV, die durch Prekarisierung und die Ausdehnung des Niedriglohnsektors den Boden für die anschließenden »Exportweltmeisterschaften« Deutschlands – zumeist auf Kosten der Eurozone – bereiteten, sind evident.