Identitätspolitik als Voraussetzung emanzipatorischer Fortschritte

Es geht um alles

Identitätspolitik ist nicht nur eine Reaktion auf Diskriminierung und Marginalisierung, sondern auch die Basis für radikale Politik.

Identitätspolitik schießt mitunter weit übers Ziel hinaus und nimmt skurrile Formen an. Wenn Menschen heutzutage etwa wegen des Vorwurfs, in Jugendjahren Blackfacing betrieben zu haben, ihren Job verlieren oder Personen mit heller Haut wegen ihrer Dreadlocks aggressiv an den Pranger gestellt werden, dann ist das zweifellos kritikwürdig. Sobald Identitätspolitik zur essentialistischen Repräsentationspolitik wird, bei der Hautpigment und Hormon­status mehr Gewicht haben als politische Haltungen und Argumente, ist der Unterschied zu rechten Konzepten des Ethnopluralismus nicht mehr groß. Dennoch machen es sich die meisten Kritikerinnen und Kri­tiker der Identitätspolitik viel zu leicht. Wer, wie Sahra Wagenknecht, die emanzipatorischen Kämpfe zur bloßen »Marotte« erklärt und sie dem Klassenkampf entgegensetzt, verkennt ihre Ursprünge ebenso wie ihre Bedeutung für die Kämpfe der ­Linken.

Wer, wie Sahra Wagenknecht, die emanzipatorischen Kämpfe zur bloßen »Marotte« erklärt und sie dem Klassenkampf entgegensetzt, verkennt ihre Ursprünge ebenso wie ihre Bedeutung für die Kämpfe der Linken. 

Linke Identitätspolitiken sind Reaktionen auf Diskriminierung. Menschen werden kollektiv identifiziert, und diese Identifizierungen erfolgen im Kontext gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse, sie werden institutionell abgesichert und im Alltag reproduziert. Als Frau oder als Schwarzer kategorisiert zu werden, hat Auswirkungen, die der oder die Einzelne nicht selbst kontrollieren kann, etwa auf Verdienstmöglichkeiten oder auf die Chance, eine Wohnung zu finden. Die Gefahr, von Faschos verprügelt zu werden, ist abhängig von der Herkunft. Linke Identitätspolitiken reagieren kollektiv auf diese strukturellen Diskriminierungen. Auch wenn das Fernziel die Auflösung aller Identitätskategorien sein mag, strategisch ist es unumgänglich, sich auf diese zu beziehen. Emanzipatorischen Identitätspolitiken geht es also ums Ganze. Für die Bewegung »Black Lives Matter«, die sich als Antwort auf rassistische Polizeigewalt in den USA gegründet hat, geht es um Leben und Tod.

Geprägt wurde der Begriff »Iden­titätspolitik« von einer Gruppe schwar­zer, lesbischer Frauen in Boston, dem Combahee River Collective. In einem 1977 veröffentlichten Manifest nahmen sie ihre spezifische Unterdrückung zum Ausgangspunkt für den Kampf gegen Ausbeutung. In der sozialistischen Bewegung wurde die mehrfache Ausbeutung gar nicht thematisiert. Es ging ihnen also darum, den Kampf für soziale Gleichheit auszuweiten, nicht darum, ihn aufzugeben. Die Gruppe vertrat die Auffassung, dass soziale Ungleichheit immer auch kulturelle Formen annimmt.

Doch seither wird der Begriff Identitätspolitik in der Regel gar nicht als Selbstbezeichnung verwendet, stattdessen ist er zum neuen Schlagwort des Feuilletons avanciert und an die Stelle der zum reaktionären Kampfbegriff verfemten »Political Correctness« getreten. Angriffe auf die Identitätspolitik tarnen sich als Kritik an vermeintlichen »Marotten«, an Yogakursen, an denen bald nur noch Asiaten und Asiatinnen teilnehmen dürften, an Mensaessen, das als kulinarische kulturelle Aneignung skandalisiert wird. Meist geht es dieser Kritik um die Diffamierung und Diskreditierung von Demokratisierungskämpfen sozialer Bewegungen. Denn sie erklärt die Auswüchse zum Kern der Sache. Doch der Kern ist immer der Kampf um Partizipation, Gleichheit und Gerechtigkeit.

