Ein Gespräch mit dem Performer Tucké Royale über Schwulsein in der ostdeutschen Provinz

»Der Zugriff auf Queerness ist einem vom Mainstream entzogen worden«

Interview Von Jakob Hayner

Der Autor und Performer Tucké Royale feierte kürzlich das Jubiläum der Stonewall-Riots in der brandenburgischen Provinz. Im Interview spricht er über die Sexyness Schernikaus, das Engagement im Osten und seine Vorstellungen vom Theater.

Sie sind 1984 in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt geboren und dort aufgewachsen. Inzwischen wohnen Sie in Berlin. Wie verfolgen Sie die Debatten über das Ende der DDR, die Nachwendezeit und den Osten?

Ich habe den Eindruck, dass erst jetzt ein Blick auf die Jahre 1989/1990 geworfen wird, der befreit ist von Zonennostalgie, aber zugleich auch die neunziger Jahre berücksichtigt, also die Pogromstimmung, begleitet von dem sogenannten Asylkompromiss. Es scheint erst jetzt an der Zeit, darüber zu schreiben. Ich lese Berichte über den Osten und viele finde ich gut, weil sie komplexer geworden sind. Das hat nicht unbedingt mit der Herkunft der Autoren zu tun, sondern mit deren Erfahrungen an Ort und Stelle. Solche Vereinfachungen wie die, dass es Nazis nur im Osten, aber nicht im Westen gäbe, kommen seltener vor. Darauf überprüfe ich die Texte. Ich kann sie sonst nicht ernst nehmen. Das heißt nicht, dass Dinge wie »national befreite Zonen« verschwiegen werden sollten, keinesfalls. Zu kurz kommt mir allerdings oft, dass es Engagement von Einzelnen, Gruppen und Initiativen gibt, die sich gegen diese Entwicklungen wenden.

In dieser Hinsicht hat sich auch für mich persönlich einiges verändert. Meine Eltern müssen sich nicht mehr sorgen, dass ich wie in meiner Pubertät durch die Stadt gejagt werde. Umgekehrt mache ich mir nun Sorgen um sie, wenn sich meine Mutter auf dem Marktplatz mit den »Iden­titären« anlegt. In Quedlinburg erinnert man sich noch an die tagelangen Angriffe auf Flüchtlinge im Jahr 1992, das war zwischen Rostock und Hoyerswerda. Und wegen dieser Erinnerung gibt es auch Widerstand gegen die organisierten Rechten, noch immer und schon wieder.

Kürzlich haben Sie eine Veranstaltung mit der in Halle an der Saale geborenen Kaey zum Thema »Migrationshintergrund Ost« gemacht. Was kann man sich darunter vorstellen?

Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Ich schlage mich mit einer politischen Phantomexistenz herum, zu der ich mich immer wieder ins Verhältnis setze. Die Frage nach dem Gehen oder Bleiben, die viele Menschen in der DDR vor 1989 beschäftigt hat, begleitet mich bis in meine Gegenwart. Oder die Frage, was bleibt.

Einerseits gibt es in meiner Familie sehr schmerzhafte Erfahrungen mit Übernahme, Abwicklung und innerdeutscher Kolonisierung, andererseits ging mit der DDR eine Piefigkeit einher, die ich nicht nur für eine schlechte Interpretation des Marxismus halte, sondern in der ich auch nicht hätte leben wollen und können. In meinem Denken bin ich aber durchaus historisch-materialistisch geprägt. Das habe ich in meinem Studium des zeitgenössischen Puppenspiels an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« auch kultiviert – also das dialektische und verfremdende Verhältnis in Darstellung und Ästhetik interessiert mich. Es gab und gibt aber auch eine Sehnsucht nach jenen Bewegungen, die sich zunächst auf zivilrechtliche Aspekte bezogen, Bewegungen, die es in der DDR einfach nicht gab, wohl aber im Westen. Und die vielleicht mit ihrem Emanzipationsstreben auch nur im Kapitalismus möglich waren. Ich wohne inzwischen in Westberlin, ganz bewusst, weil mir die Überreste dieser Bewegung gut gefallen.

»Als ich mit 16 Jahren in Quedlinburg eine LGBT-Bibliothek aufgebaut habe, war mir klar: Irgendwann haue ich ab. So ist das oft in der Provinz.«

Nebenher: Die Gegend, aus der ich komme, wurde damals gegen Westberlin getauscht, ich bin ein verhinderter Wessi. Ich versuche, in meinem Denken den Bewegungswesten und den Dialektik-Osten zusammenzubringen, eine unschlagbare Verbindung. Ich merke, dass ich mit meinem Umzug nach Berlin an meiner Verzärtlichung gearbeitet habe. Eine Stadt wie Magdeburg zum Beispiel ist nun zu ruppig für mich.

Wie würden Sie diesen Prozess der Verzärtlichung beschreiben?

