Erstmals sind alle Zeichnungen von Franz Kafka in einem Buch vereint

Reduzierte Striche

Wenn Franz Kafka keine Worte mehr fand, dann zeichnete er. Ein paar wenige dieser Zeichnungen zierten bereits Buchdeckel, nun sind die insgesamt rund 150 Skizzen in einem Band erschienen.

In einem Brief an seine damalige Verlobte Felice Bauer, geschrieben in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar 1913, kurz nach dem Aufwachen, berichtet Franz Kafka von einem Traum. Dieser habe ihn an eine Zusammenkunft beider in Berlin erinnert, die Bauer zuvor in einem ihrer Briefe erwähnt hatte. Von einem gemeinsamen Spaziergang in jenem Traum schreibt Kafka: »Wir gingen zwar nicht eingehängt, aber wir waren einander noch näher, als wenn man eingehängt ist.« Wohl durch die träumerische Gestalt des Spaziergangs unfähig, dieses Eingehängtsein ihrer Arme sprachlich darzustellen, schreibt Kafka: »Aber warte, ich zeichne es dir auf«, und fügt in den Text des Briefs zwei Zeichnungen von jeweils zwei Armen ein, die das Geträumte veranschaulichen sollen. Den Brief schließt Kafka mit den Worten: »Wie gefällt Dir mein Zeichnen? Du, ich war einmal ein großer Zeichner, nur habe ich dann bei einer schlechten Malerin schulmäßiges Zeichnen zu lernen angefangen und mein ganzes Talent verdorben. Denk nur! Jene Zeichnungen haben mich zu seiner Zeit, es ist schon ­Jahre her, mehr befriedigt, als irgendetwas.«

Die »sonderbarsten Gestalten« und »Kafkaschen Kreaturen«, von denen Walter Benjamin in seinem Essay über Kafka einmal sprach, sind auch die seiner Zeichnungen.

Kafka zeichnete zu dieser Zeit zwar noch immer, jedoch nur sporadisch, vor allem in sein Tagebuch oder eben in Briefe, gerade solche – wie den an Felice Bauer –, in denen er an die Grenzen schriftlicher Darstellbarkeit stieß. Die zeichnerische Tätigkeit hingegen, die er im Brief erwähnt, fiel in etwa in die Zeit von 1901 bis 1907. Damals, während seines Jurastudiums und seines Gerichtsprak­tikums am Oberlandesgericht in Prag, zeichnete Kafka intensiv: auf Vor­lesungsskripte etwa, vor allem aber auf Einzelblätter und in sein Zeichnungsheft, das auch den Großteil derjenigen Zeichnungen enthält, die nun erstmals in dem Band »Franz Kafka – Die Zeichnungen« erschienen sind.

Vorausgegangen ist dieser Veröffentlichung ein längerer Rechtsstreit, dessen Gegenstand neben Kafkas Handschriften aus dem Nachlass auch seine Zeichnungen umfasste. Diese hatte Kafkas Freund Max Brod bereits früh zu sammeln angefangen. Manchmal entwendete er sie Kafka, der einige Zeichnungen wegwarf, da er ihnen, wie Brod in seinen Erinnerungen an Kafka schreibt, noch feindlicher gegenüberstand als seinen literarischen Hervorbringungen. Kafka starb 1924. In seinem Testament hatte er Brod gebeten, seine Zeichnungen ebenso wie seinen schriftlichen Nachlass restlos zu verbrennen. Dem kam Brod nicht nach und rettete die Zeichnungen 1939 auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten aus Prag nach Palästina.

