Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgericht

Kampf um ein Grundrecht

Manche Hartz-IV-Sanktionen verstoßen gegen die Menschen­würde. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Das Urteil wird die Situation vieler Leistungsbezieher verbessern. Und es ist eine Niederlage für SPD und Grüne.

424 Euro im Monat – das muss für Erwerbslose, die Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) erhalten, zum Leben reichen. Niemand muss mit weniger auskommen – eigentlich. Doch tatsächlich werden diese Leistungen hunderttausendfach pro Jahr gekürzt. Das ist in Teilen grundgesetzwidrig, wie das Bundesverfassungsgericht am Dienstag vergangener Woche entschieden hat.

Ulrich Schneider, der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrts­verbands, sprach von einer Absage an die »bürokratische Massen­verwaltung des Hartz-IV-Systems«.

Der SGB-II-Satz, das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich auch als »Hartz IV« bezeichnet, soll das Existenzminimum definieren, also die Untergrenze dessen bestimmen, was alleinstehende Erwachsene für die Grundversorgung wie Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Strom brauchen, aber auch für Bildung und minimale kulturelle sowie gesellschaftliche Teilhabe, den Kinobesuch oder den Bibliotheksausweis.

Trotzdem wurde diese Untergrenze allein 2018 über 900 000 Mal unterschritten. Sozialleistungen verpflichten zu ­»Eigenbemühung«. Wer diese Pflichten verletzt, zu einem Termin nicht erscheint oder eine sinnlose Maßnahme abbricht, wird bestraft – das war fast 15 Jahre lang der Kern von Hartz IV. Bei Meldeverstößen, also unentschuldigt verpassten Terminen, strich das Jobcenter für drei Monate zehn Prozent des Regelsatzes, bei der ersten abgelehnten Maßnahme 30 Prozent, beim zweiten Mal innerhalb eines Jahres 60 Prozent. Beim dritten Mal fiel auch die Übernahme von Miete, Heizkosten und Krankenversicherung weg. Für Menschen unter 25 Jahren galt die Totalsperre schon beim ersten Verstoß. Überspitzt gesagt: Spielst du nicht mit, bestraft dich der Staat. Untersuchungen zeigen: Das Hartz-IV-System lebt von der Angst vor sozialem Abstieg, Verelendung und Obdachlosigkeit.

Das Sozialgericht Gotha hielt Kürzungen des Hartz-IV-Regelsatzes schon 2016 für verfassungswidrig und verwies die Klage eines Leistungsempfängers gegen derartige Sanktionen an das Bundesverfassungsgericht. Dieses hat ­vergangene Woche große Teile des 2005 in Kraft getretenen Gesetzes für un­vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Zwar könne der Gesetzgeber bestimmte Pflichten mit Sanktionen durchsetzen – diese müssten aber verhältnismäßig sein. Dem »in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit« genügen die bis­herigen Regelungen dem Gericht zufolge nicht.

 

In dem Verfahren hatte es allerdings nur einen Teil der verschiedenen Sanktionen verhandelt. Der Kläger hatte sich geweigert, eine Stelle und einen Gutschein zum Probearbeiten anzunehmen. Daraufhin hatte das zuständige Jobcenter seinen Satz erst um 30, dann um 60 Prozent gekürzt. In dem Urteil geht es einerseits um die Höhe der Sanktionen: Jede Kürzung um mehr als 30 Prozent des Regelsatzes und auch die Streichung der Unterkunftskosten und der Krankenversicherung sind demnach unzulässig – auch weil diese scharfen Sanktionen nicht wirkten, so das Gericht.

Zum anderen geht es um Ermessensspielräume: Bisher wurden »Pflichtverletzungen« automatisch sanktioniert, auch die Dauer von drei ­Monaten war unvermeidlich. In Zukunft soll es keinen Zwang zur Sanktion mehr geben, wenn dadurch ein Härtefall entsteht. Auch die starre Drei­monatsfrist soll aufgehoben werden, wenn die Sanktionierten ihre Mitwirkung nachholen.

Die Erfinder von Hartz IV und des dazugehörigen Sanktionssystems ­zeigten sich erfreut. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sprach in der ARD von einem »wegweisenden und aus­gewogenen« Urteil, das Rechtsklarheit schaffe und zeige, dass das Gesetz ­weiterentwickelt werden müsse. ­Katrin Göring-Eckardt (Grüne) teilte mit, durch das Urteil sei klar geworden: »Durch Demütigungen kommt niemand wieder in den Arbeitsmarkt.« Sie hatte 2004 als Bundestagsfraktionsvorsitzende ihrer Partei zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung wesentlich zur Durchsetzung von Hartz IV beigetragen.

Andere halten an der Richtigkeit der Sanktionen fest, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner nannte sie ein »Zeichen der Fairness gegenüber Bürgern, die über ihre Steuern Sozialleistungen finanzieren«. Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Hermann Gröhe begrüßte, dass das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen »insgesamt nicht in Frage stellt«.

Das Urteil kann man getrost als Niederlage für SPD und Grüne bezeichnen, die die Arbeitsmarktreform inklusive Sanktionssystem 2004 einführten. Viel wichtiger ist aber, dass es die Situation vieler Erwerbsloser im SGB-II-­Bezug deutlich verbessert. Dass jemand mit gut 100 Euro im Monat auskommen muss, in letzter Konsequenz auf der Straße landet oder nicht mehr zum Arzt gehen kann, wenn er sinnlose Maßnahmen verweigert hat, kann nicht mehr so einfach passieren.

 

Die frühere Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann bezeichnete die ­Entscheidung als kleinen Sieg und auch als persönlichen Erfolg: Sie war die erste Mitarbeiterin in einem Jobcenter, die sich öffentlich gegen Hartz IV und die Sanktionen ausgesprochen hatte. Ulrich Schneider, der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, sprach von einer Absage an die »bürokratische Massenverwaltung des Hartz-IV-Systems« und vom »Ende der Rohrstockpäda­gogik«. Harald Thomé, der Vorsitzende des Wuppertaler Vereins Tacheles, der im Januar als sachverständige Organisation vor dem Verfassungsgericht vertreten war, sprach im WDR von einem »absolut freudigen Urteil«.

Sie alle fordern aber weiter die vollständige Abschaffung der Sanktionen. Denn diese ist durch das Urteil nicht ­erreicht. Das Prinzip des »Förderns und Forderns« samt »Mitwirkungspflicht« und Bestrafung bleibt bestehen, wenn auch deutlich abgeschwächt. Das heißt, das Grundrecht auf ein menschen­würdiges Existenzminimum darf auch weiterhin an Bedingungen geknüpft werden. Es sind noch weitere Fragen offen: Wie sieht die Rechtssicherheit für Menschen unter 25 Jahren aus, die von der Totalsanktion bisher viel schneller betroffen waren? Gelten für geringere Sanktionen, zum Beispiel bei einem verpassten Termin, dieselben Ermessensspielräume und Härtefälle wie bei 30-Prozent-Strafen? Wie werden die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den Jobcentern mit ihren neuen Ermessensspielräumen umgehen?

Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, kündigte im Deutschlandfunk an, in den kommenden Wochen würden keine der als verfassungswidrig beanstandeten Sanktionen mehr ausgesprochen, sagte aber auch, dass es für die Betroffenengruppe unter 25 »gerade keine Rechtsnorm« gebe.

Das Bündnis »Auf Recht bestehen« fordert weiterhin die Abschaffung aller Sanktionen. An die Stelle der geltenden Regelungen müsse »ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung von ALG-II-Berechtigten treten«.