Die fast fertiggestellte Pipeline Nord Stream 2 nutzt Putin und schadet dem Klima

Volles Rohr für Putin

Die Erdgaspipeline Nord Stream 2 steht kurz vor der Fertigstellung. Das von Deutschland gegen die westlichen Verbündeten durchgesetzte Projekt schadet dem Klima und nutzt Russland.

Die Grünen haben sich als Regierungspartei in Bund und Ländern nicht unbedingt den Ruf erworben, konsequent und kompromisslos für ihre Ziele einzustehen. Wenn Annalena Baerbock sagt, sie halte die Pipeline Nord Stream 2 »nach wie vor für falsch, aus klima­politischen Gründen, aber vor allem auch geostrategisch«, und kritisiert, die am 21. Juli veröffentlichte Gemeinsame Erklärung der deutschen und US-amerikanischen Regierung zur Beilegung des Streits über dieses Projekt sei »keine Lösung – insbesondere nicht für die Sicherheit der Ukraine«, bedeutet das noch nicht, dass sie als Kanzlerin dementsprechend handeln würde.

Ausgeschlossen ist es allerdings nicht, dass Baerbock genau vor dieser Frage stehen könnte. Derzeit liegen die Grünen in Umfragen zwar etwa sieben Prozentpunkte hinter der Union, aber das kann sich noch ändern, und auch in anderen Parteien sowie den Medien wächst die Zahl der Kritiker des Projekts. Da ist es besser, sich auf den letzten ­Kilometern zu beeilen. Die Pipeline soll Ende August fertiggestellt werden, kündigte Matthias Warnig, der CEO von Nord Stream 2, im Handelsblatt an, also einen Monat vor der Wahl.

Da Russland außer fossilen Brennstoffen wenig zu verkaufen hat, kann nur eine strategische Partnerschaft im Energiesektor die gewünschten ökonomischen Verflechtungen schaffen.

Wenn der Wahlkampf sich noch von der Plagiatsexegese zu einer politischen Debatte erheben sollte, wird es wohl nicht zuletzt um den Klimawandel gehen. Und es ist offensichtlich, dass langfristige Investitionen in fossile Energie wie die zehn bis zwölf Milliarden Euro für Nord Stream 2 – für Pipelines wird meist eine Nutzungsdauer von 30 bis 40 Jahren veranschlagt – den vorgegebenen klimapolitischen Zielen von Union, SPD und Linkspartei widersprechen. Sogar der Präsident des Umweltbundesamts, Dirk Messner, warnte kürzlich, die Pipeline »könnte schnell zu so etwas wie einem Dinosaurier unter den Energieprojekten werden, denn bis 2045 wollen wir mit null Emissionen auskommen.«

Aber würden die sparsamen Deutschen eine schon fertige Pipeline einmotten, wenn dafür auch noch Schadenersatzforderungen in Milliarden­höhe drohen? Da angesichts des deutschen Einflusses wohl auch die EU-Kommission, die das Projekt noch stoppen könnte, kompromissbereit sein dürfte, wird es wohl zur Inbetriebnahme kommen. Die ökonomischen Gewinner wären dann der russische Energiekonzern Gazprom, dessen Mehrheitsanteil der russische Staat hält, sowie die westeuropäischen Konzerne Shell, Engie, OMV, Uniper und Wintershall Dea. In politischer Hinsicht profitiert vor allem der russische Präsident Wladimir Putin von dem Projekt. Ob er treue Bedienstete und Propagandisten wie den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), den Vorsitzenden des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG, mit einem Bonus belohnt, ist nicht bekannt. Den politischen Unterstützern in Deutschland dagegen, vorrangig die SPD, aber auch eine große Mehrheit in der Union, dürfte Nord Stream 2 noch Probleme ­bereiten. Die zusätzliche Transportkapazität von 55 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, die Nord Stream 2 bietet, ist überflüssig und unrentabel. »Auf der An­gebotsseite ist keine Versorgungslücke für den Fall, dass Nord Stream 2 nicht gebaut wird, zu erkennen«, urteilte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und prophezeit »hohe Verluste bis in Milliardenhöhe«. Nord Stream 2 ist ein politisches Projekt, das es Russland ermöglicht, beim Erdgasexport in die EU auf die durch die Ukraine verlaufenden Pipelines zu verzichten. Die Durchleitung wird bereits gedrosselt. 21,8 Milliarden Kubikmeter waren es nach Angaben des Gas Transmission System Operator of Ukraine im ersten Halbjahr, dies brachte 1,1 Milliarden Dollar. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 waren noch 45 Milliarden Kubikmeter durch die Pipelines geströmt.

