Ein Gespräch mit der Soziologin Elżbieta Korolczuk über die »Anti-Gender-Bewegung« und Rechtspopulismus in Polen und Europa

»Populisten sind Experten darin, per Angst zu regieren«

Interview Von Joanna Schild

Zur Strategie ultrakonservativer Bewegungen gehört es, sich von einer sozialen Seite zu präsentieren, sagt Elżbieta Korolczuk, die unter anderem zu Zivilgesellschaft und Gender forscht. Die Rechten machen Liberale, Feministinnen und Schwule für eine von Gier dominierte Welt verantwortlich.

Rechtspopulistische Regierungen in Polen und Ungarn bezeichnen zivilgesellschaftliche Organisationen, die Menschenrechte verteidigen und die feministische oder linke Ansichten vertreten, als vom Westen kontrollierte Feinde. Die rechtsautoritäre Regierung unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat gleich nach ihrem Amtsantritt 2015 begonnen, staatliche Mittel für solche Organisationen zu kürzen und an religiöse, traditionalistische Organisationen umzuverteilen. Welche Folgen hat das?

Natürlich gibt es viele negative Effekte, aber es gibt auch positive. In Polen wird seit langem die Frage der Unabhängigkeit vom Staat, der Bürokratie und der Entfremdung zivilgesellschaftlicher In­stitutionen von Bürgerinnen und Bürgern diskutiert. Solche Organisationen sind in ihrem Tätigkeitsmodell nun auf finanzielle Unabhängigkeit ausgerichtet, sie beziehen das Geld direkt von Bürgerinnen und Bürgern, die bestimmte Kampagnen und Projekte unterstützen. Es stellt sich heraus, dass dieses Modell funktioniert und auf verschiedene Gebiete ausgeweitet werden kann.

»Zwar verwenden Anti-Gender-Be­wegungen den Begriff Neoliberal­ismus nicht, sehr wohl aber Konzepte und Elemente, die wir auch in der linken Kritik des Neoliberalismus sehen.«

Es gibt aber auch Bereiche, aus denen sich der Staat komplett zurückgezogen hat und die sich auf andere Weise nur sehr schwer finanzieren lassen. Es geht hier etwa um Hilfe für Migrantinnen, Flüchtlinge oder Opfer häuslicher Gewalt. Polen hat in diesen Bereichen seit einigen Jahren keine offizielle staatliche Strategie mehr. Alle Finanzierungen wurden ausgesetzt. NGOs, die sich mit diesen Problemen befassen, sehen sich vom Staat mit verschiedenen Arten von Schikanen konfrontiert.

Sowohl in Polen als auch in Ungarn werden enorme Geldmittel zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Aufbau regierungsfreundlicher Organisationen umgeleitet. Tatsächlich handelt es sich um einen großangelegten Diebstahl und sicherlich um ein ex­trem korruptes System. Das ist eine sehr gefährliche Tendenz. Die Kommuni­kations- und Verhandlungskanäle zwischen Zivilgesellschaft und Staat werden geschlossen und damit wird auch die Finanzierung von Hilfsleistungen beendet. Das führt dazu, dass die schwächsten und am meisten diskriminierten Teile der Gesellschaft völlig schutzlos sind. Gleichzeitig ist bei Protesten und politischen Kampagnen ein Engagement an der Basis zu beobachten. Die Massenproteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes zeigen beispielsweise, dass die Gesellschaft erwacht ist.

Viele Rechte sehen die Rolle Polens und vor allem Mittel- und Osteuropas darin, den Westen vor seinem eigenen »moralischen Verfall« zu retten und wieder zu »christlichen Werten« zu bekehren. Gleichzeitig wird mit Flüchtlingen an der polnisch-belarussischen Grenze äußerst hart umgegangen. Sie wurden ­wochenlang von Grenzsoldaten und der Armee eingekesselt. Wie passt das zu den »christlichen Werten« der Rechts­populisten?

Die Kirche in Polen ist eine politische Institution, die das gesellschaftliche Leben organisiert, aber nicht unbedingt das christliche Wertesystem, zum Beispiel Solidarität oder Nächstenliebe, fördert. Wir haben eine nationalkatholische Gesellschaft, das heißt, sie ist in eine spezifische polnische Kultur und Beziehung zwischen Religion und Nation eingebettet. Die Kirche in Polen ist also nicht so sehr der Sphäre der Werte und Ethik zuzurechnen als vielmehr der Sphäre der Politik.

