Proteste bringen den kolumbianischen Präsidenten Iván Duque in Bedrängnis

Duque in der Defensive

Die Proteste in Kolumbien reißen nicht ab. Längst geht es nicht mehr gegen die Steuerreform, sondern gegen die Regierung von Präsident Iván Duque, die das Land in eine Krise geführt hat. »Weg mit Duque« ist eine zentrale Parole.

»Vaya se« (Hau ab), rufen mehrere Männer einem Polizeioffizier in Siloé am Donnerstagnachmittag vergangener Woche hinterher. »Die Stimmung ist angespannt, aber ruhig«, berichtet David Gómez, der in diesem Stadtteil von Cali lebt. Überall im Zentrum des Viertels, das zu den ärmsten der drittgrößten Stadt Kolumbiens zählt, lagern Menschen und warten. Neun Tage halten die Proteste hier schon an, so Gómez, der ein paar Ecken weiter ein Stadtteilmuseum betreibt, in dem es um die Geschichte der Menschen geht, die hier leben: um Verdrängung, Jugendkultur und darum, wie der lokale Bürgermeister Bedürfnisse der jüngeren Bewohner ignoriert.

Gerade die Jüngeren sind es, die die Proteste in Siloé anführen. Der Stadtteil gehört zu den Schwerpunkten, an denen sich die Wut entlädt und die landesweit Schlagzeilen machen. »Vier Tote, 19 Schwerverletzte und viele Leichtverletzte, das ist die Bilanz der letzten Tage in Siloé. Hier sind nach wie vor Straßen blockiert, gerade haben wir einen Polizeioffizier vertrieben«, sagt David Gómez. Die Proteste in Siloé gehen weiter, obwohl ihr ursprünglicher Auslöser seit mehreren Tagen vom Tisch ist: die geplante Steuerreform der Regierung von Präsident Iván Duque. Unter anderem sollten Steuerfreibeträge gesenkt, die Einkommenssteuersätze für bestimmte Gruppen erhöht und die Befreiung von der Mehrwertsteuer für eine Reihe von Waren und Dienstleistungen abgeschafft werden.

Gegen diese Steuerreform fanden seit dem 28. April überall im Land Proteste statt. Es sind nicht nur die durch die Pandemie und ihre Folgen extrem geschädigten Armen, die dagegen opponieren, auch die Mittelschicht protestiert – darunter viele Wähler des Präsidenten. Am vorvergangenen Sonntag wurde die Steuerreform zurück­gezogen, tags darauf trat Finanzminister Alberto Carrasquilla zurück.

Nicht erst seit diesem Zeitpunkt ist Duque ein Präsident mit desaströsen Zustimmungswerten. Bereits im Herbst 2019 gingen weite Teile der Bevölkerung in Kolumbien auf die Straße, um gegen die öffentliche Unsicherheit und die stetig steigende Anzahl von Morden zu protestieren – oft Morde an jenen, die wegen sozialer und politischer Themen protestieren und sich für Umweltschutz und Menschenrechte einsetzen. Auch damals legten die Proteste das Land lahm, auch damals töteten gewalttätige Polizisten Protestierende. Zum Symbol der Bewegung wurde der Student Dilan Cruz, den Sondereinsatzkräfte der Polizei (Esmad) erschossen hatten. Menschenrechtsorganisationen fordern seither die Auflösung der martialisch auftretenden Spezial­einheit Esmad.

Zu Recht, wie Videos, Fotos und die Zahlen belegen. 34 Tote, 89 »Verschwundene«, zehn Vergewaltigungen und 831 ungerechtfertigte Festnahmen meldete ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen unter dem Hashtag #SOSColombia am Donnerstagabend voriger Woche, am Freitagmorgen waren es bereits drei Tote mehr. Zu ihnen zählt auch Nicolás Guerrero, der am 2. ai in Cali von einer Kugel aus einer Polizeiwaffe in den Kopf getroffen wurde. Sein Foto ist seitdem landesweit auf den Demonstrationen und Blockaden zu sehen.

