Vormalige Linke schließen sich den »Querdenkern« an

Verquere Leute von links

Sozialdarwinismus und irre Ansichten grassieren in der Coronakrise auch unter einstmaligen Linken. Viele von ihnen haben sich den »Querdenkern« angenähert oder sogar angeschlossen.

Die »Querdenker« seien eine Bewegung, »die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht », schrieben die Soziologin Nadine Frei und die Soziologen Oliver Nachtwey und Robert Schäfer, nachdem sie die Antworten von mehr als 1 150 Anhängerinnen und Anhängern ausgewertet hatten. Viele von diesen hätten früher Linkspartei und Grüne gewählt. Publikationen aus der Szene und das Bild ihrer Aufzüge bestätigen den Befund: Zwar bewegen sich Neonazis unter den »Querdenkern« wie die Fische im Wasser, aber Linke, Esoterikerinnen und Hippies sind stilbildend. Wenn auf »Querdenker«-Demonstrationen die Hippie-Hymne »Age of Aquarius« angestimmt wird, erleben die Kameraden vermutlich einen clash of cultures.

Manche scheinen ihrer These von der Harmlosigkeit des Virus selbst nicht zu trauen. So beharren Giorgio Agamben und Clemens Heni darauf, dass es Wichtigeres gebe als das Leben.

Die Coronakrise fördert zutage, was in der Weltsicht mancher Linker immer schon oberflächlich, schräg, nach rechts tendierend oder antisemitisch war, Ausdruck notorisch verweigerter Reflexion über Nation, Staat und Kapital, sich erschöpfend in Gejammer über Lobbyisten, Neoliberalismus und Globalisierung, die Herrschaft von Heuschrecken und fremden Mächten. In den Videos von Ken Jebsen finden sich alle diese Versatzstücke. Live auf der Straße ließ sich diese Melange des Wahns Anfang August in Berlin beobachten, als mehrere Tausend »Querdenker« einen Tag lang durch die Stadt zogen. Für das kommende Wochenende sind erneut Demonstrationen in Berlin angekündigt.

Während die emanzipatorische, radikale Linke zu schwach ist, um mehr als Proteste gegen »Querdenker«-Aufmärsche zu organisieren, laufen Halb- und Bauchlinke ins Lager des Irrationalismus über. Dabei lassen sich zwei Varianten beschreiben: Die einen vertreten die »Querdenker«-Ideologie im Gesamtpaket, die anderen mimen zwar Distanz zu Nazis und Coronaleugnerinnen und -leugnern, teilen aber die zentrale Annahme vom »Coronakomplott«. Daneben gibt es noch populistische Kümmerer wie Sahra Wagenknecht, die Verständnis für Sorgen und Nöte fordert, oder Oskar Lafontaine, der sich vermeintlich für die »einfachen Menschen« gegen einen Klüngel aus Politikerinnen und Pharmalobbyisten einsetzt.

Die Übergänge sind jedenfalls fließend. So bezeichnete Wolf Wetzel, der früher zur autonomen Lupus-Gruppe gehörte, die Angst vor dem Virus als berechtigt und forderte linken Protest, der eine »rechte Vereinnahmung« ausschließt. Allerdings behauptete er, kritische Stimmen würden aus der öffentlichen Debatte ausgeschaltet, und entwickelte eine Zwei-Lager-Theorie: Eine Allparteienkoalition von der AfD bis zur Linkspartei, die den autoritären Ausnahme- zum Dauerzustand machen wolle, stünde gegen all jene, die die Maßnahmen für unverhältnismäßig hielten. Der Antifa warf Wetzel vor, sich von der Polizei instrumentalisieren zu lassen, um »Hygienedemos« zu verhindern, obwohl es doch darum gehen müsse, »gemeinsam zu begreifen, wie man die Coronazeiten zu fassen bekommt«. Unlängst rubrizierte er auf den Nachdenkseiten die »Querdenker«-Aufmärsche als »Sommer der Freiheit«, der verboten worden sei.

Tatsächlich wechselte die AfD früh die Seiten und näherte sich den »Querdenkern« an. Auch die FDP profiliert sich schon lange als Partei, die für Lockerungen eintritt. Kritiker der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie kamen in der öffentlichen Debatte von Anfang an zu Wort – zum Beispiel der Journalist Heribert Prantl oder der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier – und in jeder Talkshow wurde jede Maßnahme kontrovers diskutiert. Eine große Bühne hatte stets die sozialdarwinistische Strömung um Boris Palmer, Wolfgang Schäuble und den Unternehmensberater Alexander Dibelius. Letzterer plädierte für »Durchseuchung » und rügte, es könne nicht richtig sein, wegen einer Minderheit, die wirklich bedroht sei, 90 Prozent der Bevölkerung und die Volkswirtschaft »extrem« zu behindern.

Anselm Lenz, der die erste »Hygienedemo« organisierte, versteht sich dagegen als Linker. Er gibt die Zeitschrift Demokratischer Widerstand heraus. Lenz bezeichnet die Pandemie als fake, als Verschwörung einer Regierung, die den Zusammenbruch des Finanzmarktkapitalismus vertuschen wolle. Beim Impfen, so spekuliert er, könne es da­rum gehen, Milliarden von Menschen zu sterilisieren; träfe dies zu, wäre es »die Planung des mit Abstand größten industriell durchgeführten Verbrechens der Menschheitsgeschichte«. Obsessiv setzen er und andere Maßnahmen der Regierung mit dem NS-Terror gleich und verharmlosen damit deutsche Verbrechen.