Eine kleine Gruppe von Menschen, die einen fundamentalistischen Katholizismus repräsentiert, gibt den Ton an und setzt die Standards dafür, was es heißt, ein Pole und ein Katholik zu sein. Populisten sind Experten darin, per Angst zu regieren. Mit dem richtigen Propagandaapparat ist diese Angst leicht zu wecken und noch leichter zu verbreiten. Menschen, die sich fürchten, werden nicht von Barmherzigkeit geleitet.

Das Tempo der Säkularisierung ist einer Studie des Pew Research Centers zufolge in Polen von über 100 untersuchten Ländern am höchsten: Nur 16 Prozent der jungen Erwachsenen geben an, dass ihnen Religion sehr wichtig ist. Könnte sich die Rolle der Kirche in den kommenden Jahren stark verändern?

Das wird passieren, aber eher in Jahrzehnten. Die einzige politische Partei, die eindeutig fordert, die Kirche vom Staat zu trennen und ihre Privilegien einzuschränken, ist Lewica (Die Linke). Es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass sie bei den nächsten Wahlen die Macht übernehmen kann, teils aus historischen Gründen, teils wegen der politischen Polarisierung, bei der sich die gesamte mediale Aufmerksamkeit auf die beiden größten Parteien konzentriert (neben PiS die konservative Bürgerplattform, PO, Anm. d. Red.). Es gibt zwei Probleme mit der Kirche: Erstens ist sie immer noch eine mächtige Institution mit enormen Ressourcen und Einflussmöglichkeiten, vor allem in ländlichen Gebieten. Für politische Parteien ist sie aus sehr pragmatischen Gründen ein großartiger Partner. Das zweite Problem ist demographischer Natur. Wir haben in Polen ungefähr eine Million Wahlberechtigte im Alter von 18 bis 29 Jahren,aber bis zu neun Millionen über 50. Der Einfluss junger Menschen also ungleich geringer als der der Älteren, selbst in einer Situation, in der sich diese jungen Leute maximal mobilisieren lassen, wie es bei den jüngsten Wahlen der Fall war. Das Bündnis mit der Kirche zahlt sich also für die Parteien aus.

Die ultrakonservative sogenannte Anti-Gender-Bewegung ist ein transnationales Phänomen. Sie ist gekennzeichnet durch eine Verschiebung vom konservativen Antifeminismus hin zu einem viel breiteren ideologischen Konstrukt, das Kritik an liberalen Werten wie Individualismus, Menschenrechten und Geschlechtergleichheit mit der Opposition gegen den globalen Kapitalismus verbindet. Können Sie die Ideologie und die Strategie der »Anti-Genderisten« in Polen und Ungarn beschreiben? Wie unterscheidet sich diese Strategie von der in anderen Ländern verfolgten?

Länder wie die USA, Brasilien oder im europäischen Kontext beispielsweise Großbritannien sind Beispiele dafür, dass die Rechte als Befürworterin eines schlanken Staats den Neoliberalismus immer noch fördert und das mit Kulturkonservatismus verbindet. Das ist jedoch nicht überall der Fall. In Ländern wie Polen oder Ungarn präsentieren sich ultrakonservative Bewegungen und Rechtspopulisten, mit denen diese Bewegungen kooperieren, von einer sozialen Seite und bieten Unterstützung für Familien an, zum Beispiel in Form von Direktüberweisungen in Polen oder verschiedenen finanziellen Hilfsleistungen wie Krediten und Sonderzahlungen in Ungarn. Dass Populisten eine Art Umverteilung befürworten, ist nicht neu. Die Literatur spricht von »Wohlfahrtschauvinismus«, also Sozialleistungen nur für die »Unsrigen« und nicht etwa für Migranten.

Neu ist allerdings die Verbindung zwischen den kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Themen, die das Anti-Gender-Narrativ bietet. Anti-Gender-Bewegungen erzählen uns, dass wir in einer von Gier dominierten Welt leben, in der wir uns alle entfremdet fühlen, in der wir uns mit extremem Individualismus auseinandersetzen, in der Familie und lokale Gemeinschaft zerfallen et cetera. Schuld daran seien Liberale, Feministinnen und Schwule, weil sie angeblich Werte unterstützen, die zu dieser Krise geführt haben. Gleichzeitig wird diesen Gruppen vorgeworfen, von diesem Zustand zu profitieren.

Worauf fokussiert diese Kapitalismuskritik von rechts?