Dort schenkte er sie später seiner Freundin, Mitarbeiterin und Sekre­tärin Ilse Ester Hoffe, die sie verwahren und später einer Bibliothek oder einem Archiv zugänglich machen sollte. Hoffe und ihre Töchter, ihre Erbinnen, verweigerten dies jedoch. 2019 ordnete schließlich das Oberste Gericht Israels auf Grundlage von Brods Testament die Herausgabe auch der Zeichnungen, die mittlerweile zum Großteil in Bankschließfächern in Zürich lagerten, an die Israelische Nationalbibliothek an, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Gänzlich unbekannt waren die Zeichnungen Kafkas bislang jedoch nicht, verwendete Brod sie doch ­bereits in den fünfziger Jahren für die Kafka-Werkausgabe, die im Schocken- und später im Fischer-Verlag erschien, auf dessen Kafka-Aus­gaben bis heute Tuschezeichnungen des Autors zu sehen sind. Die nun gesammelten ungefähr 150 Zeichnungen lassen sich anhand des Verhältnisses von Bild und Schrift grob in drei Arten einteilen: erstens eigenständige, textunabhängige Zeichnungen, wie sie auf Einzelblättern und in Kafkas Zeichnungsheft er­halten sind, die aus der Zeit seines Studiums stammen, während dessen Kafka auch kunsthistorische Veranstaltungen an der Universität besuchte und Zeichenunterricht nahm; zweitens die Zeichnungen, die Kafka in Tage­büchern, Reisetagebüchern, Notizheften und Briefen anfertigte, in ­denen sie meist in Zusammenhang mit dem Text stehen; und drittens kleine, vorwiegend ornamen­tale Zeichnungen, die aus Kafkas literarischem Schreibprozess erwuchsen.

Während sich die materiellen Träger der Zeichnungen und der Rahmen, in den sie eingebettet waren, wandelten, veränderten sich die ­Sujets der Zeichnungen, die Kafka meist mit Bleistift, seltener mit ­Tusche oder Tinte, auf Papier anfertigte, kaum: Bis auf die wenigen ­ornamentalen Figuren auf seinem Schreibpapier und die Gebäude, die er in seinen Reisetagebüchern zeichnete, sind es menschliche Gestalten und Gesichter, in ihrer häufig grotesken, clownesken und antinaturalis­tischen Überzeichnung den Figuren seiner Erzählungen und Romane nicht ganz unähnlich.

Die »sonderbarsten Gestalten« und »Kafkaschen Kreaturen«, von ­denen Walter Benjamin in seinem Essay über Kafka einmal sprach, sind auch die seiner Zeichnungen. Meist bleiben sie, wie auch der Herausgeber Andreas Kilcher anmerkt, nur Andeutungen von menschlichen Körpern und Gesichtern. Sie sind minimalistisch gehalten, manchmal nur mit wenigen Strichen, sowohl harten als auch geschwungenen Linien gezeichnet, und dabei kaum wirklich ein treues Abbild von Menschen: In ihren unverhältnismäßigen Proportionen überwiegen nicht selten die Extremitäten, die ein ­komisches Eigenleben entwickeln und, wenn sie zusammen mit anderen Dingen, etwa einem Tisch, gezeichnet sind, bisweilen in die Dinge übergehen, verschwinden oder eins mit ihnen werden. Dabei zeugen einige Figuren und Zeichnungen von ­einer Tierhaftigkeit, einer Naivität, manchmal auch einer fast schon ­unheimlichen Infantilität, wie sie auch einigen Protagonistinnen und Protagonisten in den Schriften Kafkas zu eigen ist.

Kafka verzichtet auf Hintergründe, gestaltet die Zeichnungen räumlich nicht aus, gibt ihnen also keine Tiefe. Das trägt zum fragmentarischen Charakter der Figuren und überhaupt dem Skizzenhaften des zeichnerischen Werks bei, weshalb Kilcher auch von »unbildlichen Bildern« spricht. In der Reduktion der gestalterischen Mittel aber – auch darin der Einfachheit und Buchstäblichkeit seiner Literatur ähnlich – entfalten die Zeichnungen und ihre Figuren eine enorme Dynamik.