Ohne das Transitgeschäft würden der ukrainischen Regierung dringend benötigte Einnahmen fehlen, bei zukünftigen Aggressionen müsste Russland zudem nicht mehr befürchten, dass eine Unterbrechung der Gasversorgung die europäische Kundschaft verärgert. 2024 laufen die geltenden Verträge aus. Die Gemeinsame Erklärung von Bundes- und US-Regierung verpflichtet Deutschland, sich für eine Verlängerung des Gastransitabkommens »um bis zu zehn Jahre« einzusetzen »und hierfür einen Sondergesandten zu ernennen«. Sollte Putin vor 2024 die Geduld verlieren, »wird Deutschland auf nationaler Ebene handeln und in der Europäischen Union auf effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen drängen«. Da US-Präsident Joe Biden vornehmlich daran interessiert ist, das Bündnis mit Deutschland zu erneuern, hat er die Sanktionspolitik seines Vorgängers Donald Trump aufgegeben und die Bundesregierung mit ­vagen Zusagen davonkommen lassen.

Biden folgt einer realpolitisch schlüssigen Kalkulation. Der Verzicht auf Nord Stream 2 könnte allenfalls in einer harten Konfrontation erzwungen werden, die es erheblich erschweren würde, die deutsche Kooperation in der China-Politik zu gewinnen. Weniger klar ist, warum Deutschland eisern an einem Projekt festhält, das nahezu alle westlichen Verbündeten vehement ablehnen. Die Macht der Konzerne ist keine hinreichende Erklärung. Für die Entscheidung, als »ideeller Gesamtkapitalist« mit hohem Risiko die Interessen einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern zu fördern, gibt es wohl vor allem geostrategische Motive.

SPD-Politiker preisen Nord Stream 2 gern als Fortsetzung der Entspannungspolitik in den Beziehungen zur Sowjetunion. Das mag in vielen Fällen ein ehrlich empfundener Irrglaube sein, abzüglich der Nostalgie und des ideologischen Überschwangs steht dahinter die Vorstellung, dass ökonomische Verflechtungen das russische Verhalten gegenüber Deutschland und dem Westen – wenn schon nicht gegenüber der Ukraine – mäßigen werden. In verklausulierter Form (»den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen«) vertritt auch die Union diese Haltung. Da Russland ­außer fossilen Brennstoffen wenig zu verkaufen hat, kann nur eine strategische Partnerschaft im Energiesektor solche Verflechtungen schaffen. Diese verschaffen Deutschland zudem ­größeren Einfluss auf dem Energiemarkt der EU.

Abgesehen davon, dass sich seit dem Baubeginn von Nord Stream 1 im Jahr 2005 schwerlich eine Mäßigung der russischen Außenpolitik feststellen lässt, legt Deutschland sich damit auf klimaschädliche Politik fest. Es ist mittlerweile erwiesen, dass Erdgas wegen der Freisetzung von Methan weit mehr zum Treibhauseffekt beiträgt als früher angenommen. »Wenn alle Emissionen berücksichtigt werden, dann kann Erdgas tatsächlich schlechter sein als Kohle«, urteilt der Klimaforscher Niklas Höhne vom New Climate Institute.

Der exakte Vergleichswert hängt von den Produktions- und Transportbedingungen ab. Beim Fracking wird besonders viel Methan freigesetzt, mit dieser Methode werden etwa zwei Drittel des US-Erdgases gewonnen. Obwohl Präsident Wladimir Putin das Gegenteil behauptet hat, nutzt jedoch auch Russland zumindest in der Ölwirtschaft diese Technologie und will sie weiter entwickeln. Gazprom musste kürzlich einräumen, dass am 4. Juni 2,7 Millionen Kubikmeter Erdgas aus einer Pipeline entwichen und es im Mai vier weitere bedeutende Lecks gab.

