Die Lage im Libanon ein Jahr nach der Explosion im Hafen von Beirut

Untergang ohne Ende

Ein Jahr nach der Explosion am Beiruter Hafen verharrt die politische Kaste des Libanon in Selbstzerfleischung, während die Menschen hungern. Viele hoffen auf eine Revolution. Doch auch ein Militär­putsch scheint möglich.

2 750 Tonnen des Sprengstoffs Ammoniumnitrat explodierten am 4. August 2020 am Beiruter Hafen. Irgendwer hatte sie dort neben Feuerwerkskörpern schlecht verpackt gelagert. Warnungen von Hafenarbeitern wurden über Jahre ignoriert. Die Explosion zerstörte Beiruts schönste Stadtviertel, über 200 Menschen starben, Hunderttausende verloren ihre Wohnungen.

Damals forderten die Menschen in Beirut die Entmachtung der Politikerkaste. Papp-Parteiführer baumelten an von Protestierenden gebastelten Galgen. Doch Corona-Lockdowns zwangen die Demonstranten von der Straße. Seitdem ist alles noch schlimmer geworden: Eine galoppierende Inflation hat die Vermögen der Mittelschicht entwertet, Gehälter reichen nicht mal, um Lebensmittel zu kaufen. Medi­kamente und Benzin sind seit Monaten knapp.

Die Krise begann 2019 als Schuldenkrise und setzte sich als Bankenkrise fort. Erst konnte der Staat seine Schulden nicht mehr bedienen, die sich ­damals auf 178 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beliefen. Dann schlossen die Banken und entwerteten die Vermögen: Auch von Dollarkonten konnte man nur mehr Libanesische Pfund abheben, und zwar zum alten Kurs von 1 500 Pfund für einen US-Dollar. In den Wechselstuben zahlte man da schon 5 000 Pfund für einen Dollar, derzeit sind es 20 000. Da der Libanon die meisten Produkte importiert, sind die Preise entsprechend gestiegen.

Schon lange reichen die Gehälter nicht mehr zum Überleben. »Als Lehrerin habe ich früher umgerechnet 1 000 Dollar verdient«, erzählt Theresia in einem Videogespräch mit der Jungle World. »Heute ist mein Gehalt 80 Dollar wert.« Das ist kaum genug, um Lebensmittel für eine Woche zu kaufen. »Die Menschen überleben, weil Verwandte im Ausland etwas schicken, oder sie suchen sich Nebenjobs, die in Dollar bezahlt werden, zum Beispiel bei Nichtregierungsorganisationen.« Aus dem krisen- und bürgerkriegsgebeutelten Land sind über die Jahrzehnte viele Menschen emigriert. »Aber wer keine Verwandten am Golf oder im Westen hat, hungert«, sagt Theresia.

Einen Schnitt bei den größten Vermögen, um die Schulden zu bedienen, lehnte die Regierung ab – wie auch jeden anderen Reformvorschlag. Die französische Regierung hatte einen ­Reformplan ausgearbeitet – und wollte es sich einiges kosten lassen, das ehemalige Mandatsgebiets aus dem Schlamassel zu hieven. Der französische Präsident Emmanuel Macron war unmittelbar nach der Explosion nach Beirut gereist und hatte den Menschen sein Mitgefühl ausgesprochen, während sich die lokale Politikerkaste nicht blicken ließ. Er versprach, dass Frankreich alles wiederaufbauen werde, allerdings nur, wenn garantiert sei, dass das Geld nicht in korrupte Hände gerate. Erste Forderung der Franzosen: Innerhalb von 14 Tagen solle ein Technokratenkabinett gebildet werden.

Das ist nicht geschehen. Allein Ministerpräsident Hassan Diab trat zurück, blieb aber bisher im Amt, da man sich nicht auf einen Nachfolger einigen konnte. Das Gefeilsche um Posten geht weiter. Die Regierung agiert planlos. Jüngst hat sie die Subventionen für Diesel und Benzin abgeschafft. Das dürfte großen Teilen der verbliebenen Wirtschaft den Todesstoß versetzen. Denn während der oft stundenlangen Stromausfälle halten mit Diesel betriebene Generatoren Kühlschränke, Computer, Fahrstühle und die Wasserversorgung am Laufen.

Dass sich insbesondere die an der Regierung beteiligte Hizbollah nicht bewegt, hängt auch damit zusammen, dass der Iran den Libanon als Faustpfand bei der Neuverhandlung des Atomabkommens einsetzt. Die iranische Regierung dürfte ihren Interessenvertreter, die Hizbollah, angewiesen haben, keinen Zipfel seiner Macht abzugeben – bis die Gespräche zu ihren Gunsten ausgehen.

Auch deshalb konnte Macron in den vielen Gesprächen mit libanesischen Politikern nichts erreichen: Es geht im Libanon um viel mehr als den Libanon. Die US-amerikanische Zeitschrift Fo­reign Policy kritisiert zu Recht, dass Ma­cron stärkeren Druck hätte ausüben müssen, zum Beispiel durch Drohungen mit Sanktionen, wenn er tatsächlich Reformen hätte erreichen wollen. Allerdings ist fraglich, ob selbst die härtesten Sanktionen etwas bewirkt hätten.

Das von ehemaligen Milizenführern und Großgrundbesitzern kontrollierte politische System des Libanon ist von Grund auf korrupt. Nur eine umfassende Neugestaltung, die die bisherige Führungsschicht aufs Altenteil schickt, könnte dem Land helfen. Es heißt, die Revolutionsbewegung sammle sich wieder und hole zum großen Schlag aus.

Dass dieser gelingt, ist dem Land zu wünschen. Allerdings hat die Opposition keinen Plan und kein Personal, um die Macht zu übernehmen – das macht einen Regimewechsel fast unmöglich. Denn im Libanon geht es nicht nur darum, einen Diktator und seine Gefolgsleute zu stürzen. Es müssten vielmehr alle Politiker, die das korrupte Machtsystem stützen, entmachtet werden – das sind fast alle in Regierung und Parlament.

Auch ein anderes Szenario scheint möglich. Vor zwei Wochen fiel Joseph Aoun, der Oberbefehlshaber der Armee, mit markigen Worten auf. »Wir müssen die Sicherheit der Nation und ihre Stabilität bewahren und Chaos verhindern«, mahnte der General in einer Ansprache vor Soldaten. »Unsere Nation vertraut uns und die internationale Gemeinschaft auch. Jeder weiß, dass das Militär die einzige Institution ist, die noch funktioniert.«

Einige Beobachter vermuten darin eine verbrämte Ankündigung, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die traditionell schwache und schlecht ausgerüstete libanesische Armee scheint allerdings ein unwahrscheinlicher Kandidat für einen Militärputsch. Aber womöglich hat Macron im vorigen Jahr nicht nur Klinken geputzt, sondern auch an einem Plan B gearbeitet.