Cali gilt als Epizentrum der Proteste, in Siloé kam es am Donnerstagabend voriger Woche zu wahren Horrorszenen. Videos von David Gómez und anderen Aktivisten zeigen zwei Lastwagen, die auf die Straßenblockaden zusteuern; aus ihnen springen nichtuniformierte bewaffnete Männer und beginnen zu schießen. »Das sind Polizisten in Zivil, sie massakrieren uns«, ist im Hintergrund zu hören. Derartige Szenen heizen die Proteste weiter an, sorgen allerdings auch dafür, dass internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Europäische Union sowie etliche Menschenrechtsorganisationen und Staaten sich mit Appellen an die Regierung in Bogotá wenden, die Menschen- und Bürgerrechte zu schützen.

Der erzkonservative ehemalige Präsident Álvaro Uribe twitterte hingegen am 30. April: »Wir unterstützen das Recht von Soldaten und Polizisten, ihre Waffen zu benutzen, um ihre körperliche Unversehrtheit zu verteidigen sowie Menschen und privates Eigentum vor kriminellen Aktionen des vandalischen Terrorismus zu schützen.« Zwar sperrte Twitter den Account Uribes, doch der ist nicht nur der politische Mentor des derzeitigen Präsidenten Iván Duque, sondern auch der Vorsitzende des Centro Democrático, der Regierungspartei, und vernetzt mit rechten paramilitärischen Milizen.

Die internationale Kritik hielt Duque nicht davon ab, Hunderte Soldaten nach Cali zu entsenden und darauf zu pochen, dass die militärische Unterstützung »in der Verfassung verankert ist«. Nun kreisen Militär- und Polizeihubschrauber über den rebellischen Vierteln. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai, der blutigsten in Cali, waren immer wieder Schüsse zu hören. Trotzdem gehen die Proteste weiter, täglich sind Tausende Menschen auf Demonstrationen und bei den Straßenblockaden.

Vor allem Jugendliche aus der Mittel- und Unterschicht brächten ihre For­derungen zum Ausdruck, so Reinel García von der Kinderrechtsorganisation Creciendo Unidos. »Cali und die Pazifikküste mit der Hafenstadt Buenaventura wurden in den vergangenen Jahren sich selbst überlassen. Morde, Massaker, organisierte Kriminalität und Perspektivlosigkeit prägen die Region und auch das benachbarte Cauca. Der Protest ist wie das Ventil bei einem Dampfdrucktopf«, meint der Sozial­arbeiter aus Bogotá, dessen Organisation landesweit tätig ist.

Diese Einschätzung teilt Stefan Peters, Direktor des deutsch-kolumbianischen Friedensinstituts (Capaz): »Allerdings sind Gewerkschaften oder Studentenorganisationen auch überrascht, wie breit und unorganisiert die Proteste sind – das ist genauso neu wie die Breite des sozialen Protests, der landesweit stattfindet.« Der richte sich direkt gegen Duque, der für die verheerende Menschenrechtslage, die ökonomische Krise und Reformen verantwortlich gemacht werde, die Mittel- und Unterschicht hart treffen. »Die Empörung über die Regierung ist ex­trem, sie ist greifbar, der Wunsch nach Veränderung ist da«, so Peters.

Die Regierung steht unter Druck, doch ihre Verhandlungsangebote werden kaum ernst genommen. Das hat seinen Grund: Bereits im Herbst 2019 und Frühjahr 2020 fanden Verhandlungen statt, aber die Regierung war damals zu keinerlei Zugeständnissen ­bereit. Das hätten die Menschen nicht vergessen, meinen Stefan Peters und Reinel García übereinstimmend. Ohnehin hat sich Duque Zeit gelassen, sich mit den Organisationen zu treffen, die zum Generalstreik aufriefen. Das Treffen ist erst für den 10. Mai anberaumt; bis dahin dürfte die harte Repression unvermindert weitergehen. Die Angst vor dem Ausnahmezustand ist groß. Iván Cepeda, Senator des linken Polo Democrático Alternativo, hat bereits die Frage gestellt, ob Duque einen echten Dialog mit der sozialen Bewegung wolle oder nur ein »nutzloses Gespräch, um den Streik zu schwächen«.