Das Kondom wird zum wichtigsten Verhütungsmittel

Gib Gummi

Jahrzehntelang wurde in Deutschland mit Abstand am häufigsten mit der Antibabypille verhütet. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) hat das Kondom inzwischen zur Pille als wichtigstes Mittel der Schwangerschaftsverhütung aufgeschlossen.

In den vergangenen 20 Jahren, in ­denen die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) in repräsentativen Umfragen das Verhütungsverhalten Erwachsener in Deutschland ermittelte, war die sogenannte Antibabypille das meistbenutzte Verhütungsmittel. In den Jahren von 2003 bis 2011 gaben zwischen 55 und 60 Prozent der befragten sexuell Aktiven an, hormonell mit dem Ouvulationshemmer zu verhüten. Das Kondom lag mit knapp 40 Prozent auf Platz zwei. Der nun ­veröffentlichen Studie von 2018 zufolge stieg die Nutzungshäufigkeit des Kondoms im Vergleich zum Jahr 2011 um neun Prozentpunkte an. Die Pille verlor sechs Prozentpunkte. 2018 lag die Pille nun mit 47 Prozent nur noch ­einen Prozentpunkt vor dem Kondom. Gerade unter den 18 bis 29jährigen, die bislang besonders häufig die Pille nutzten, ging die Anwendung oraler hormoneller Mittel zur Empfängnisverhütung mit 16 Prozentpunkten am stärksten zurück. Die Doppelnutzung von Pille und Kondom hat hier abgenommen, immer mehr junge Menschen vertrauen entweder allein dem Kondom oder der Pille. Die Spirale findet unverändert in zehn Prozent der Fälle Anwendung. Statistisch gesehen spielen andere Methoden kaum eine Rolle. Während mit Sterilisation bzw. Vasektomie effektive, aber dauerhafte Eingriffe an Bedeutung verlieren, ist ein leichter Trend zu Kalendermethode und Temperaturmessung zur zeitlichen Eingrenzung der fruchtbaren Tage zu erkennen, den sogenannten natürlichen Methoden.

Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen das Kondom als eine Einschränkung ihrer Lust erfahren, bleibt Verhütung meist der Frau überlassen.

Der wichtigste Grund für die Wahl eines Verhütungsmittels bleibt, so die Studie, die Überzeugung, dass das gewählte Mittel zuverlässig funktioniert. Die bequeme Anwendbarkeit ist am zweitwichtigsten. Zwar geben lediglich drei Prozent der Befragten »Unverträglichkeit« als Motivation für die »Ablehnung der Pille« an, »gute Verträglichkeit« beziehungsweise »wenig ­Nebenwirkungen« spielen aber eine immer größere Rolle bei der Entscheidung für ein Verhütungsmittel. Dies ist vermutlich einer der Gründe für den relativen Bedeutungsverlust hormoneller Mittel. Der Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten spielt eine untergeordnete Rolle.

Die wesentlichen Unterschiede bei der Geschlechtszugehörigkeit sieht die BzgA in der Informiertheit: »Während sich Frauen zu 71 Prozent sehr gut informiert fühlen, umfasst dieser Anteil bei Männern nur 55 Prozent.« Vor ­allem junge Frauen zeigen sich von ihrem guten Informationsstand überzeugt. Während die überwiegende Mehrheit der Frauen – 80 Prozent – sich bei der Frauenärtzin informiert, erkundigen sich Männer vor allem im Internet, in der Familie, bei Freunden oder in der Schule. Urologen und Andrologen werden in der Statistik überhaupt nicht aufgeführt, nur acht Prozent geben an, sich beim Hausarzt zu informieren. Erstaunliche 28 Prozent der Männer geben vor, ihre wichtigste Informationsquelle zum aktuell verwendeten Verhütungsmittel sei eine Frauenärztin gewesen. Eher unwahrscheinlich, dass es sich dabei um »ihre« Gynäkologin handelt, also jeder dritte bis vierte Mann selbstständig eine Frauenärztin zu Verhütungsfragen konsultiert. Es liegt nahe, dass Männer ihre Informationen von der allerdings nicht als ­Informationsquelle angegebenen Partnerin weitergereicht bekommen, die ohnehin regelmäßig die Frauenärztin aufsucht.

