Im Gesundheitswesen streikten dieses Jahr vor allem Krankenpfleger

Aktive und passive Streiks

<p>Die Krankenhäuser sind überlastet.</p>

Die Krankenhäuser sind überlastet. Nicht nur die Covid-19-Pandemie führt auch in diesem Winter zu einer dramatischen Situation: Dringend benötigte Intensivbetten können nicht genutzt werden, weil es nicht genug Personal gibt. Im November waren in ganz Deutschland knapp 22 000 Intensivpflegebetten für Erwachsene verfügbar, über 5 000 weniger als ein Jahr zuvor. Immer mehr Krankenpfleger kündigen, zermürbt von den Monaten der Überlastung, aber auch, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, dass sich an Arbeitsbedingungen, schlechter Bezahlung und Personalmangel etwas ändern wird.

Die Pandemie hat den Beschäftigten in der Pflege gezeigt, dass sie auf sich allein gestellt sind, wenn sie Verbesserungen erreichen wollen. Pflegekräfte sind traditionell sehr schwer zu Arbeitskämpfen zu mobilisieren. Dennoch hat es dieses Jahr in den unterschiedlichen Bereichen des weitverzweigten Systems der Pflegearbeit Streiks, Warnstreiks, Arbeitskämpfe und andere Auseinandersetzungen gegeben. Erfolgreich waren sie vor allem in jenen Sparten, die in der Öffentlichkeit viel Beachtung finden, zum Beispiel im Krankenhaussektor, während in der Altenpflege kaum für Proteste mobilisiert werden konnte. Dort drückt sich die Unzufriedenheit der Beschäftigten eher auf passive Weise aus: Es wird immer schwieriger, Arbeitskräfte zu finden und zu ­halten. Was Arbeitgeber und Regierung »Fachkräftemangel« nennen, wird wohl bald den Betrieb noch deutlicher erschweren als jetzt schon. Neben den Angestellten werden darunter besonders die Pflegeempfänger leiden.

Die Situation ist derart angespannt, dass selbst der inzwischen von Karl Lauterbach (SPD) abgelöste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Herbst zum Arbeitskampf aufrief. Auf dem Deutschen Pflegetag am 13. Oktober in Berlin, einem jährlichen Kongress der Branche, sagte er, besonders der Arbeitskräftemangel stärke die Verhandlungsposition von Pflegekräften. »Ich möchte Sie deshalb ermuntern – nicht zum Generalstreik – sondern diesen Hebel auch zu nutzen«, sagte Spahn.

»Die Situation auf den Intensivstationen ist sehr ernst«, sagte bereits im Dezember vorigen Jahres die Krankenpflegerin Romana Knezevic, die als Betriebsrätin in einem Krankenhaus des Konzerns Asklepios in Hamburg arbeitet und Sprecherin der Hamburger Krankenhausbewegung ist, in der NDR-Sendung »Hamburg Journal«. Bereits vor der Pandemie seien die Intensivstationen in den Asklepios-Krankenhäusern in Hamburg unterbesetzt gewesen, doch dann habe sich die Lage dramatisch zugespitzt, viele Patienten könnten selbst beim Sterben nicht mehr angemessen begleitet werden. Kurz darauf sprach Asklepios der 29jährigen die Kündigung aus. Der Konzern warf Knezevic »ideo­logisch-politisch« motivierte »Falschaussagen« vor. Doch es folgten Proteste zu ihrer Unterstützung. Als der Fall im Februar vor dem Arbeitsgericht Hamburg verhandelt werden sollte, zog ­Asklepios die Kündigung überraschend zurück.

Die Tarifverhandlungen in der Pflege fanden auch in diesem Jahr vor dem Hintergrund der Mehrbelastung während der Pandemie statt. Vor allem Krankenpflegerinnen und -pfleger streikten. In Berlin einigte sich im Oktober die Gewerkschaft Verdi nach zweimo­natigem Tarifstreit inklusive Warnstreiks mit der Universitätsklinik Charité und der kommunalen Krankenhausgesellschaft Vivantes und deren Tochtergesellschaften auf einen neuen Tarifvertrag. Die neuen Tarifabschlüsse sollen die Pflegekräfte durch mehr Personal und ein System zum stärkeren »Belastungsausgleich« nach Schichten mit Unterbesetzung entlasten.

Zwei Wochen später wurde eine zweite zentrale Forderung der Berliner Krankenhausbewegung, eines Zusammenschlusses von in der Pflege Beschäftigten und ihren Unterstützern, erfüllt: Das bis dato teils erheblich niedrigere Lohnniveau bei den Tochtergesellschaften von Vivantes soll schrittweise bis 2025 zumindest annähernd an den Tarif Öffentlicher Dienst (TVöD) angepasst werden. Im ersten Schritt werden die Löhne um 2,5 Prozent erhöht. Jedoch bedeutet auch diese Lohnerhöhung, wie alle Tarifabschlüsse dieses Jahres, in Anbetracht einer Inflationsrate von 5,2 Prozent im November im Vergleich zum Vorjahresmonat eine Reallohnkürzung.

