Sabine Bösing, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, im Gespräch über die Lage Wohnungsloser in der Pandemie

»Wir brauchen Wohnraum für alle«

Interview Von Alexandra Gehrhardt

Eine deutliche Zunahme der Wohnungslosigkeit durch die Folgen der Pandemie ist zu erwarten, deshalb sei verstärkte Prävention notwendig, damit Menschen ihren Wohnraum gar nicht erst verlieren, sagt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.

Sind Wohnungslose in der Pandemie eine vergessene Gruppe?

Im März vorigen Jahres galten wohnungslose Menschen als Hochrisikogruppe, die Einrichtungen und Dienste der Wohnungslosenhilfe wurden politisch und gesellschaftlich nicht wahrgenommen. Es ist dann Aufmerksamkeit entstanden, aber Wohnungslose werden nach wie vor zu wenig berücksichtigt.

Der Lockdown im März hat die Wohnungslosenhilfe erheblich eingeschränkt, zudem ist es fast unmöglich geworden, durch Betteln oder Pfandsammeln ein Einkommen zu erzielen. Die BAG W forderte schnell Maßnahmen. Wie ist Ihre Bilanz?

Wir haben uns zu Beginn der Pandemie an die Einrichtungen und Dienste vor Ort gewandt und aus den Rückmeldungen einen Forderungskatalog mit Sofortmaßnahmen erstellt. Eine der wichtigsten Forderungen war, die Belegungsdichte in den Unterkünften zu verringern und mehr Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Für die Unterbringung sind ordnungsrechtlich die Kommunen zuständig; man hat dann auch gesehen, dass sie handelten, dass also etwa Hotels, Jugendherbergen und Hostels zur Unterbringung in Einzelzimmern oder Zweibettzimmern genutzt wurden. Das ist aber nicht überall passiert, es zeigt sich ein heterogenes Bild im Bundesgebiet. Es gab also Bereiche, in denen gehandelt wurde, aber dies geschah bei weitem nicht in ausreichendem Maß. Klar war auch, dass die Grundversorgung der Menschen mit Essen, Zugang zu sanitären Einrichtungen, Kleidung et cetera zu sichern ist. Vieles davon mussten die Einrichtungen selbst regeln, sie wurden damit alleingelassen. Sie haben kreativ reagiert, Lunchpakete ausgegeben, durch das Fenster Beratung und Postausgaben wieder aufgenommen, Masken besorgt.

Wie ist die Lage derzeit?

Das geschieht jetzt wieder. Vor dem »Lockdown light« haben wir gefragt, wie gut sich die Einrichtungen auf den Winter vorbereitet fühlen. Da sagten 21 Prozent, dass sie Unterstützung durch die Kommunen haben, aber 40 Prozent sagten: Wissen wir nicht. Das kann nicht sein, weil klar war, dass die Infektionszahlen wieder steigen werden. Im Sommer wurden die Hotels wieder wie ursprünglich genutzt und die Wohnungslosen mussten sie verlassen. Später mussten wegen der Belegungsdichte Kapazitäten in den Einrichtungen heruntergefahren werden. Abgesehen davon, dass eine Unterbringung im Einzelzimmer schon in Normalzeiten gewährleistet sein sollte, ist jetzt klar: Wir brauchen mehr Unterkünfte, die rund um die Uhr geöffnet sind. Und so etwas muss vor dem Winter geregelt werden und nicht erst, wenn der Winter da ist.

Was bedeutet es für Betroffene, in dieser Situation eine Hilfe wieder zu verlieren?

Wenn es keine Alternative gibt, bedeutet es, wieder zurück auf die Straße zu müssen und Risiken ausgesetzt zu sein, was ja durch zusätzliche Unterbringungskapazitäten und Schutzmaßnahmen vermieden werden sollte.

Es gibt seit Monaten Warnungen, dass dieser Winter gefährlicher ist, weil Wohnungslose den Sommer nicht nutzen konnten, um Kraft zu tanken. Die Sorge ist auch, dass mehr Menschen auf der Straße sterben.

Diese Sorge kann ich verstehen. Die Frage ist natürlich: Wie können wir alle Menschen so gut versorgen, dass sie in diesem Winter klarkommen, der ja jetzt auch härter als in den vergangenen Jahren geworden ist? Dazu kommt, dass gerade die niedrigschwelligen Einrichtungen viel umstellen mussten und dadurch für manche fast zu hochschwellig geworden sind. Man kann nicht mehr einfach in einen Tagesaufenthalt gehen, denn es gibt Vorschriften: Maskenpflicht, Desinfektion, Kontaktdaten – das sind auch Hürden. Da ist die Frage: Nehmen die Menschen die Angebote an?

Die Bereitstellung von Notfallinfrastruktur – Kältezelte oder Hotelzimmer – geht oft auf NGOs, Kirchengemeinden und Privatinitiativen zurück. Hält sich der Staat zu sehr raus?

Ja. Die Einrichtungen haben uns zurückgemeldet, dass 70 Prozent der Ausgaben für die notwendigen Maßnahmen von ihnen selbst oder aus Spenden finanziert werden und nur 30 Prozent durch Kommunen und andere Leistungsträger.

