Ein harter Lockdown in Kambodscha sorgt für soziale Härten und Proteste

Not und Hunger in Phnom Penh

Reportage Von Robin Eberhardt

Bis Anfang dieses Jahres hatte Kambodscha eine der niedrigsten Infektionsraten der Welt. Das hat sich geändert. Ein harter Lockdown in der Hauptstadt Phnom Penh sorgt für soziale Härten und Proteste.

In den USA und Westeuropa verliert die Pandemie mittlerweile dank mehr oder weniger erfolgreicher Impfkampagnen immer weiter von ihrem Schrecken. Es wird über Lockerungen, Urlaube und ein Zurück zur Normalität diskutiert. Das öffentliche Interesse gilt weltweit seit einigen Wochen Indien, wo es zu einem rapiden Anstieg der Infektionszahlen und infolgedessen faktisch zu einem Zusammenbruch des Gesundheitssystem kam. International weitgehend unbeachtet aber gibt es in Südostasien eine zweite Infektionswelle, die ihren Ausgang vermutlich in Kambodscha nahm und dort auch die verheerendste Auswirkung auf die Bevölkerung hat.

Zu Beginn des globalen Ausbruchs der Pandemie im Frühjahr 2020 kam das südostasiatische Land zunächst gut zurecht. Der langjährige autokratische Herrscher Hun Sen nahm anfangs die Erkrankung nicht sonderlich ernst und bekam weltweite Aufmerksamkeit, als er dem Kreuzfahrtschiff »Westerdam« nach mehrwöchiger Irrfahrt am 12. Februar die Einfahrt in den Hafen in Sihanoukville erlaubte und die erleichterten Gäste beim Verlassen des Schiffs persönlich willkommen hieß.

»Hun Sen und seine regierende CPP folgen den traditionellen Patronagemustern, in denen Macht und Herr­schaft durch Verteilung von Ressourcen legitimiert sind.«
Markus Karbaum, Politologe

Trotz der Skepsis in Kambodschas Regierungskreisen wurden zur gleichen Zeit Schutzmaßnahmen wie Masken- und Abstandspflicht getroffen sowie verbesserte Hygieneregeln eingeführt. Zudem annullierte die Regierung die Visa für ausländische Besucher, was die Tourismusindustrie schwer traf. So ging die Anzahl touristischer Besucher während des ersten Quartals 2021 um knapp 94 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal des Vorjahrs zurück, von 1 155 226 auf 70 901. Wer doch in das Land einreisen wollte, musste in eine 14tägige Quarantäne, für die spezielle Hotels eingerichtet wurden. Neben diesen Maßnahmen wurde eine sehr weitreichende Notstandsgesetzgebung in Kraft gesetzt, die Hun Sens autoritärer Regierung noch mehr Rechte einräumte und das Parlament weitgehend entmachtete.

So kam Kambodscha recht ungeschoren durch den Sommer, auch im Winter schien das Land von dem Virus weitestgehend verschont zu bleiben. Bis Januar verzeichnete das Königreich die weltweit viertniedrigste Infektionsrate. Doch Ende Februar schoss die Infektionsrate in die Höhe. Bis zum 20. Februar hatten sich in Kambodscha gerade mal 516 Menschen mit dem Virus infiziert, es war kein einziger Todesfall bekannt. Am 15. Mai sprach das Gesundheitsministerium von 21 834 positiv Ge­testeten und 147 an Covid-19 Gestorbenen.

Wie konnte es zu einem so dramatischen Anstieg kommen? Die Behörden führen den Ausbruch auf zwei junge Frauen zurück, die während ihrer Quarantäne Wächter bestochen haben sollen, um ihr Hotel zu verlassen; die beiden sollen sich vor ihrer Ankunft mit der hochinfektiösen Variante B.1.1.7, auch als britische Mutation bekannt, angesteckt haben. »In Kambodscha gab es die erste Covid-19-Krise erst spät – im Februar 2021 haben zwei chinesische escorts die Wächter eines Quarantänehotels bestochen und sich über mehrere Nächte ins damals noch offene Nachtleben der Reichen und Schönen gestürzt. Unbemerkt hat sich das Virus von da an ungehindert verbreitet, und als der Skandal nach Tagen aufflog, war es nicht mehr aufzuhalten«, sagt Tassilo Brinzer, deutscher Verleger und Vorsitzender der Eurocham, der europäischen Handelskammer in der Hauptstadt Phnom Penh, unter Berufung auf kambod­schanische Presseberichte.

