Waffengewalt in den USA

Schüsse schaden Ihrer Gesundheit

Strengere Waffengesetze lassen sich in den USA kaum durchsetzen. Demokratische Politikerinnen und Politiker wollen die konservative Blockade nun umgehen, indem sie Waffengewalt als Problem der öffentlichen Gesundheit behandeln.

»Waffengewalt ist eine Gesundheitskrise, die jeden Tag Menschenleben fordert«, sagte Gretchen Whitmer, die demokratische Gouverneurin des US-Bundesstaats Michigan, in einer öffentlichen Stellungnahme am 30. November – nur wenige Stunden nachdem ein Amokläufer in einer Schule vier Menschen erschossen hatte. Der 15jährige Ethan Crumbley hatte an jenem Tag an der Oxford High School in der Nähe von Detroit mit einer Handfeuerwaffe Jagd auf seine Mitschülerinnen und Mitschüler gemacht; der Staatsanwältin Karen McDonald zufolge hatten die Eltern des Todesschützen, James und Jennifer Crumbley, ihrem Sohn die Tatwaffe zu Weihnachten geschenkt. Auch die Eltern, die nach der Tat zu fliehen versuchten, wurden mittlerweile verhaftet. Ihnen wird fahrlässige Tötung vorgeworfen, Ethan Crumbley wird unter anderem wegen Mordes und Terrorismus angeklagt.

Der Ansatz und die Sprache der Epidemiologie sollen die verhärteten politischen Fronten aufweichen.

Nach der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts in den USA stieg die Zahl der Schießereien an Schulen wieder. 23 Schießereien wurden dem ­pädagogischen Fachmagazin Education Week zufolge seit dem 1. August gemeldet. Bereits im April sprach US-Präsident Joe Biden von einer »Epidemie der Waffengewalt«. Einem Bericht des US-Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2019 zufolge ist die Zahl der Todesfälle durch Schussverletzungen in den Vereinigten Staaten von 2015 bis 2017 um 20 Prozent angestiegen. Es handele sich um eine »sich verschlimmernde Epidemie von Todesfällen durch Schusswaffen, die geographisch und demographisch weitverbreitet ist«. Die Wortwahl ist nicht metaphorisch gemeint. Seit etwa vier Jahren wird in den USA versucht, auf andere Art gegen die Schusswaffengewalt vorzugehen – statt über Verbote denkt man nun über Epidemiologie nach.

Wie kommt es dazu? Das Recht auf Waffenbesitz ist durch den zweiten Verfassungszusatz garantiert und gilt, wie der Oberste Gerichtshofs im Fall »District of Columbia v. Heller« 2008 urteilte, für Individuen – und nicht nur für Mitglieder einer »wohlgeordneten Miliz«, mit deren Notwendigkeit dieses Recht im Verfassungszusatz begründet wird. Deshalb wollen Politiker und Politikerinnen wie Gretchen Whitmer das Thema Waffengewalt so ähnlich angehen wie Covid-19: als eine Krankheit, die es zu bekämpfen gilt. Die Notärztin Megan Ranney, die als Professorin an der renommierten Brown University in Rhode Island unterrichtet, argumentierte im März in einem Kommentar im Nachrichtenmagazin Time, dass dieser Ansatz vielversprechend sei: »Noch in den siebziger Jahren galten Autounfälle als unvermeidlich, doch die Zahl tödlicher Unfälle ist seitdem um mehr als zwei Drittel zurückgegangen«, weil »wir das Problem im Sinne der öffentlichen ­Gesundheit angegangen sind«.

Bisherige Versuche, Gewaltakte mit Schusswaffen zu verhindern, scheiterten vor allem am Widerstand der Konservativen. So verbietet beispielsweise das sogenannte Dickey Amendment, ein ­Gesetz aus dem Jahre 1996, mit öffentlichen Geldern, die die Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) für Unfallverhütung erhält, für strengere Waffengesetze zu werben. Das macht ein Umdenken erforderlich. Ranney legt mehrere Vorschläge dar, die etwas bewirken könnten: Angefangen mit der Erfassung exakter Daten und mehr öffentlichen Geldern – die 25 Millionen Dollar, die die US-Regierung im vorigen Jahr den National Institutes of Health (NIH) und den CDC zur Prävention von Todesfällen durch Schusswaffen bewilligt hat, seien »ein Tropfen auf dem heißen Stein« – bis hin zur schnellen Ausweitung effektiver Pilotprogramme und besserer Zusammenarbeit verschiedener Behörden.

Gouverneurin Whitmer will mit gutem Beispiel vorangehen und hat angekündigt, der Staat Michigan werde 75 Millionen Dollar in die Prävention von Waffengewalt investieren. Auch Rochelle Walensky, die Leiterin der CDC, unterstützt das ausdrücklich. Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass sich die CDC offiziell zu dem Problem äußern. Eine »ernste Bedrohung der öffentlichen Gesundheit« nannte Walensky die Situation. »Das Ausmaß des Problems ist einfach noch größer, als wir es wahrhaben wollen, und wenn es einem jeden Tag beim Einschalten der Nachrichten das Herz zerreißt, bekommt man doch nur die Spitze des Eisbergs zu sehen.«

Der Ansatz und die Sprache der Epidemiologie sollen nun die verhärteten politischen Fronten aufweichten. Während fast alle konservativen Politikerinnen und Politiker bislang jedwede Reglementierung von Schusswaffen strikt abgelehnt haben, hoffen nun die Bundesregierung und die Regierungen von Bundesstaaten wie Illinois, Michigan und New York, durch die Fokussierung auf die öffentliche Gesundheit einen Kompromiss zu erzielen. Maßnahmen, die auf Aufklärung, Prävention und Deeskalation zielen, sollen es möglich machen, mit den Waffenbesitzern und lobbyisten ins Gespräch zu kommen. »Es geht mir nicht um striktere Waffengesetze«, so Walensky. »Es geht mir um die Verhinderung von Gewaltakten und Todesfällen durch den Gebrauch von Schusswaffen.«

Doch die Reaktionen von konservativer Seite geben nicht viel Anlass zur Hoffnung. Als etwa Anfang des Jahres Marie Pinkney, eine demokratische ­Senatorin im Bundesstaat Delaware, dafür plädierte, die Waffengewalt in ihrem Bundesstaat als eine Epidemie zu klassifizieren, lehnte die republikanische Minderheit im Senat den Vorschlag ab. »Die Waffe ist nicht der Täter«, so der Republikaner Dave G. Lawson. »Die ­Gesellschaft trägt hier die Schuld, nicht das Werkzeug. Wenn ein Schraubenschlüssel nicht zur Schraube passt, was macht man dann? Ist daran etwa der Schraubenschlüssel schuld?«

So faszinierend Lawsons handwerkliche Ausführungen auch sein mögen, seine Kritik verfehlt den Kern der Sache. Bislang haben die Republikaner in den USA unter Berufung auf den zweiten Verfassungszusatz jede ernstzunehmende Reform des Waffenrechts blockiert, und die konservativen Medien – von Fox News bis Breitbart – äußern sich skeptisch oder gar spöttisch. Ob der epidemiologische Ansatz es ermöglicht, das Problem zu lösen, oder von den Konservativen als eine Form von rebranding abgelehnt wird, muss sich erst noch zeigen.