Für genaue Gesamtberechnungen fehlt die Datengrundlage, sicher aber ist »sauberes« russisches Gas keine Alternative zum »schmutzigen« Gas aus den USA. Allerdings ist auch der geplante Bau von drei Flüssiggas-Terminals in Niedersachsen und Schleswig-Holstein eine umweltschädliche Fehlinvestition – jedoch nicht in erster Linie zum Nutzen der USA. Mit etwas mehr als 16 Prozent lag der Marktanteil der USA am Flüssiggasimport der EU unter dem Russlands (20 Prozent). Zweifellos sind die USA an einer Exportsteigerung interessiert. Ausschlaggebend für die politische Unterstützung, die der Ausbau der Erdgasinfrastruktur in Deutschland genießt, dürfte das jedoch nicht sein.

Deutschland kann derzeit pro Jahr mehr als 310 Milliarden Kubikmeter Erdgas importieren, der gesamte inländische Verbrauch beträgt etwa 90 Milliarden Kubikmeter. Was als bedauerlicherweise nötiges Zugeständnis zur Besänftigung der sanktionsfreudigen USA dargestellt wird – so sprach Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) von einer »Geste an die amerikanischen Freunde« –, dient eher der Stärkung der Rolle Deutschlands als ­Handelsknotenpunkt für den Energiemarkt der EU. Bereits jetzt gibt es bei den Flüssiggas-Terminals in der EU Überkapazitäten, die Auslastung liegt unter 30 Prozent. Doch die Landes­regierung Schleswig-Holsteins hat im Haushalt 2020 zur Förderung des geplanten Flüssiggas-Terminals in Brunsbüttel 50 Millionen Euro veranschlagt, weitere 78,3 Millionen Euro an indirekten Subventionen zahlt die Bundes­regierung.

Doch sind mittlerweile verbale Zugeständnisse in der klimapolitischen ­Debatte notwendig. Über das Terminal in Brunsbüttel soll auch Wasserstoff importiert werden, Matthias Warnig kündigte an: »In zehn Jahren soll Nord Stream 2 für den Transport von Wasserstoff bereit sein.« Umweltfreundlich ist allerdings nur »grüner«, mit erneuerbarer Energie aus Wasser gewonnener Wasserstoff – derzeit etwa fünf Prozent der globalen Produktion. Bei der Gewinnung aus Erdgas hingegen wird CO2 emittiert (»grauer« Wasserstoff), das allerdings aufgefangen und gelagert werden kann. Öl- und Gaskonzerne, unter ihnen Gazprom, geben an, solchen »blauen« Wasserstoff bald zu produzieren. Das allerdings ist derzeit nur ein weiteres vages klimapolitisches Versprechen interessierter Kreise.

Ähnlich verhält es sich mit den in der Gemeinsamen Erklärung enthaltenen Zusagen, mehr für die Energiewende in der Ukraine zu tun. Deutschland soll einen Sondergesandten einsetzen, der der Ukraine bei der Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz sowie dem Kohleausstieg helfen soll. Mit den 70 Millionen US-Dollar, die ihm zur Verfügung stehen, wird er ­allerdings nicht weit kommen. Weitere 175 Millionen US-Dollar zahlt Deutschland in einen »Grünen Fonds« ein. Das wird nicht annähernd ausreichen, um einen Innovationsschub zu finanzieren.

Die Auseinandersetzung um Nord Stream 2 zeigt, wie gering die Bedeutung der Klimapolitik in der Regierungspraxis immer noch ist – und wie mächtig die durch Geschäftsinteressen bestärkte Illusion ist, Russland durch ökonomische Zugeständnisse milde stimmen zu können. Doch dessen ­Regierung ist ökonomisch auf den Export fossiler Brennstoffe und politisch auf nationalistische Mobilmachung angewiesen. Die Frage ist daher nicht ob, sondern wann Putin Energie als Waffe benutzen wird.