Zwar verwenden Anti-Gender-Bewegungen den Begriff Neoliberalismus nicht, sehr wohl aber Konzepte und Elemente, die wir auch in der linken Kritik des Neoliberalismus sehen. Sie sprechen von fehlender Gemeinschaft, exzessiver Ausbeutung, Entfremdung, Prekarisierung des Lebens. Die Rechte behauptet jedoch, das Heilmittel gegen diese Übel seien die Rückkehr zur »traditionellen Familie« mit patriarchalen Geschlechterverhältnissen, das Abtreibungs- und Verhütungsverbot und die Ablehnung der Homosexualität.

Das Motto dieser Bewegung lautet »Familien-Main­streaming«, das soziale Harmonie und wirtschaftlichen Wohlstand auf der Grundlage eines gesteigerten Bevölkerungswachstums sicherstellen soll. Dadurch, dass ultrakonservative Gruppierungen reale Probleme aufzeigen und sich mit ihren Botschaften an bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie zum Beispiel Eltern richten, können sie viele Menschen für sich gewinnen, die zumindest einen Teil ihrer Programmatik unterstützen. Das ist ein sehr wichtiges Element ihres Erfolgs. Das andere ist, dass wir es mit Populisten zu tun haben, die durch eine enger werdende Allianz mit Anti-Gender-Bewegungen die Geschlechterfragen zuspitzen.

Ein Vertreter der Anti-Gender-Bewegung ist die über Polen hinauswachsende Juristenvereinigung Ordo Iuris. Die Organisation, die hinter der jüngsten Verschärfung des Abtreibungsrechts, der Lobbyarbeit gegen LGBT+-Rechte und dem Projekt zum Austritt aus der Istanbul-Konvention steht, eröffnete kürzlich eine neue Hochschule, das Collegium Intermarium, um künftige »konservative Eliten« auszubilden und sich unter anderem mit Familienpolitik und Menschenrechtsfragen zu beschäftigen. Könnte diese Aktivität eine weitere Bedrohung darstellen, vielleicht auch in anderen europäischen Ländern?

Ja, sicher. Ich denke, die Menschen im Westen verstehen oft nicht, dass solche Bedrohungen nicht nur in Polen, sondern auch auf europäischer Ebene real sind. Die Forschung von Elena Zacharen­ko zur politischen Umstrukturierung des Europäischen Parlaments hat gezeigt, dass etwa 30 Prozent der Abgeordneten das Thema Geschlechtergleichstellung und sexuelle Rechte sehr kritisch sehen. Ordo Iuris arbeitet mit unterschiedlichen Strategien. Eine davon ist die Kuckucksstrategie, bei der die Sprache von progressiven Bewegungen, Menschen- und Frauenrechtlern übernommen und mit anderen Inhalten versehen wird. Freiheit wird beispielsweise definiert als das Recht, die Prinzipien des religiösen Fundamentalismus ­innerhalb der staatlichen Institution durchzusetzen. Wenn Sie etwa katholisch sind und eine Firma haben, können Sie einem homosexuellen Paar eine Dienstleistung verweigern, und der Staat schützt Sie, anstatt gegen Diskriminierung zu schützen.

Bei den Frauenrechten soll der Zugang zur Abtreibung weiter eingeschränkt werden. Was die Rechte von Minderheiten betrifft, so wird suggeriert, dass Katholiken eine solche Minderheit seien, selbst in Ländern wie ­Polen. Wenn wir uns also die von Ordo Iuris erstellten Berichte über religiöse Gewalt und Diskriminierung aus ideologischen Gründen in Polen ansehen, geht es darin um Katholiken und nicht etwa um eine Muslimin, die wegen des Tragens eines Hijab angespuckt wird.

Meiner Meinung nach ist diese Kuckucksstrategie sehr effektiv, insbesondere wenn neue Institutionen aufgebaut werden, um die Zusammenarbeit auf Ebene des Europäischen Parlaments und anderer europäischer Institutionen zu forcieren – zum Beispiel mit dem Collegium Intermarium. Im Laufe der Zeit werden immer mehr dieser vermeintlichen Menschenrechtsverteidiger in Entscheidungsinstanzen gelangen, um kurz danach ihre ultrakonservativen Positionen zu vertreten.

 

Elżbieta Korolczuk ist Soziologin und arbeitet an der Hochschule Södertörn nahe Stockholm und am American Studies Center der Universität Warschau. Ihre ­Forschungsinteressen umfassen soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft und Gender. Am 16. September ist ihr gemeinsam mit Agnieszka Graff verfasstes Buch ­»Anti-Gender Politics in the Populist Moment« bei Routledge erschienen.