In den ersten Wochen des Mai de­monstrierten Bewohner der roten Zonen und forderten auf Schildern: »Reduziert die Mieten in den roten Zonen um 50 Prozent.«

Als Reaktion wurden zum 1. April Reisen zwischen den Provinzen eingeschränkt, größere Versammlungen verboten, der Ausschank und Verkauf von Alkohol wurde untersagt und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. In Phnom Penh wurde ein wegen der Pandemie geschlossenes Hotel in ein Krankenhaus mit 500 Betten umfunktioniert, weil die Betten in den vorhandenen Krankenhäusern knapp wurden. Als diese Maßnahmen die Lage nicht unter Kontrolle bringen konnten, wandte sich Ministerpräsident Hun Sen an die Bevölkerung: »Bitte, meine Landsleute, schließt euch unseren Bemühungen an, um dieses Ereignis zu beenden. Wir sind bereits am Rande des Todes, und wenn wir nicht zusammenarbeiten, gehen wir dem Tod buchstäblich entgegen.«

Mitte April wurden die Maßnahmen weiter verschärft. Über Phnom Penh und das angrenzende Ta Khmau, Hauptstadt der Provinz Kandal, wurde am 15. April ein kompletter Lockdown verhängt, die Bewohner durften ihre Häuser nicht mehr verlassen, außer um zum Arzt zu gehen. Selbst um zur Arbeit zu kommen, brauchten sie eine Genehmigung. Zudem mussten alle Märkte in der Stadt schließen. »Der Grund für den Lockdown ist, die Verbreitung von Covid-19 zu bekämpfen«, sagte Hun Sen.

Wenige Tage nach dem Beginn des Lockdowns wurde die Hauptstadt in verschiedene Zonen – gelb, orange und rot – eingeteilt. In den gelben und orangefarbenen Zonen durften die Bewohner sich außerhalb ihrer Wohnung bewegen und mit einer Genehmigung noch zur Arbeit, in den roten Zonen war das Verlassen der Wohnung ohne Erlaubnis komplett untersagt. Um dies durchzusetzen, wurde ein neues Gesetz erlassen, das harte Strafen für Vergehen gegen die Maßnahmen vorsieht. Die Polizei richtete Checkpoints ein, an denen kontrolliert wird, ob die Leute eine Erlaubnis haben, die sich innerhalb der Stadt zu bewegen.

»Wir müssen den Distriktgouverneur um Erlaubnis fragen, damit unsere Mitarbeiter zur Arbeit kommen dürfen. Da müssen wir aber unter der Hand Geld zahlen, 50 Dollar pro Angestelltem. Kambodscha ist eines der korruptesten Ländern der Welt«, sagt Kong Sothanarith, Redakteurin der Phnom Penh Post und Geschäftsinhaberin.

Diese harten Einschränkungen für die Bevölkerung haben vor allem den informellen Sektor getroffen und damit die ärmsten Bewohner der Stadt. Von einem Tag auf den anderen verloren sie ihre Verdienstmöglichkeiten. Außerdem konnten sie sich nicht mehr auf den lokalen Märkten mit günstigen Lebensmitteln versorgen. »Viele Menschen, insbesondere arme Familien, können sich Essen nicht mehr leisten«, sagt Kong. Da diese Familien keine finanziellen Rücklagen haben, konnten sie auch vor Beginn des Lockdowns ihre Nahrungsmittelvorräte nicht aufstocken. »Wenn sie in der roten Zone leben, können sie kaum zehn Tage überleben«, so Kong.

Als nach einigen Tagen offensichtlich wurde, dass viele Menschen in Phnom Penh an Hunger leiden, richtete die Stadtverwaltung eine Telegram-Gruppe ein, in der Bedarf an Lebensmitteln angemeldet werden konnte. Innerhalb kürzester Zeit hatte die Gruppe über 48 000 Mitglieder; mehrfach wurde die Möglichkeit, in der Gruppe zu schrei­ben, gestoppt, weil die Stadtverwaltung der Anfragen nicht Herr wurde.

