Der Film »Nomadland« ist ein zeitgenössischer Western

Wer jetzt kein Haus hat

Chloé Zhao ist mit »Nomadland« ein zeitgenössischer Western gelungen, der allerdings die Widersprüche nicht auf die Spitze treibt.

John Fords Western »The Searchers« (»Der Schwarze Falke«) aus dem Jahr 1956 eröffnet mit einer ebenso berühmt wie prägend gewordenen Szene. In einem dunklen Haus öffnet eine nur als Silhouette erkennbare Frau die Tür und gibt den Blick auf die US-­amerikanische Steppe und die ­charakteristischen texanischen Berg­formationen frei. Der Türrahmen lässt die Landschaft wie ein Gemälde erscheinen, während sich die Kamera langsam aus der häuslichen Finsternis in die helle Weite der Prärie bewegt. Nach Jahren der Abwesenheit kehrt Ethan Edwards, gespielt von John Wayne, aus dem Sezessionskrieg zurück. Das Ende des Films nimmt die so inszenierte Heimkehr in umgekehrter Richtung wieder auf: Die Kamera zieht sich in das immer noch dunkle, aber inzwischen als Symbol familiärer Sicherheit deutbare Haus zurück, die Angehörigen von Edwards begeben sich einer nach dem anderen hinein, nur der tragische Held des Films bleibt vor der Tür stehen und geht schließlich ab.

Chloé Zhaos Film »Nomadland« beginnt auf ganz ähnliche Weise. Auch hier befindet sich die Kamera im Dunkeln, allerdings in einem ­Lagerraum, in dem die Protagonistin Fern (Frances McDormand) die ­Reste ihrer Wohnungseinrichtung und persönliche Habseligkeiten aufbewahrt. Wie ein Vorhang hebt sich das Rolltor, Fern steht in der Mitte, im Hintergrund sieht man eine verschneite, karge Winterlandschaft. Lediglich eine Kiste mit Geschirr nimmt sie mit, alles andere lässt sie zurück und fährt durch die unwirtliche Steppe Nevadas davon. Fortan ist der weiße, ausgebaute Van, dem Fern den zugleich kalauernden wie für sich sprechenden Namen »Vanguard« (Vorhut, Avantgarde) gegeben hat, ihr Zuhause. Zwar wird auch hier die filmische Bewegung von der Dunkelheit ins Licht nachvoll­zogen, aber es handelt es sich nicht um eine Heimkehr, sondern um ­einen Abschied.

»Nomadland« bedient sich der Bildsprache der Weite, der Reise »gen Westen«, der Sonnenuntergänge in der Prärie; es geht um die Freiheit des Einzelgängers, die nur in temporärer Gemeinschaft aufgehoben wird.

Sowohl dem Auto als auch dem Einfamilienhaus haftet im US-amerikanischen Kontext eine geradezu mythische Bedeutung an. Während das Haus für Sesshaftigkeit und das in Besitz genommene Land steht, verbürgt das Automobil – wie einst das Pferd des Cowboys – die per­manente Möglichkeit des Weiter­ziehens. Für die »Vandwellers« ohne festen Wohnsitz fallen Auto und Haus in eins. Von ihnen erzählt das 2017 erschienene Buch »Nomadland« (»Nomaden der Arbeit«, 2019) der Journalistin Jessica Bruder, auf dem der gleichnamige Film basiert. Das Leben der modernen Nomaden spielt sich in ausgebauten Vans und Wohnmobilen ab, auf Rast- und Parkplätzen, zwischen Saisonarbeit und Gelegenheitsjobs, eingebunden in eine zahlenmäßig schwer zu überschauende, aber wachsende community von Schicksalsgenossen.

In Chloé Zhaos Film »Nomadland«, der in diesem Jahr den Academy Award in der Kategorie Bester Film erhielt, gibt es zwar den einen oder anderen Stetson-Hut zu sehen, aber kaum noch Cowboys, keine Duelle oder zu besiegende Indianerstämme und Saloons nur noch als Ruinen in Geisterstädten. Auch gibt es nur wenige Männer, und selbst die, die es gibt, wie Dave (David Strathairn), zwischen dem und Fern eine Art zaghafter ­Romanze entsteht, sind kein Grund, irgendwo zu bleiben. Dennoch wurde »Nomadland« nicht nur als Drama, sondern auch als Western angekündigt. Das ist mit Blick sowohl auf das Werk der 39jährigen, in China geborenen Regisseurin als auch auf diesen Film selbst durchaus folgerichtig.

Zhaos Erstling »Songs My Brothers Taught Me« von 2015 spielt in einem Reservat der Lakota Sioux in South Dakota. Er behandelt die Spätfolgen der Besiedlung des Westens und verdichtet sie in einem Coming-of-Age-Drama. Auch ihr zweiter Film »The Rider« (2017) zeigt die Lakota Sioux gleichsam als die letzten Cowboys. Der Film handelt von einem Pferdetrainer und Rodeoreiter, der nach ­einem Unfall aus dem geliebten, aber anachronistischen Dasein gerissen wird. Entzaubert wird dabei nicht nur das klassische Bild des Cowboys, sondern auch die romantisierende Sicht auf die amerikanischen Ureinwohner, die eher als prekär lebende, beschädigte und aus der Zeit gefallene Klasse statt als mit der Natur verbundenes Sehnsuchtsvolk dargestellt werden.