Sahra Wagenknecht verweigert diesen Partizipationsforderungen jede Solidarität, wenn sie ausgerechnet die ultrarechte polnische Regierungspartei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) für ihre Sozialpolitik lobt. Auch der Feminismus wird von ihr offenbar als verzichtbar erachtet. Dabei erscheint es gerade angesichts der großen Mobilisierung etwa gegen das Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen in Polen (das nach der Türkei nun ebenfalls den Austritt aus der Istanbul-Konvention plant) wenig plausibel, Geschlechterfragen zum bloßen Nebenwiderspruch zu erklären. Schließlich stellt der Feminismus, etwa mit der argentinischen »Ni una menos«-Bewegung (gegen Männergewalt), derzeit auch global die wohl einflussreichste identitätspolitische Widerstandsbewegung.

Dass hingegen die sozialdemokratische Linke keine Massen mehr mobilisieren kann, liegt nicht an einer separatistischen Identitätspolitik, die angeblich den Klassenkampf abgelöst hat, weil sie sich auf die Luxusprobleme der »Lifestyle-Linken« (Wagenknecht) oder der »kosmopolitischen Eliten« (Cornelia Koppetsch) kapriziert hätte. Vielmehr hat die neoliberale Wende der sozialdemokratischen Parteien seit den neunziger Jahren dazu geführt, dass sich die Sozialdemokratie nicht länger glaubwürdig für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Zudem hängen große Teile der Linken einem antiquierten Verständnis der Arbeiterklasse an, in dessen Zentrum der männliche Industriearbeiter steht. Offenbar ist er auch Wagenknechts Prototyp des proletarischen Subjekts. Die Interessenspolitik der sogenannten einfachen Leute, die neuerdings auch wieder die »Normalen« (Wolfgang Thierse) genannt werden, darf freilich nie als Identitätspolitik bezeichnet werden. »Die Normalen« mit ihrem Universalismusanspruch genießen das Privileg, alles andere als vermeintlich identitätspolitischen Partikularismus verurteilen zu können.

Doch nicht dieser Partikularismus, nicht die gerne genannte Forderung nach dem Unisex-Klo treibt die Leute in die Arme der ultrarechten Parteien, wie so oft behauptet wird. Rassismus und rechtes Ressentiment sind keine bloße Reaktion auf die nervige Identitätspolitik kleiner, aber mächtiger Minderheiten und sie sind auch keine Notwehrstrategien als Folge eigener Deklassierungserfahrungen – sie sind gesellschaftliche Strukturprobleme.

Die Kritik an Identitätspolitik beinhaltet überdies den Vorwurf einer »Sensibilisierung des Selbst« (Andreas Reckwitz). Das Resultat seien lauter snowflakes, die sich mit Hilfe von cancel culture am liebsten nur noch in ihre safe spaces zurückziehen würden, eine Unterstellung, die angesichts der brutalen Angriffe, der viele marginalisierte Menschen ausgesetzt sind, besonders perfide ist. Übergriffe auf Migrantinnen, antifaschistische Aktivisten, die von Neonazis bedroht werden, Feministinnen, deren Wortmeldungen verlässlich unzählige Hassreaktionen provozieren, die nicht selten konkrete Gewaltandrohung einschließen – dünnhäutig darf man da nicht sein. Ein Shitstorm von links, egal wie berechtigt er ist, wird hingegen als identitätspolitische cancel culture gebrandmarkt. Doch es sollte eine demokra­tische Selbstverständlichkeit sein, den Sexismus alter weißer Männer zu kritisieren, auch wenn sie Linke sind. Oder den Rassismus und Antisemitismus einer Kabarettistin, der sich als künstlerisch-freigeistiger Tabubruch geriert, tatsächlich jedoch das kalkulierte (und einträgliche) Kokettieren mit der Mehrheitsmeinung ist. Diese Kritik mag manchmal zu aufgeregt und apodiktisch sein. Aber in welchem Verhältnis stehen diese Misstöne zum diskursiven Einfluss derjenigen, die diese Auseinandersetzungen immer noch dominieren? Welches Gewicht hat das Wort einer »Black Lives Matter«-Aktivistin auf Twitter gegen all die gut gebuchten Bestsellerautorinnen und -autoren wie Thilo Sarrazin oder Svenja Flaßpöhler, die sich zensiert wähnen und in unzähligen Interviews und Talkshows lautstark den Verfall demokratischer Debattenkultur beklagen? Auch wenn die Feuilleton-Debatten anderes suggerieren: Identitätspolitik als hyperaufgeregte Verbotspredigt ist weiterhin die Ausnahme. Die Regel waren und sind unverzicht­bare emanzipatorische Kämpfe, die ein notwendiges Korrektiv darstellen, um auf die blinden Flecken linker Bewegungen hinweisen, um für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen. Auch für soziale.