Um die Versorgungskrise zu meistern, wurden Nahrungsmittel, zumeist Reis und Fischkonserven, an die notleidende Bevölkerung ausgegeben und staatliche Nahrungsmittelverkäufe in den roten Zonen organisiert. Das konnte zwar die ärgsten Nöte einiger Hauptstadtbewohner lindern, doch Kritiker bemängeln das Vorgehen der Behörden. Sie werfen der Verwaltung vor, politisch unliebsame Bewohner würden bei den kostenlosen Essensausgaben ausgelassen, die zum Kauf zur Verfügung gestellten Waren würden bei dem Regime nahestehenden Firmen geordert und so werde die Cliquenwirtschaft auch in der Krise weitergeführt.

Ende April kam es in Teilen der Stadt, auch in roten Zonen, zu Protesten, bei denen hauptsächlich eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln gefordert wurde. Im Verlauf des Lockdowns haben sich Bewohner der Hauptstadt selbst Hilfe über Facebook-Gruppen organisiert, trotz großer Anstrengungen hat diese jedoch nur wenige Tausend Bedürftige erreicht. Die Stadtverwaltung und das Regime haben die Hilfe von NGOs nicht in Anspruch genommen.

»Hun Sen und seine regierende CPP (Cambodian People’s Party, Anm. d. Red.) folgen damit den traditionellen Patrona­gemustern, in denen Macht und Herrschaft durch Verteilung von Ressourcen legitimiert sind. Außerdem kann so kontrolliert werden, wer davon profitiert. In dieser Logik hätte die Involvierung von NGOs bedeutet, eine Konkurrenz um Legitimation zuzulassen und freiwillig auf Macht zu verzichten«, erläutert der Politologe Markus Karbaum, Kambodscha-Experte aus Berlin. Er räumt aber auch ein, »dass die kambodschanische Regierung im Rahmen ihrer haushaltspolitischen Möglichkeiten angemessen auf die wirtschaftliche und soziale Notlage reagiert hat. Damit wurde das Schlimmste verhindert. Ob das alles ausreicht, bleibt abzuwarten.« Das sei aber kein spezifisch kambodschanisches Problem.

»Die Regierung tut, was sie kann. Die öffentliche Verwaltung war schon vor der Krise oft überfordert beziehungsweise schlecht ausgestattet, sowohl finanziell als auch mit fähigen Mitarbeitern, und versucht auszuhelfen, wo es geht. Doch die Vernachlässigung der staatlichen Kapazitäten in den guten Jahren, von 2010 bis 2019, macht sich nun bei der Krisenbewältigung bemerkbar«, ergänzt Brinzer.

Neben dem informellen Sektor trifft der Lockdown auch die Textilindus­trie hart. Die Textilfabriken, neben dem Tourismus der zweite wirtschaftliche Hauptbereich des Landes, waren gezwungen, ihren Betrieb einzustellen. Viele dieser Fabriken liegen in der roten Zone und auch viele ihrer Arbeiter haben dort ihre Unterkünfte. Den Textilarbeitern fehlt somit der Lohn, sie können sich kein Essen mehr leisten und die Miete nicht mehr bezahlen. Oftmals müssen sie ihre Verwandten auf dem Land um finanzielle Unterstützung bitten. In normalen Zeiten läuft es umgekehrt: Die in den städtischen Textilfabriken Beschäftigten unterstützen mit ihrem Gehalt die Verwandtschaft in den Provinzen.

Diese Umstände haben in den ersten Wochen des Mai zu weiteren Demons­trationen geführt, Bewohner der roten Zone versammelten sich und forderten Mietminderungen. Auf Schildern verlangten sie: »Reduziert die Mieten in den roten Zonen um 50 Prozent.« Schnell war die Polizei an Ort und Stelle und trieb die Demonstrationen auseinander. Nuon Pharath, Vizegouverneur von Phnom Penh, sagte den Protestierenden, sie verstießen gegen die Lockdown-Vorschriften und sollten nach Hause gehen. Er sei nicht gegen die freie Meinungsäußerung, aber jetzt gehe es darum, Leben zu retten.