Das folgt einer inneren Logik: »Querdenker« lieben Deutschland, sie wollen nichts von Klassen und Klassenkampf wissen, sondern schwärmen vom »sozialen Ausgleich« innerhalb der Nation. Da kann der Faschismus bloß ein Vogelschiss gewesen sein. Die FPÖ und italienische Nazis werden in der Zeitschrift Demokratischer Widerstand als Kämpfer ­gegen Coronamaßnahmen gewürdigt, völkische Ideologinnen wie Ellen Kositza erhielten ein Forum.

Ideologisch eng verbunden mit dem Demokratischen Widerstand ist die Online-Publikation Rubikon von Jens Wernicke. Beide enthalten Beiträge, in denen der Klimawandel bestritten und vom »Great Reset« fabuliert wird – einer ökosozialistischen Diktatur, die finstere Mächte angeblich planen. Das zeigt, wie weit sich diese linken Nationalistinnen und Nationalisten der AfD genähert haben.
Die Gruppe »Freie Linke« inszeniert sich mit linken Symbolen, mit rotem Stern und roter Flagge – und rühmt die »Quer­denker« als demokratische Widerstandsbewegung, raunt von Lobbyismus und Hintermännern und hat sich den Erhalt des Bargelds als Beispiel für die »Wahrung autarker Strukturen für eine freie Gesellschaft » auf die Fahnen geschrieben.

So viel zu jenen, die sich selbst noch als links verstehen, aber eigentlich lupenreine »Querdenker« sind. Vertreter der zweiten vorhin genannten Variante bemühen sich darum, trotz inhaltlicher Nähe den »Querdenkerinnen« nicht offen beizupflichten. Hier hält man das Virus für kaum gefährlicher als eine normale Grippe, die doch bloß für Alte tödlich sei. Viele halluzinieren eine Gefährdung der Demokratie, manche gar eine Faschisierung auf dem Weg der Coronamaßnahmen herbei.

Der Publizist Clemens Heni schreibt: »Wenn manche Großeltern über 60 massive Vorerkrankungen der Lunge haben, sollten sie sich ggf. von anderen, so gut es geht, fernhalten.« Am besten die Risikogruppen wegsperren – ein Ratschlag, wie man ihn auch gelegentlich von bürgerlichen Politikerinnen und Politikern hört. Heni wittert Panikmache und Massenhysterie, einen »Prä-Faschismus« und »Gesundheits-Faschismus«, bei dem die meisten mitmachten. Die Demokratie hält Heni für bedroht und liefert eine schlichte Erklärung: »Das liegt daran, dass eine Naturwissenschaftlerin Bundeskanzlerin ist (…) Naturwissenschaften sind sehr wichtig – aber in der Gesellschaft braucht es mindestens genauso stark die Sozial- und Geisteswissenschaften, die die Politik mitbestimmen müssen, wenn eine Demokratie nicht Gefahr laufen will, ein technokratischer Polizeistaat zu werden.«

Zu Recht hat Heni stets darauf verwiesen, dass sich die Shoah als deutsche Tat nicht aus Kapitalinteressen und Imperialismus ableiten lässt. Nun aber blendet er Interessen und Strukturen komplett aus, es reicht nicht mal für machtsoziologische Erklärungsversuche. Indem er die unterstellte autoritäre Entwicklung aus dem Willen eines Virologen und einer Politikerin ableitet, erweist sich Heni als einfältiger Apologet der bürgerlichen Gesellschaft, der glaubt, dass wenige große Männer und Frauen Geschichte machen.

Auch in der Broschüre »Der Erreger« vom Juni 2021 scheint der Staat losgelöst von Kapitalinteressen zu agieren; die Gefahr wird trotz Millionen von Opfer immer noch verharmlost. Dass sich die Autoren wie ordinäre »Querdenker« über eine Lappalie wie das Mas­kentragen echauffieren, zeigt, dass ihnen rationale Maßstäbe längst abhanden gekommen sind.

Gemeinsam ist linken Corona-Schwurblerinnen und -Schwurblern die oberflächliche Sicht auf Kapital und Staat. Entweder gilt der Staat als großer Leviathan, dem ökonomische Interessen einerlei sind, oder als Marionette des Kapitals, wie bei Hannes Hofbauer, einem Redakteur der Zeitschrift Lunapark 21, der einen Coup des biotechnisch-pharmazeutischen Komplexes an die Wand malt: Um dessen Aufstieg voranzutreiben und Widerstände gegen ihn zu behindern, werde die Gefährlichkeit des Virus übertrieben. Dabei haben Regierungen schon allerlei Widerstände überwunden, ohne dafür die Mehrwertproduktion einzuschränken und die Position des nationalen Kapitals in der internationalen Konkurrenz zu riskieren.

Manche scheinen ihrer These von der Harmlosigkeit des Virus selbst nicht zu trauen. So beharrt Heni ebenso wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben darauf, dass es Wichtigeres gebe als das Leben. Sowohl die christliche Religion mit ihrem »Glauben bis zum Martyrium« als auch »die politische Ideologie mit ihrer bedingungslosen Solidarität« seien aufgegeben worden, bedauert Agamben, der eine »Gesundheitsdiktatur« am Werke wähnt. Charles Eisenstein, der als ein wichtiger Vordenker der Occupy-Bewegung gilt, preist Indigene als Vorbild, die vor dem Ersticken nicht nach einem Beatmungsgerät, sondern dem Schamanen rufen würden. »Der Tod ist die Pforte zur Liebe«, schrieb er. Man möchte ihnen allen die Pest an den Hals wünschen für solchen Zynismus.