In Indien kämpfen Frauen um einen besseren Zugang zu Nahrungsmitteln

Nährboden für Veränderung

Im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh zeigt sich der Zusammenhang zwischen Genderdiskriminierung und dem eingeschränkten Zugang zu Nahrungsmitteln besonders deutlich.

Die zweite Phase der Coronakrise hat begonnen. Globale Wertschöpfungsketten der Nahrungsmittelindustrie zerreißen. Produzentinnen und Prozenten fehlt der Zugang zu Absatzmärkten, die durch die Restriktionen abgeriegelt sind. Auf der anderen Seite stehen hungrige Menschen, die sich nicht mehr genügend Lebensmittel leisten können. Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt seit dem 12. Juni nicht mehr nur von der Gesundheitsbedrohung durch die Virusinfektion, sondern auch vor Gefahren, die durch die Begleiterscheinungen der Pandemie entstehen. Vor allem für Frauen sei die Versorgungslage kritisch, so die WHO.

Der Agrarsoziologe Haroon Akram Lodhi schätzt, dass etwa drei Viertel der Nahrungsmittel weltweit von Frauen produziert werden.

In den ländlichen Regionen des indischen Bundesstaats Uttar Pradesh zeichnet sich dieser Zusammenhang zwischen Genderdiskriminierung und eingeschränktem Zugang zu Nahrungsmitteln besonders deutlich ab. Insbesondere die Stadt Muzaffarnagar ist von den religiösen Unruhen der vergangen Jahre geprägt. Hier gründete die Aktivistin Pratibha Rani 1991 ein Kollektiv zur Selbstorganisation von Frauen. Daraus ist ein Netzwerk zahlreicher Selbsthilfegruppen in der Region entstanden. »Wir sind eine Gruppe von Frauen aus den untersten Schichten, vor allem Dalits (Unberührbare) und Musliminnen«, berichtet sie. »Die Familienmitglieder arbeiteten meist als Tagelöhnerinnen und Tagelöhner auf den Feldern anderer. Falls Frauen überhaupt das Haus verlassen und arbeiten durften, haben sie kaum halb so viel verdient wie Männer. In den knapp 30 Jahren, in denen wir uns für mehr wirtschaftliche und soziale ­Unabhängigkeit eingesetzt haben, hat sich aber einiges verbessert.«Doch die Krise droht diese Fortschritte zunichte zu machen: »Alle haben ihre Einkommen verloren. Viele Mädchen haben die Schule abgebrochen und wurden früher verheiratet, weil ihre Familien es sich nicht mehr leisten konnten, sie zu ernähren.« Wenn es jetzt weniger Nahrungsmittel gebe und vor allem frisches Gemüse fehle, bekäme der Ehemann traditionell immer zuerst zu ­essen. Ein Mädchen in der Familie könne glücklich sein, wenn etwas für sie übrigbleibt. Weil viele Männer nun ohne Arbeit zu Hause säßen, habe die häusliche Gewalt extrem zugenommen – oftmals sei Alkohol im Spiel. Die meisten Betroffenen trauten sich aber nicht, das zu melden, denn sie hätten Angst, komplett ohne Versorgung da­zustehen, wenn sie so etwas ansprechen. Dazu käme, dass Frauen derzeit viel mehr Arbeiten verrichten. Neben der Hausarbeit bestellen nämlich viele ihre eigenen Felder, um die Familien zu versorgen.Das ist die Strategie der Wahl, um Schwankungen im Haushaltsbudget auszugleichen: unbezahlter Arbeitseinsatz von – in der Regel weiblichen – Familienmitgliedern. Die Grenzen zwischen der Arbeit, die in die Produktion von Waren einfließt, und der Hausarbeit verlaufen in der Landwirtschaft besonders unscharf – ins­besondere wenn Haushalte sich teilweise durch eigenen Anbau selbst versorgen. Der Agrarsoziologe Haroon Akram Lodhi an der Trent University im kanadischen Peterborough schätzt, dass etwa drei Viertel der Nahrungsmittel weltweit von Frauen produziert werden. Reproduktionsarbeit bedeutet also nicht nur Kinderbetreuung, Pflege und Putzen, sondern auch die Bereitstellung von Nahrungsmitteln. Durch diese unscharfen Trennungen ist die Haushaltsorganisation direkt in weitreichende Wertschöpfungsketten eingebunden. Weltweit agierende Lebens­mittelkonzerne profitieren von dieser Form von Arbeits- und Familienorga­nisation, die Frauen in Billiglohnländern marginalisiert.

Gibt es auch eine globale Lösungsstrategie? Könnten etwa die zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro, die der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller ausgeben will, oder die 215 Millionen US-Dollar an Schuldenerlass für eine Reihe der ärmsten Länder durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds etwas an der aktuellen ­Situation ändern? Man ist sich in diesen Institutionen durchaus bewusst, dass sich etwas bei der Verteilung und Produktion von Lebensmitteln ändern muss. Es kann aber nicht darum gehen, so schnell wie möglich den vorher herrschenden Zustand wiederherzustellen.

Die indische Umweltaktivistin Van­dana Shiva sagt: »Frauen tragen in erster Linie den Übergang von industrieller globaler Massenproduktion hin zu diversen regionalen Ökosystemen. Im globalen Warenaustausch werden landwirtschaftliche Güter auf ihre profitbringenden Eigenschaften reduziert, aber es sollte darum gehen, Lebensmittel nicht als bloße Waren, sondern als essentiell für unsere Versorgung mit Nährstoffen zu begreifen.« Der von Shiva vertretene Ökofeminismus geht in Indien auf die Chipko-Bewegung in den siebziger Jahren zurück. Diese Initiative gegen die kommerzielle Abholzung in der Region Uttarakhand am Fuße des Himalaya-Gebirges wurde vor allem von Frauen geprägt. Derzeit leitet Shiva die Navdanya-Farm in Dehradun, die sich vor allem um den Erhalt lokalen Saatguts bemüht, um so eine Abhängigkeit von kommerziellen Hybridsaaten der Konzerne zu vermeiden.