Auch »Nomadland« bedient sich der Bildsprache der Weite, der Reise »gen Westen«, der Sonnenuntergänge in der Prärie; es geht um die Freiheit des Einzelgängers, die nur in temporärer Gemeinschaft aufgehoben wird. All das setzt die ebenfalls oscarprämierte Kamera von Joshua James Richards eindrucksvoll in Szene. Ganz explizit zieht Ferns Schwester Dolly (Melissa Smith) eine Analogie zwischen dem Leben der modernen Nomaden und den Pionieren zur Zeit der Besiedlung des Westens. Die Vandwellers führten eine »amerikanische Tradition« fort.

Zugleich verschiebt der Film diese bekannten Elemente auf subtile Weise, zum einen durch die starke Präsenz weiblicher Figuren mittleren und höheren Alters und zum anderen durch den Verweis auf die ökonomischen Verhältnisse, die das Nomadentum überhaupt erst hervorgebracht haben. Wie aus den im Film erzählten Geschichten deutlich wird, begann für viele das Leben auf vier Rädern, weil im Zuge der Finanzkrise ihre Häuser rapide an Wert verloren und Massenentlassungen an der Tagesordnung waren, so dass sie ihre Hypotheken nicht mehr zahlen konnten. Die fiktive Figur Fern stammt aus der realen Stadt Empire im Bundesstaat Nevada, einer company town, die der Baustoffherstellers US Gypsum hatte errichten lassen. Doch der schloss die dortige Mine 2011 nach 88 Jahren und überließ die Stadt sich selbst; heute leben dort nur noch um die 65 Menschen. Die Gelegenheitsjobs, mit denen sich Fern und viele andere Vandwellers über Wasser halten, fallen größtenteils in den Dienstleistungssektor, daneben schlägt man sich mit sai­sonaler Erntearbeit und als Handlanger in der Logistik des Online-Versandhandels durch.

Und dennoch kennzeichnet Chloé Zhaos Modernisierung des Westerngenres eine Widersprüchlichkeit, die schon den klassischen Western auszeichnete, der in den späten dreißiger Jahren als mythisierende Erzählung der Gründung Amerikas seine klassische Form annahm. Im Western reibt sich die reale Geschichte am Mythos; dieser ist um einen, sei’s auch tragischen Held gebaut, Ausnahmen gibt es selten. In der Regel inszeniert der Western den Sieg des im Helden verkörperten Fortschritts der Zähmung der Natur – zu der sowohl die Steppen und Wälder zählen als auch, in aller Brutalität, die Menschen, die einmal dort lebten.

Zhao wiederum sieht zwar die modernen ökonomischen Krisen, lässt aber an die Stelle des mythischen Kollektivhelden das zuweilen nicht weniger romantisierende, auf größtmögliche Authentizität hin angelegte Einzelschicksal treten. Dass sie in »Nomadland« – wie auch in ihren früheren Filmen – bis auf wenige Ausnahmen mit Menschen ohne Schauspielausbildung arbeitet, die im Grunde jeweils gleichnamige Versionen ihrer selbst spielen, passt in dieses Muster, wie auch die Tat­sache, dass selbst die professionellen Darsteller im Film ihre realen Vor­namen tragen.

In den besten Momenten entfaltet diese Spannung zwischen ästhetischer Inszenierung und vermittelter Authentizität eine durchaus be­merkenswerte Wirkung, nicht zuletzt aufgrund des beeindruckenden Spiels von Frances McDormand, der es gelingt, mit den Laiendarstellerinnen subtil zu interagieren, ohne sie zu übertrumpfen. Überhaupt dient die Figur Fern häufig als Stichwortgeberin für die Geschichten von anderen. Das allerdings geschieht dann, wie in einer frühen Szene des Films, die am Lagerfeuer spielt, in einer Art gesellschaftlicher Nische.

Die individuelle, biographische Perspektive, die der Film einnimmt, neigt dazu, das widerspruchsvolle Verhältnis, in dem sich Subjekt und gesellschaftliche Struktur befinden, ins Persönliche aufzulösen, statt die Spannung zwischen beiden zu be­tonen. So spielt für Fern der unverarbeitete Tod ihres Mannes eine sehr viel größere Rolle bei ihrer Odyssee als die Schließung der Mine in Empire. Und während sie bei einem Essen mit Freunden ihrer Schwestern den zynischen Bemerkungen eines Immobilienmaklers durchaus widerspricht, sind bei ihrer befristeten Anstellung in einem Logistikzentrum von Amazon weniger die Arbeitsbedingungen als die freundlichen Kolleginnen von Belang.

Nicht zuletzt verwischt der Film die innere Differenzierung der Nomaden-community selbst. Life­style-Romantik und ökonomische Notwendigkeit werden ununterscheidbar, Selbstverwirklichung vermengt sich mit biographisch begründetem Eskapismus. Der im Film als eine Version seiner selbst auftretende Bob Wells, eine Art Guru der Vandweller-Bewegung, als der er von Fern auch mehrfach in interviewähnlichen Passagen angesprochen wird, besitzt im realen Leben einen populären, lukrativen Youtube-Kanal. So sympathisch und menschenfreundlich das genuin amerikanische, kinematographisch beeindruckend inszenierte Pathos der Freiheit und des individuellen Glücks auch ist, das »Nomadland« durchaus mit anderen Western teilt, so wenig bemüht sich der Film, die gesellschaftlichen Widersprüche, die seinen ­Gegenstand hervorbringen und ihn formen, klarwerden zu lassen; zu sehr liebt er die Harmonie.

Nomadland (USA 2020). Buch und Regie: Chloé Zhao. Darsteller: Frances ­McDormand, David Strathairn, Linda May.