Was müssten die Kommunen, die Länder und der Bund tun?

Sie müssen ihrer Aufgabe gerecht werden und Quarantänemaßnahmen, Schutzausrüstung und Möglichkeiten zur Verfügung stellen, sich 24 Stunden im Warmen aufzuhalten. Dabei ist auch wichtig, dass es für Frauen und Familien eine hohe Sensibilität und geschützte Räume gibt. Wir fordern, die Wohnungslosenhilfe wie Pflege und Gesundheitsdienste als systemrelevant anzuerkennen, und in dieser Hinsicht ist bis heute so gut wie nichts passiert. Wir kämpfen auch um Testungen. Es muss sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich mehr präventiv getestet werden, auch bei den Mitarbeitenden. Wohnungslose müssen Zugang zur Impfung erhalten. Wenn man sieht, wie die Impfzentren aussehen sollen, fragt man sich, ob der Zugang für wohnungslose Menschen so überhaupt möglich ist. Man muss die Angebote so gestalten, dass sie genutzt werden können.

Wie sieht es in finanzieller Hinsicht aus?

Unsere Befürchtung ist, dass der soziale Bereich von Kürzungen bedroht sein könnte. Wir sehen schon Anzeichen dafür, dass die Finanzierung für Projekte und Einrichtungen nicht verlängert werden soll. Diese Finanzierung muss aber sichergestellt werden, ebenso wie die der Angebote zur Versorgung besonders schutzbedürftiger Menschen. Außerdem muss es das große Ziel sein, weiter Wohnungen zu bauen und zur Verfügung zu stellen, um Wohnungslosigkeit zu lindern. Wir müssen gar nicht weiterreden, wenn da nicht sehr viel passiert. Wir brauchen Wohnraum für alle, in dem Menschen selbständig leben können.

Das fordert die BAG W ja schon lange. Wo liegen die Probleme?

Wenn man sich die Wohnungspolitik ansieht, wird deutlich, dass Gelder für den sozialen Wohnungsbau nicht in der notwendigen Form genutzt werden. Es fallen immer mehr Wohnungen aus den Sozialbindungen, es wird zu wenig getan, um diese Bindungen zu erhalten und neue Wohnungen zu bauen. Wir brauchen Wohnungen für Menschen, die wohnungslos sind. Auch hier geht es um Zugänge: Für jemanden, der keine Wohnung hat, ist es besonders schwierig, eine zu finden. Wir befürchten eine deutliche Zunahme der Wohnungslosigkeit durch die Folgen der Pandemie, deshalb brauchen wir verstärkte Prävention, damit Menschen ihren Wohnraum gar nicht erst verlieren, sondern rechtzeitig Unterstützung bekommen. Wir sagen, dass zum Beispiel Zwangsräumungen gerade nicht vollzogen werden dürften, was aber wieder passiert.

Aus anderen Ländern, zum Beispiel Finnland, werden Erfolge mit dem Ansatz »Housing First« gemeldet. Die Wohnung gilt nicht als etwas, wofür man sich qualifizieren muss, sondern als Voraussetzung dafür, andere Probleme anzugehen. Auch in Deutschland wird dieser Ansatz bekannter. Wie vielversprechend finden Sie ihn?

»Menschen brauchen Wohnraum« – das war und ist in der Wohnungslosenhilfe immer das oberste Ziel. Es ist gut, dass durch »Housing First« Schwung in die Debatte kommt. Die Grundvoraussetzung ist aber: Wir brauchen Wohnungen und einen politischen Willen. Die Frage ist, wie die Projekte gestaltet werden. Sie sind oft zeitlich befristet – und was ist danach? Wir haben in Deutschland eine Sozialgesetzgebung, die dazu verpflichtet, für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten »Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen«; das steht in Paragraph 67 SGB XII. Das ist in anderen Ländern nicht so. Die Frage ist eher, was ein Mensch braucht und welches Angebot für ihn passend ist. Es gibt Menschen, die sagen: Ich habe mein Zimmer und meine Ruhe, ich kann meinen Hund mitbringen, das genügt mir erst einmal. Und es gibt Menschen, die sagen: Ich brauche eine Wohnung und dann geht es mir gut. Da sollten wir die Vielfalt der Angebote, die wir zur Verfügung stellen können, zu schätzen wissen, und vor allem den wohnungslosen Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Träger waren schon immer bemüht, Wohnraum zu akquirieren und ihn Menschen anzubieten, die Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu bekommen. Das konnten sie aber irgendwann nicht mehr tun, weil sie keinen Wohnraum mehr fanden.

 

boesing

 

Sabine Bösing ist stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) und Fachreferentin für den Bereich »Frauen in einer Wohnungsnotfallsituation und medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen«. Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt, die BAG W schätzte sie im Jahr 2018 auf 678 000. Die Situation der Betroffenen in der Covid-19-Pandemie noch schwieriger geworden, da Hilfsangebote eingeschränkt werden und Möglichkeiten wegfallen, Einkommen zu erzielen.