Angesichts der verheerenden Lage veröffentlichte Amnesty International (AI) eine Erkläung. »Der ungeheuerliche Umgang der kambodschanischen Regierung mit den Covid-Lockdowns führt zu unermesslichem Leid und weitreichenden Menschenrechtsverletzungen im ganzen Land«, schrieb Yamini Mishra, Regionaldirektorin für Asien-Pazifik von AI. »Momentan hungern Bewohner der roten Zonen wegen der grundsätzlich unvernünftigen Maßnahmen. Die Regierung muss dringend ihren Kurs ändern und mit NGOs und UN-Vertretern zusammenarbeiten, um humanitären Zugang zu den roten Zonen zu ermöglichen.«

Obwohl die Zahl der täglichen Neuinfektionen kaum zurückgeht – in Phnom Penh liegt die Zahl bei rund 500 Neuinfizierten pro Tag, eine hohe Rate für Kambodscha – und die Provinzen immer mehr Ansteckungen melden, lockerte die Regierung den Lockdown Anfang Mai. Am 24. Mai wurden die staat­lichen Märkte für den Verkauf grundlegender Nahrungsmittel wieder eröffnet. Ein Ende der gesundheitlichen Krise ist nicht in Sicht.

»Ohne eine breite Impfkampagne wird Kambodscha das Virus nicht mehr los. In der Zwischenzeit gilt es, die gängigen Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Gleichzeitig hat die Regierung die Aufgabe, die Grundversorgung zu gewährleisten, was bei notorischer staatlicher Ineffizienz und endemischer Korruption schon schwer genug ist«, so Karbaum.

Ein Großteil der städtischen Bevölkerung sei mit chinesischen Vakzinen geimpft, doch das Impfprogramm gehe zu langsam voran und der Ausbruch in Indien habe die Impfstofflieferungen im Zuge des Covax-Programms eingeschränkt, berichtet Brinzer aus Phnom Penh. Der Verleger hofft, dass die »internationale Gemeinschaft« und vor allem reiche Länder wie Deutschland einspringen und Kambodscha mehr Impfstoff zukommen lassen, sonst riskiere man, dass die Gelder für die Entwicklungshilfe in den vergangenen Jahrzehnten verloren seien.

Trotz Lockerung des Lockdowns scheint auch ein Ende der humanitären Krise noch fern zu sein, auch wenn das Leben in der Hauptstadt langsam wieder Fahrt aufnimmt. In den Wochen des Lockdowns ist die Verschuldung der ärmeren Bevölkerung angestiegen und die Wirtschaft hat starke Einbrüche zu verzeichnen. »Insbesondere die untersten Einkommensgruppen, der sogenannte informelle Sektor, leiden unter der Krise. Vieles von dem Geld aus dem Tourismus, und seit Februar 2021 auch aus der bislang starken Baubranche, kommt nicht mehr bei den Arbeitern und kleinen Angestellten an«, erklärt Brinzer. »Je länger die Krise andauert, desto mehr Unternehmen gehen pleite, und damit verschwinden die Gehälter der Angestellten: Eine schreckliche Spirale beginnt, die das Land unter Umständen dorthin zurücksetzen kann, wo es 2007 war – auf null«, befürchtet er.

Weil die Grenzen zu den Nachbarländern Thailand und Vietnam geschlossen sind, haben die dort beschäftigten kambodschanischen Wanderarbeiter keine Möglichkeit, ihren Verdienst in ihr Herkunftsland zu bringen und dort die Schulden ihrer Familien zu begleichen. »Damit verlieren in der Krise viele jeden finanziellen Rückhalt und wohl auch in naher Zukunft ihr Land, ihre Häuser und damit ihren mühsam erworbenen Wohlstand«, ergänzt Brinzer.

»Kambodscha muss dringend ein Privatinsolvenzrecht einführen, um so der vererbten Schuldknechtschaft und moderner Sklaverei den Nährboden zu entziehen«, empfiehlt Karbaum. Zudem bedürfe es einer stärkeren Kontrolle der Mikrofinanzinstitute, von denen viele kaum ihrer Sorgfaltspflicht bei der Prüfung der Kreditwürdigkeit nachkämen, so dass viele in die Schuldenfalle gerieten.

Kambodscha habe in den vergangenen Jahrzehnten große Erfolge in der Armutsbekämpfung erzielt, so Brinzer. Der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, sei zwischen 2007 und 2014 von knapp 50 Prozent auf 13,5 Prozent reduziert worden. »Die Covid-19-Krise trifft diese Erfolge hart, und es besteht das Risiko, dass das Land in mehreren wichtigen Bereichen um eine Dekade zurückgeworfen wird.«