Small Talk mit Marleen Reichel von »Chemnitz nazifrei« über die Lage in Chemnitz ein Jahr nach den extrem rechten Demonstrationen

»Die extreme Rechte tritt selbstbewusster auf«

Small Talk Von Tobias Brück

Das Landgericht Chemnitz verurteilte in der vergangenen Woche den Syrer Alaa S. wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu neuneinhalb Jahren Haft. Es sah es als erwiesen an, dass S. am 26. August 2018 am Rande des Chemnitzer Stadtfests den 35jährigen Daniel H. erstochen hatte. Die Gewalttat löste eine Reihe rassistischer Demonstrationen und gewaltsame rechtsextreme Ausschreitungen aus. Ein Jahr nach den Vorfällen hat die Jungle World mit Marleen Reichel, vom Bündnis »Chemnitz nazifrei« gesprochen.

Schon lange vor den Ereignissen im August 2018 galt Chemnitz als eine Hochburg der extremen Rechten. Hat sich daran seither etwas geändert?
Man merkt, dass die rechte Hegemonie stärker geworden ist. Allein wenn man hier einkaufen geht, sieht man viele T-Shirts, auf denen sehr klare extrem rechte Botschaften zu sehen sind. Die extreme Rechte hat durch die Ereignisse im vergangenen Jahr nochmal Aufwind bekommen und tritt nun, angesichts der großen Unterstützung, selbstbewusster auf.

Am Wochenende kamen 450 Menschen zu einer Veranstaltung des extrem rechten Bündnisses »Pro Chemnitz« anlässlich des ersten Todestags von Daniel H. Hat das rechtsextreme Mobilisierungspotential in der Stadt nachgelassen?
»Pro Chemnitz« hat in den vergangenen Wochen deutlich weniger Menschen auf die Straße bekommen als zuvor. Trotzdem hat man am vergangenen Wochenende gesehen, dass sich Nazigruppen, wie die verbotenen Nationalsozialisten Chemnitz, dem Bündnis anschließen. Aber es wurde auch nicht bundesweit mobilisiert wie vor einem Jahr. So kamen vor allem Menschen aus Dresden oder dem Chemnitzer Umland.

Ist der Widerstand gegen die extreme Rechte stärker als noch vor einem Jahr?
Es gibt deutlich mehr Menschen, die durch die Ereignisse aufgerüttelt wurden und sich engagieren. Davor hat es sich um einen sehr engen Kreis gehandelt, der Widerstand gegen die extreme Rechte geleistet hat. Dennoch haben viele Menschen schon wieder vergessen, was vor einem Jahr passiert ist.

Inzwischen wurde Alaa S. verurteilt. Wie bewerten Sie das ­Urteil?
Bei uns besteht die Hoffnung, dass dieses Urteil trotz des Drucks durch die große öffentliche Aufmerksamkeit nicht vorschnell getroffen worden ist. Wir hoffen, dass die Richter nicht so entschieden haben, weil sie Angst hatten, dass hier wieder der Mob auf die Stra­ße geht.

Die Anwältin des Manns hat das Urteil kritisiert und wirft dem Gericht Befangenheit vor. Teilen Sie diese Kritik?
Es wäre besser gewesen, die Verhandlungen nicht vor einem Chemnitzer Gericht zu führen. Ich vermute, dass der Druck hier höher war. Aber die Verteidigung geht in Berufung. Solange das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, hat der Angeklagte das Recht darauf, dass noch einmal überprüft wird, ob das Urteil rechtens war. Ich finde es sehr bedenklich, dass die Chemnitzer Oberbürgermeisterin im ­Vorhinein gesagt hat, dass Alaa S. auf jeden Fall verurteilt werden müsse.

Am kommenden Wochenende sind sächsische Landtagswahlen. Wie sehen Sie deren Ausgang entgegen?
Wir haben aufgrund der Kommunalwahlen die Situation, dass linke Projekte in der Stadt bedroht werden. Wenn die AfD auf Landesebene dazugewinnt, wird sich das verschärfen. Wir als Bündnis sind schwer angreifbar, weil wir kein Verein sind und keine feste Struktur haben. Aber Menschen und Institutionen, die uns unterstützen, wie das AJZ Chemnitz oder Akteure der politischen Bildungsarbeit, können Probleme bekommen. Wir hoffen, dass wir auf bundesweite Strukturen zurückgreifen können, die sich mit uns solidarisieren, wenn wir hier auf lokaler Ebene bedroht werden.