Ob indessen eine stärkere Dezentralisierung der Produktion alle Probleme lösen würde, ist fraglich. Die Rückbesinnung auf Traditionen mag beim Anbau manchmal Sinn ergeben, aber wenn es um gesellschaftliche Konventionen geht, ist derlei meist fragwürdig. Statt die Trennung einer als natürlich ange­sehenen ursprünglichen Landwirtschaft von einer zerstörerischen kapitalistischen Moderne anzustreben, sollte es vielmehr darum gehen, patriarchale Strukturen zu überwinden – insbesondere durch die Ausweitung der Kontrolle von Frauen über die Lebensmittel­produktion.

Diese stärkere Unabhängigkeit ist aber nur möglich, wenn Frauen eigene finanzielle Ressourcen besitzen. Genau hier setzen selbstorganisierte Genossenschaften an: Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Industree Foundation aus Bangalore. Die Organisation verbindet lokale Produktionseinheiten mit globalen Auftraggeberinnen und -gebern. Durch bessere Ressourcenverteilung und mehr Mitsprache sichert sie den Genossinnen und Genossen eine bessere Verhandlungspositionen in der globalen Wertschöpfung. Die Krise wird von der Industree Foundation vor ­allem als Möglichkeit begriffen. »Bei den meisten unserer Produzentinnen und Produzenten handelt es sich um Frauen, die derzeit die Alleinverdienenden der Familie sind, da die meisten männlichen Verwandten ihren Job verloren haben. Wir haben außerdem Schulungen durchgeführt, wie man Masken herstellt«, berichtet Akila Lean, Sprecherin der Organisation. Damit könnten während der Krise Einkommen gesichert und Ersparnisse angelegt werden, um sie später in die eigenen Betriebe zu investieren. Die derzeitigen Maßnahmen zielten also darauf ab, Geschlechternormen und Rollenverteilung in den Haushalten langfristig zu verändern. Auch Pratibha Rani aus Muzaffarnagar erkennt neue Möglichkeiten: »Weil in den meisten Ortsteilen bereits Frauengruppen bestanden, konnten wir die Lebensmittelverteilung in der Krise schnell organisieren und auch sicherstellen, dass die Unterstützung bei den Frauen tatsächlich ankommt.«

Sie ist nicht allein: Im Nachbarort Shamli organisiert Sudha Rani Pakete für die Notfallversorgung. Diese besteht nicht nur aus Lebensmitteln, auch Damenbinden und andere sanitäre Produkte gehören dazu. Als Leiterin von Genossenschaften in der Region weiß Rani, dass nicht allen patriarchalen Politikern ihre Arbeit gefällt: »Wir haben auch an die ärmsten ­Familien Lebensmittel verteilt, daher fragten sie: Warum gebt ihr solchen Menschen überhaupt Pakete?« Viele derjenigen, die im Dorf einflussreich seien, hätten etwas dagegen, wenn sich etwas an den bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen ändere. Großgrundbesitzer fürchteten, dass ihnen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, wenn die Ärmeren unabhängiger wären.

Rani hat mit Krediten der Genossenschaft einen Kosmetiksalon eröffnet. »Mein Mann ist als Fahrer beschäftigt und wollte zuerst nicht, dass ich arbeite, aber als der Laden Profite abwarf, war er zufrieden. So geht es vielen Ehemännern.« Auch jetzt finden noch immer wöchentliche Treffen aller Gruppenmitglieder mit Masken und Sicherheitsabstand statt. »Gerade jetzt ist es wichtig zusammenzustehen.«

 

Hunger als Waffe
Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht. Gemäß Artikel 11 des UN-Sozialpakts ist jeder Staat verpflichtet, das Recht auf angemessene Nahrung sowie das Recht, frei von Hunger zu sein, zu garantieren. Laut Welthungerindex steigt die Zahl der unterernährten Menschen jedoch und liegt derzeit wieder auf dem Niveau von 2010. Zu den wichtigsten Ursachen für den Anstieg des Welthungers zählen die Zunahme langwieriger bewaffneter Konflikte – wie im Jemen, im Südsudan, in Syrien, Nigeria und der Zentralafrikanischen Republik – sowie schlechte Regierungsführung, etwa in Venezuela. Lebensmittel zu unterschlagen, zu vernichten oder zurückzuhalten ist in vielen Konflikten eine gegen die Bevölkerung gerichtete Kriegsstrategie. Auch versuchen Kriegsparteien häufig, humanitäre Hilfeleistungen umzulenken, zu behindern oder zu zerstören, um Menschen auszuhungern. Im »Kompass 2020 – Bericht zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik« der Welthungerhilfe heißt es dazu: »Dies schwächt die Reaktionsmaßnahmen der internationalen humanitären Gemeinschaft, zwingt die humanitären Hilfsorganisationen häufig dazu, ihre Programme aufgrund der Sicherheitsbedenken auszusetzen, kostet wertvolle Reaktionszeit, verschärft die prekären Bedingungen für die Zivilbevölkerung vor Ort und hat zur Folge, dass Einsätze scheitern.« Hunger wirke sich auf Männer anders aus als auf Frauen, bestätigt die Welthungerhilfe. Gesundheitsprobleme bei Müttern und erhöhte Müttersterblichkeit seien eine Folge von Ernährungsunsicherheit. In Zeiten der Knappheit schränke geschlechtsspezifische Vorzugsbehandlung den Zugang von Frauen und Mädchen zu Nahrungsmitteln ein. JuHo