 

In früheren Referenzstatistiken hatte die BzgA nach der Hauptverantwortung gefragt und so die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Verhütungs­praxis aufgezeigt. So hielten sich 2007 63 Prozent der Frauen, aber nur 21 Prozent der Männer für hauptverantwortlich. 2011 wurden diese Zahlen bedau­erlicherweise nicht mehr erfasst, auch in der aktuellen Studie waren sie ­offenbar nicht von Interesse. Spielt Geschlecht also keine Rolle mehr? Oder ist die weibliche Zuständigkeit so selbstverständlich, dass die Frage nach der Hauptverantwortung wenig Neues bringt? Könnte der Bedeutungsgewinn des Kondoms darauf hindeuten, dass Männer in wachsendem Maße ihrer Verantwortung gerecht werden? Dies alles geht aus der aktuellen Studie leider nicht hervor. Denn wer es drüberzieht, hat nicht unbedingt nach seiner Anwendung verlangt. Er hat nicht notwendigerweise die Kommunikation über Verhütung angeregt und schon gar nicht muss er das Kondom auch bezahlt haben. Aus anderen Studien weiß man zwar, dass immer weniger Menschen, auch Männer, davon ausgehen, dass Verhütung Frauensache sei, und Verhütung daher immer mehr zu einer Aushandlungssache in Paarbeziehungen wird. An der Asymmetrie bei der Zahl der zur Verfügung stehenden Methoden – Frauen stehen verschiedene effektive, reversible Methoden zur Verfügung, Männern allein das Kondom – lässt sich dennoch erkennen, wer letztlich hauptverantwortlich bleibt. Paare handeln zwar aus, aber angesichts der Tatsache, dass viele Menschen den Kondomgebrauch als eine Einschränkung ihrer Lust erfahren, bleibt Verhütung meist der Frau überlassen.


In der aktuellen Studie der BzgA zeigt sich, wie ausgeprägt die weibliche Ambivalenz bei hormoneller Verhütung heute ist: Einerseits verhüten noch immer die meisten befragten Frauen hormonell, greifen also entweder zur Pille oder Spirale, andererseits glauben nur wenige (20 Prozent), dass dies langfristig unbedenklich sei. Hormonellen Mitteln werden mehrheitlich »negative Auswirkungen auf Körper und Seele« attestiert. Nur ein Drittel der Befragten glaubt, dass auch sehr junge Mädchen risikofrei mit Ovulationshemmern verhüten können.


In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten Feministinnen für die Entwicklung hormoneller Mittel zur Schwangerschaftsverhütung gestritten und die Forschung sowohl politisch als auch finanziell unterstützt. Als chronisches Verhütungsmittel erlaubte die Anfang der sechziger Jahre auf den Markt kommende Pille eine von der Praxis beim Sexualakt unabhängige, ­diskrete Lösung. Der Partner musste, im Gegensatz zu den vormals statistisch dominierenden Methoden Kondom und Coitus interruptus, nicht ­länger in die Entscheidung einbezogen werden. Verhütung wurde erst mit dem kommerziellen Erfolg der Pille zu einer vornehmlich weiblichen Ange­legenheit. Somit wurden die ebenfalls bereits in den sechziger Jahren bekannt werdenden gesundheitlichen Nebenwirkungen zu einer Last, die ­vornehmlich Frauen zu tragen hatten. Die radikalfeministische Behauptung, Frauen würden als Versuchskaninchen Risiken ausgesetzt, die sich Männer nie im Leben zumuten würden, steht in schroffem Gegensatz zu der modernistischen Euphorie, mit der Feministinnen vormals für die Pille stritten. Barbara Sichermann fasste den Blick der deutschen Frauenbewegung der siebziger Jahre auf die Pille so zusammen: »Einerseits wünscht frau die ­Lösung von den Fesseln der Naturbestimmung, andererseits ist alles, was mit dem weiblichen Körper und dessen Natürlichkeit zu tun hat, ein schützenswertes Gut.« Obwohl die feministische Kritik an der Pille fast so alt ist wie das Mittel selbst, avancierte die Pille nicht nur in Deutschland zum meistverwendeten Verhütungsmittel. Daran änderte sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig.