Im November kam es in mehreren Bundesländern zu Krankenhauswarnstreiks bei landeseigenen Trägern, insbesondere an Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen, aber im Laufe des Novembers auch in vielen anderen Bundesländern. Anlass waren stockende Tarifverhandlungen für bundesweit 3,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes der Länder. An den Streiks nahmen mehrere Tausend Personen teil, Ende November erfolgte eine Einigung auf zunächst 2,8 Prozent mehr Lohn.

Weniger erfolgreich waren die Bemühungen, die Arbeitsbedingungen in der Altenhilfe zu verbessern, in der es noch immer keinen einheitlichen Tarifvertrag gibt, sondern nur einen von der Regierung festgesetzten Branchenmindestlohn in Höhe von 15 Euro für gelernte und 11,80 Euro für ungelernte Pflegekräfte. Die im Sommer vom ­Bundestag beschlossene Pflegereform führt zumindest eine Tarifpflicht ein: Ab September kommenden Jahres dürfen die Pflegekassen nur noch Altenheime und ambulante Dienste finanzieren, die nach Tarif oder nach kirchlichen Regeln bezahlen. Doch wie diese Tarifregelungen aussehen werden, ist offen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in der Altenpflege besonders niedrig, es drohen für die Beschäftigten schlechte Abschlüsse. Die in der Branche wichtigen kirchlichen Betriebe fallen nicht unter das allgemeine Arbeitsrecht, in ihnen gibt es daher keine Tarifverträge, keine Betriebsräte und kein Streikrecht. Zahlreiche gewerkschaftsfeindliche Privatträger lehnen Tarifverträge ab. Mehrere große Pfle­geunternehmen reichten deshalb im September beim Bundesverfassungs­gericht eine Verfassungsbeschwerde gegen die Pflegereform ein.

Anfang des Jahres hatte die Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP), der zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt und der Arbeiter-Samariter-Bund angehören, mit Verdi einen Tarifvertrag abgeschlossen. Für Fachkräfte sah dieser einen Stundenlohn von 17 Euro vor. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wollte ihn für die gesamte Altenhilfe für allgemeinverbindlich erklären. Doch dazu hätte der Vertrag von den Arbeitgebern bestätigt werden müssen, auch von den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden. Überraschenderweise lehnte die Arbeitgeberkommission des katholischen Wohlfahrtsverbands Caritas den Vertrag ab. Dabei hätte der Flächentarifvertrag vor allem Angestellte bei privaten Trägern bessergestellt, bei denen die Bezahlung meist deutlich schlechter ist als bei den kirchlichen. Doch von dieser Situation profitiert auch die Caritas, denn so schafft sie es, auf dem leergefegten Arbeitsmarkt noch genügend Personal zu finden.

Die wichtigste Verbesserung für Beschäftigte in der Altenpflege in diesem Jahr kam nicht durch gewerkschaftlichen Druck zustande, sondern durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt Ende Juni. Das Gericht urteilte, dass die häusliche 24-Stunden-Pflege mit dem in Deutschland geltenden Branchenmindestlohn vergütet werden muss.

Die Kämpfe in der Altenpflege stehen noch am Anfang. Ob sie erfolgreich sein werden, wird auch davon abhängen, ob sich Pflegende und Gepflegte solidarisieren. Erste Schritte werden immerhin unternommen: Am Aktionstag Altenpflege demonstrierten am 17. November Beschäftigte und pflegebedürftige Menschen zusammen für bessere Bedingungen. Der Protest fand am Buß- und Bettag statt, der in den neunziger Jahren in fast ganz Deutschland als gesetzlicher Feiertag abgeschafft worden war, um den Arbeitgeberanteil zur damals neu geschaffenen Pflegeversicherung auszugleichen.

Auch eine übergreifende Solidarität zwischen den verschiedenen Zweigen der Pflege gibt es bisher nicht. Zu unterschiedlich sind die rechtlichen Grundlagen, zu verschieden auch die Interessen von Beschäftigten in der Kranken- und Altenpflege, in der Behinderten­hilfe und bei den Erziehungsdiensten.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in der Altenpflege besonders niedrig.

Ein Beispiel für diese Zerwürfnisse im Pflegebereich ist die derzeit in der Politik diskutierte sogenannte Verkammerung nach Vorbild der Ärztekammern: Alle Pflegekräfte sollen zwangsweise in Pflegekammern organisiert werden. Diese sollen die Einhaltung fachlicher Kriterien sicherstellen und die Pflege insbesondere im Verhältnis der Ärzteschaft aufwerten. Unter den Befürwortern befinden sich auffällig viele Krankenhausbeschäftigte, die sich erhoffen, dass Pflegekammern in dem bestehenden starr hierarchischen System die Interessen der Pflegekräfte ­effektiver vertreten können.

Verdi und andere Gewerkschaften lehnen Kammern ab, weil diese für Mitglieder teuer und als Interessenvertretung wenig effektiv seien. Außerdem würden sie eine Spaltung zwischen verkammerten Fachpflegepersonen und von der Kammer ausgeschlossenen Hilfspflegekräften schaffen. Eine Alternative bleibt die Selbstorganisation der Angestellten – oder eben doch der von Spahn abgelehnte Generalstreik.