Es gibt Dinge an meiner Herkunft, die meinem Selbstentwurf im Wege stehen. Wäre ich nicht weggegangen oder würde am Ende gar die DDR noch bestehen, ich wäre nicht ansatzweise die Person, die ich heute bin, zu der ich mich gemacht habe und zu der ich auch gemacht worden bin. Ich wäre sehr viel ärmer. Weniger selbstbewusst, härter, verklemmter, da bin ich mir sicher. Ich kann aber inzwischen anders zurückkehren in den Osten.

Sie haben ein Projekt dazu gemacht …

Zusammen mit Johannes Maria Schmit habe ich die Gedenkfahrt »Stonewall Uckermark« gemacht. Wir haben das Jubiläum der Stonewall-Riots, ein wichtiges Ereignis der LGBT-Bewegung, in der Uckermark begangen. Ich habe inzwischen den nötigen Abstand gewonnen, um so etwas zu machen. Gerade im Norden Brandenburgs gibt es nicht viele ­Initiativen. Als ich mit 16 Jahren in Quedlinburg eine LGBT-Bibliothek aufgebaut habe, war mir klar: Irgendwann haue ich ab. So ist das oft in der Provinz. Die Bibliothek konnte ich glücklicherweise übergeben, sie besteht immer noch. Ich habe viel dafür getan, um nach Berlin zu gehen und mich abzugrenzen. Aber inzwischen habe ich ein anderes Selbstverständnis, ich habe nicht mehr die Angst, dass mir das alles weggenommen werden könnte. Ich brauche auch die Schutzarroganz nicht mehr, mit der ich früher der Provinz begegnet bin. Das ist vorbei. Und deswegen wäre es auch politisch gefährlich, daran festzuhalten: an der selbst­gewählten geographischen und psychologischen Flucht.

Eine Figur, die Sie sehr interessiert, ebenfalls ein Grenzgänger zwischen Schwulenbewegung und Marxismus sowie BRD und DDR, ist Ronald M. Schernikau.

Ich finde es sexy, wie Schernikau schreibt. Bei ihm wird ein Leben im Zusammenhang dargestellt, da wird nichts weggeschnitten, egal ob es um die Klappe, Schlager oder Kommunismus geht. Das alles zusammen zu erzählen, ist großartig. Und er legt nicht nur von sich Zeugnis ab, sondern blickt auch ein paar Jahre in die Zukunft. Und das ist selten oder nie eitel, und wenn, dann verzeihlich. Er hat zuletzt gegen seinen sich ankündigenden Tod angeschrieben und wollte etwas hinterlassen, an das man anknüpfen kann. Schernikau ist mir in seinem ästhetischen Konstruktivismus sehr viel näher als der postmoderne Dekonstruktivismus. Das berührt die Frage, was an Erzählung und Gegenerzählung nötig ist. Schernikau beschäftigt sich mit Hoffnung. Das heißt: nicht verzweifeln und keine Berührungsängste haben. Aber es ist zugleich nicht undramatisch, die Spannung zu den Verhältnissen ist gegeben. Auch mein Verhältnis zur Realität ist von einem ausgesprochenen Widerwillen geprägt. Deswegen stehe ich gerne auf der Bühne, wo ich behaupten kann, was nicht durch die Realität gedeckt sein muss, ich nicht gezwungen bin, sie in jedem Moment anzuerkennen. Man weiß doch sowieso, dass die Realität da ist, also kann man sie auch kurz vergessen oder ästhetisch verdrängen. Oder besser: eindrücken. Darin liegt das Politische des Theaters. Ich erfinde in meinen Arbeiten Dinge – und das macht mir großen Spaß.

Sie haben Ende Oktober am Berliner Theater Hebbel am Ufer das Manifest für die »Neue Selbstverständlichkeit« vorgestellt.  Es fordert unter anderem die Absage an die Vorstellung von einem Theater, das das Publikum abholt. Wie ist das zu verstehen?

Die Redewendung vom Publikum, das man abholen müsse, wo es sich angeblich gerade befindet, finde ich unfassbar blöd. Das Publikum ist klüger, als man es sich in den Theatern vorstellt. Es stört mich, wenn man Leuten nicht zutraut, beispielsweise etwas verstehen zu können oder sich zu verändern. Das ist eine antiemanzipatorische Vorstellung und eine Reduktion des Publikums auf eine zahlende Masse. Wer sich entscheidet, an einem Abend zu einer Veranstaltung zu gehen, hat auch das Recht, ernst genommen zu werden. Das ist Lebenszeit, in der man zusammenkommt.

Mit der »Neuen Selbstverständlichkeit« versuche ich aber ganz allgemein, einer Kapitalisierung der Identitätspolitik zu entgehen. Der Zugriff auf Queerness ist einem in den vergangenen Jahren vom Mainstream entzogen worden. Damit ist das subversive Potential geschluckt, es bleibt nur eine Oberfläche mit ein bisschen Glitzer und Federboa. Ich will darauf hinaus, dass man sich weiterhin undankbar verhält, dass man sich nimmt, was einem vorenthalten wird. Das ist die »Neue Selbstverständlichkeit«, die sich nicht an den Mainstream anpasst. Es ist ein ethisches und ästhetisches Manifest. Denn auch in den Erzählungen soll man nicht konfliktscheu sein, sondern sich an auftretenden Widersprüchen erfreuen.