Wiederholt Kafka Figuren auf einem Bild, reduziert er ihre Striche von Mal zu Mal so sehr, dass sie zu zerfließen scheinen; andere sind schief zu den Rändern der Blätter gezeichnet, entwachsen so dem Rahmen oder scheinen fast aus den Grenzen der Bilder hinauszuragen – insbesondere bei Figuren von großer bildlicher Dynamik, wie bei einem Reiter oder einem Fechter, den Kafka nach der im Louvre stehenden antiken Statue »Der Borghesische Fechter« aus dem ersten Jahrhundert vor Christus zeichnete. Überhaupt eignet den Figuren durch die fehlende Räumlichkeit der Bilder eine Art Schwerelosigkeit.

Sind auf einer Zeichnung mehrere Figuren, die keine Gruppe bilden, stehen sie meist in äußerster Spannung zueinander. Eine der vielleicht eindringlichsten Zeichnungen legte Kafka im Oktober 1920 einem Brief an die Journalistin und Antifaschistin Milena Jesenská bei, die auch einige seiner Texte ins Tschechische übersetzte. Kafka beschreibt die Zeichnung, die nicht zuletzt an die Folter aus seiner Erzählung »In der Straf­kolonie« erinnert, in seinem Brief: »Damit Du etwas von meinen ›Beschäftigungen‹ siehst, lege ich eine Zeichnung bei. Es sind 4 Pfähle, durch die zwei mittleren werden Stangen geschoben an denen die Hände des ›Delinquenten‹ befestigt werden; durch die zwei äußern schiebt man Stangen für die Füße. Ist der Mann so befestigt, werden die Stangen langsam weiter hinausgeschoben, bis der Mann in der Mitte zerreißt. An der Säule lehnt der Erfinder und tut mit übereinandergeschlagenen Armen und Beinen sehr groß, so als ob das Ganze seine Originalerfindung wäre, während er es doch nur dem Fleischhauer ab­geschaut hat, der das ausgeweidete Schwein vor seinem Laden ausspannt.«

Die Zerstörung und Vernichtung des Körpers, auf die die gezeichnete Folter letztlich hinausläuft, thematisiert auch Judith Butler in ihrem ­Essay »›Aber was für ein Boden! was für eine Wand!‹ Kafkas Skizzen körperlichen Lebens«, der den Band ­abschließt. Butler weist vor allem auf die eminente Bedeutung der Auf­lösung des Körpers in den Erzählungen Kafkas hin, die mit dem Erzählen selbst aufs Engste verbunden sei. So überlebe in »Das Urteil« nach dem Suizid Georg Bendemanns eine Erzählinstanz, obwohl diese zuvor mit dem Protagonisten verknüpft war, während in »Der Kübelreiter« der Ich-Erzähler sein Verschwinden überlebe, um davon zu erzählen. In der Erzählung »In der Strafkolonie« wiederum trete der Tod des Körpers »gleichzeitig mit der Vollendung des geschriebenen Satzes ein, dem Urteil, das unleserlich und tödlich am Körper vollzogen wird«.

Die Auflösung des Körpers sei zwar auch den Zeichnungen Kafkas inhärent, jedoch stellten diese darin tendenziell eher die Koordination einer synästhetischen Wahrnehmung der Körperteile in Frage und seien Kritik an der Zweckmäßigkeit des Körpers, Kritik dessen, »was die Risse überdeckt, die den Körper daran hindern zusammenzukommen, die zeigen, wie der Körper auseinanderfällt, wenn er seine Auflösung in Linie, Bewegung und Luft sucht«. Erwächst Butler zufolge in der literarischen Auf­lösung der Körper, ihrem Tod mithin, den ein Ich überlebt, eine Transzendenz, so liegt diese in Kafkas Zeichnungen vielleicht dort, wohin auch seine Figuren sich zuweilen bewegen, wohin sie tendieren: außerhalb des Bildes.

Franz Kafka: Die Zeichnungen. Heraus­gegeben von Andreas Kilcher, unter ­Mit­arbeit von Pavel Schmidt, mit Essays von Judith Butler und Andreas Kilcher. C. H. Beck, München 2021, 368 Seiten, mit 229 farbigen Abbildungen, 45 Euro