 

Möglicherweise reflektieren die Verschiebungen, die die aktuelle Statistik der BzgA zeigt, nun ein verstärktes Unbehagen an hormonellen Mitteln. In den vergangenen Jahren häuften sich die Veröffentlichungen, in denen die Pille als »Lifestyledroge« kritisiert wurde. Das hormonelle Präparat werde nicht in erster Linie als Verhütungsmittel, sondern zur Behandlung von Akne, bei Problemen mit unregel­mäßiger Periode, Stimmungsschwankungen, zur Verschönerung der Haare oder Vergrößerung der Brüste eingenommen. Für viele junge Mädchen ­bilde die Einnahme der Pille eine Initiation in die Weiblichkeit, es fehle ­ihnen aber an adäquater Aufklärung über die Risiken und Nebenwirkungen, zu denen die Verminderung der Libido ebenso zählen kann wie Depressionen, Thrombosen oder Lungenembolien.

Der Pillenkritikerin Sabine Kray zufolge kann die Pille nicht länger »als Instrument der sexuellen Befreiung« angesehen werden, weil »ein Körper, der in vielerlei Hinsicht chemisch manipuliert und nicht unerheblichen, teilweise nicht einmal absehbaren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ist«, nicht als selbstbestimmt angesehen werden könne. Der Feminismus des 20. Jahrhunderts habe in eine Sack­gasse geführt, weil er »die Unterschiede zwischen Männern und Frauen« negieren wollte, indem er den weiblichen an den als »Normkörper« inszenierten Männerkörper anzugleichen trachtete. Die Hormontherapie habe dazu gedient, den weiblichen Organismus in ein männliches System hineinzuzwängen, das von Naturbeherrschung und Erwerbsarbeit bestimmt sei. Von Anfang an habe die Pille »für die Regulierung eines als makelhaft empfundenen Körpers« gestanden. So habe »die Pharmaindustrie Einfluss auf das ­sexuelle Begehren von Millionen Frauen« genommen.

Angesichts dieses unheimlichen wie bedrückenden Fazits sieht Kray »nur einen einzigen Weg« – nämlich Boykott. Sie ruft auf zum »Verzicht auf die entsprechenden Präparate, solange kein Mittel verfügbar ist, das unsere Körper in der gleichen Form respektiert, wie es von potentiellen Mitteln für Männer erwartet wird«. Durch diesen Boykott soll die Pharmaindustrie dermaßen unter Druck gesetzt werden, dass sie alles dafür tut, »uns als Konsumentinnen zurückzugewinnen. Oder eben unsere Männer.« Bis dahin rät sie zu Kupferspirale und Kondom, vor allem macht sie sich aber für die sympto­thermale Methode stark, deren Pearl-Index – ein Maß für die Wirksamkein der Empfängnisverhütungsmethode – sie für »identisch mit dem der sichersten Antibabypillen« hält. Wie die Statistik der BzgA nun zeigt, erleben sogenannte natürliche Methoden, vormals vor allem unter Katholiken und Paaren mit unbewusstem Kinderwunsch ­beliebt, tatsächlich ein kleines Revival. Addiert kommen Kalender- und Temperaturmethode in der Studie allerdings auf gerade einmal fünf Prozent. Noch weniger Menschen kombinieren diese Methoden, wie von Kray empfohlen. Es ist fraglich, ob das die Pharmaindustrie beeindruckt.