Peru befindet sich in einer tiefen politischen Krise

Staatsstreich durch den Congreso

Das peruanische Parlament hat den populären Präsident Martín Vizcarra abgesetzt, weil dieser vielen Abgeordneten ihre Pfründe zu nehmen drohte.

Am Sonntag brach ein Sturm des Jubels auf der Plaza San Martín am Rande der Altstadt von Lima aus. Nach mehreren Tagen großer landesweiter Proteste verkündete Manuel Merino seinen »unwiderruflichen Rücktritt« als Interimspräsident von Peru. Die Proteste erschüttern Peru seit dem 9. November. Da hatte das Parlament, der Congreso de la República, Präsident Martín Vizcarra per Misstrauensvotum mit 105 von 130 Stimmen wegen »permanenter moralischer Unfähigkeit« seines Amtes enthoben.

»Merino ist nicht mein Präsident« wurde bei den folgenden Demonstrationen, denen sich immer mehr Menschen anschlossen, zur zentralen Parole. Die Polizei schirmt den Sitz des Parlaments am Rand der Altstadt von Lima weiträumig ab, zahlreiche Parlamentarier werden auf offener Straße als korrupt und als Totengräber der Demokratie beschimpft. Zu Recht, meint der Jurist Carlos Rivera Paz von der renommierten Menschenrechtskanzlei IDL: »Für mich ist das ein verdeckter Staatsstreich. Die Legislative hat die Exekutive gegen den Willen der Wähler entmachtet.« Vizcarra kommt in Umfragen auf fast 80 Prozent Zuspruch in der Bevölkerung.

Merino ist Mitglied der konservativen Acción Popular. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Vetternwirtschaft; er hat seine Mutter und zwei Brüder mit lukrativen staatlichen Aufträgen versorgt. Seit März ist Merino Parlamentspräsident, er verfügt über exzellente Kontakte ins Fujimori-Lager. Alberto Fujimori regierte Peru von 1990 bis 2000 als Diktator, seine Tochter Keiko Fujimori ist Vorsitzende der wichtigen Partei Fuerza Popular.

Monatelang wirkte Merino darauf hin, Vizcarra zu Fall zu bringen und eine konservative Regierung zu installieren. Früh hatte er sich um die Unterstützung der Armee bemüht und innerhalb des Parlaments an einer Mehrheit gegen Vizcarra gearbeitet. Am 18. September war ein erstes Amtsenthebungsverfahren gegen Vizcarra gescheitert, am 9. November hatte Merino Erfolg. Dabei nutzte er das parlamentarische Procedere, um sich selbst an die Spitze des Landes zu setzen, ein Recht, das Merino als Parlamentspräsident zufiel. Mit Vizcarras Absetzung stieg er verfassungsgemäß zum Interimspräsidenten auf. Für die fragile Demokratie in Peru ein neuerlicher Rückschlag, wie der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa kritisierte. »Der Kongress hat die Verfassung beschädigt«, sagte der Schriftsteller der Tageszeitung La República. »Ein Präsident kann beschuldigt werden, aber gegen ihn kann erst am Ende seines Mandats ermittelt werden.«

Vizcarra wird beschuldigt, während seiner Amtszeit als Gouverneur der Region Moquegua öffentliche Gelder veruntreut zu haben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft stehen noch ganz am Anfang, konkrete Beweise liegen nicht vor. Vizcarra hat mehrfach versichert, dass es auch keine geben werde. Doch das hat die große Mehrheit der Parlamentarier, darunter auch einige der linken Partei Frente Amplio, nicht gehindert, gegen ihn zu stimmen.

Es erscheint weitaus wahrscheinlicher, dass die Abgeordneten sich des Präsidenten aus ganz anderen Gründen entledigen wollten: Vizcarra bedrohte mit seinem Vorgehen gegen Korruption die Pfründe vieler Parlamentarier. Er wollte die parlamentarische Immunität von Abgeordneten beschneiden. Gegen 68 Abgeordnete des Congreso laufen Ermittlungsverfahren wegen Korruption.

Vizcarra war der erste Präsident seit 1990, der sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hatte – wenn auch zögerlich. Erst nachdem investigative Journalisten, allen voran die Redaktion IDL-Reporteros, die Ausmaße von Korruption und Vetternwirtschaft in Politik und Justiz im Laufe des Jahres 2019 aufgedeckt hatten, kündigte der Präsident Reformen gegen Bestechung und Veruntreuung an. Vizcarra, ein typischer Technokrat, war erst durch den Fall seines wirtschaftsliberalen Vorgängers Pedro Pablo Kuczynski in den Präsidentenpalast eingezogen, unter dem er Vizepräsident war. Der 2016 gewählte Kuczynski war im März 2018 wegen Korruptionsvorwürfen im Kontext des Odebrecht-Skandals und wegen eines drohenden Misstrauensvotums zurückgetreten.

Vizcarra regierte Peru alles andere als spektakulär, aber ohne Skandale und deutlich transparenter als seine Vorgänger. Das und auch seine umsichtiges Vorgehen zu Beginn der Covid-19-Pandemie, als die Regierung schnell einen lockdown verhängte, haben ihm viel Zuspruch in der Bevölkerung gebracht.

Vizcarra stand sicherlich nicht für große Zukunftsentwürfe, aber für Verlässlichkeit. Das habe ihn von vielen seiner Vorgänger unterschieden, von denen sich alle seit 1990 wegen Korruption zu verantworten hatten, so Carlos Monge, Historiker und Analyst in Lima. Er sagt: »Zentral dabei war der brasilianische Baukonzern Odebrecht, der Politiker auf allen Ebenen und eben auch im Präsidentenpalast mit dicken Briefumschlägen schmierte.« Dieser in Lateinamerika beispiellose Korruptionsskandal hat in Peru die korrupten Strukturen im Establishment ans Licht gebracht; investigative Redaktionen wie IDL-Reporteros, aber auch Ojo Público trugen Wesentliches dazu bei.

Zunächst hatte die korrupte Fuerza Popular mit ihrer Parlamentsmehrheit im Sommer 2019 Vizcarras Reformvorhaben blockiert. Daraufhin löste Vizcarra im September desselben Jahres das Parlament im Einklang mit der Verfassung auf und setzte Neuwahlen für ­Januar 2020 an, um mit neuen Abgeordneten einen ­politischen Neuanfang und strukturelle Reformen einzuleiten. Das Experiment ist mit der Absetzung Vizcarras gescheitert. Im Parlament wurden ihm auch Versäumnisse im Kampf gegen die Pandemie vorgeworfen. Diese Vorwürfe seien haltlos, sagt der Entwicklungsexperte Carlos Herz. »Die hohe Zahl der Covid-19-Toten in Peru (rund 35 200 Montag, Anm. d. Red.) hat strukturelle Ursachen. Wir haben ein unter­finanziertes und desolates Gesundheitssystem. Dafür ist Vizcarra nicht verantwortlich.«

Weitaus eher ist er ein Opfer der politischen Strukturen und der systemimmanenten Korruption im Land. Die ist das Grundproblem und der Sturz Merinos wird daran wenig ändern. Am Montag wählte das Parlament Francisco Sagasti vom Partido Morado, der einzigen Partei, die nicht für die Amtsenthebung Vizcarras gestimmt hatte, zum neuen Interimspräsidenten. Im April 2021 sollen die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Ob die Peruanerinnen und Peruaner dann endlich ein Parlament wählen, das einen politischen Neuanfang einleitet, ist alles andere als sicher. Die anhaltenden Demonstrationen gegen den Congreso sind allerdings ein Hoffnungsschimmer.