David Chichkan, Künstler, über Rechtsextremismus und »Dekommunisierung« in der Ukraine:

»Allergisch gegen Gewerkschaften und alles Sozialistische«

Interview Von Anina Valle Thiele

Am 14. Oktober, dem »Tag des Verteidigers der Ukraine«, demons­trierten in Kiew rechtsextreme Ukrainer gemeinsam mit deutschen Neonazis. Wie stark ist der Rechtsextremismus in der Ukraine?
Die ukrainische Gesellschaft hat eine wenig entwickelte politische Kultur und zugleich sind die Ultrarechten im politischen Leben sehr präsent. Den Großteil der Gesellschaft interessiert das überhaupt nicht. Zwar hat sich die Ukraine auf dem Maidan zur Euro­päischen Union bekannt, im echten Leben möchte man das, was man demokratisch-europäische Werte nennt, jedoch nicht wirklich teilen. Der Maidan war ein Bekenntnis zum heiligen Recht auf Eigentum und zum imaginierten US-amerikanischen Traum. Es kommt hinzu, dass die ukrainischen Rechten in der Gewerkschaftsbewegung sehr aktiv sind. Das ist eine viel größere Gefahr als die Gewalt, die von ihnen ausgeht.

Gerade in Russland wird das Bild ­einer faschistisch durchdrungenen Ukraine gezeichnet. Was davon ist realistisch, was ist russisch-nationalistische Propaganda?
Das ist dumme Stimmungsmache, denn Russland hat eine stärkere ultrarechte Bewegung, sowohl qualitativ wie quantitativ, als die Ukraine. Bis zur Revolu­tion am Maidan waren die Rechten in Russland Vorbild in der Ukraine. Meiner Meinung nach werden in Russland Ultrarechte viel stärker auch von offizieller staatlicher Seite benutzt. Zur realistischen Einschätzung muss man sagen, dass die Rechtsextremen in der Ukraine bei Wahlen deutlich weniger Stimmen bekommen haben als etwa ihre Gesinnungsgenossen in Österreich. Auch angesichts von Trump in den USA wird es schwieriger, die Ukra­ine als ein besonders rechtes Land darzustellen. Das Hauptproblem ist, dass in der Ukraine die Bevölkerung ­allergisch auf Gewerkschaften und alles Sozialistische reagiert.

Am 7. Februar wurde Ihre Ausstellung »Verpasste Möglichkeiten« von maskierten Neonazis gestürmt. Sie zerrissen die Bilder und skandierten: »Es lebe die Ukraine!« Was an Ihrer Kunst provoziert die Rechtsextremen?
Das Erste, was sie provoziert hat, waren meine Eigenständigkeit und meine politische Gesinnung. Ich bin ein Gegner des Nationalismus. Das Zweite ist meine Kritik am Maidan. Die Maidan-Revolution wird hierzulande sakralisiert, nicht nur von Rechtsextremen, sondern auch von liberalen Parteien: Es darf keinerlei Kritik am Maidan geben. Nach diesem Überfall fielen die Reaktionen gespalten aus. Die Meinung vieler Gegner war, dass es der falsche Zeitpunkt sei, die ukrainischen Patrioten zu provozieren. Oder sie warfen mir vor, meine Kunst werde vom russischen Staat gelenkt. In jüngster Zeit ist dieser Vorwurf sehr populär geworden. Wenn zurzeit jemand den Maidan kritisiert, so wird er als Russland-Anhänger und somit als Feind bezeichnet.

Sie haben auf dem Maidan demons­triert, allerdings mit Ihren eigenen Plakaten und Slogans wie »gegen Rassismus«, »gegen Homophobie«, »gegen Nationalismus«. In Ihren Zeichnungen machen Sie sich über ukrainische Nationalisten ebenso lustig wie über Soldaten in Donezk und Lugansk. Wo stehen Sie politisch?
Ich bin Anarchist, Syndikalist und radikal links. Ja, ich habe auf dem Maidan Aufkleber und Flyer verteilt und meine eigenen Plakate mit diesen Aufschriften ausgerollt. In meinen Arbeiten habe ich nur die Rechtsextremen kritisiert und auch deren Teilnahme am Krieg, nicht die Soldaten im Allgemeinen, sondern die Ultrarechten.
Beide Seiten nehmen an diesem Krieg teil, Ukrainer wie Russen. Indem Russland seine Streitkräfte in die Ukraine schickt, schafft es den Nährboden für die Rechtsextremen auf beiden ­Seiten, mit Waffen zu spielen und sich zu legitimieren.

Wie groß ist in der ukrainischen Bevölkerung der Anteil derjenigen, die eine nicht nationalistische Po­litik befürworten oder vertreten? Müssen sich Antinationalisten im Alltag ständig rechtfertigen und Angriffe befürchten?
Der Anteil der nationalistischen Bewegung in der Ukraine ist sehr klein im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, aber sehr sichtbar, weil es kaum andere starke politische Bewegungen gibt. Alle anderen Parteien sind nicht wirklich politisch, sondern nur orientiert an ihren Parteiführern. Selbst die sogenannte sozialistische Partei wird faktisch von Rechten geführt, ihre Rhetorik wird immer populistischer.
Der Leiter des »Zentrums für visuelle Kunst«, Vasyl Cherepanyn, ein Kulturwissenschaftler und Lektor an der Kiew-Mohyla-Akademie, wurde auf offener Straße angegriffen. Ihm wurde der Kiefer gebrochen und er wurde als »Separatist« beschimpft. Sie erhalten über Facebook regelmäßig Drohungen von Anhängern der Partei Swoboda und anderen Rechtsextremen.
Ich habe schon seit 15 Jahren Probleme mit Neonazis und werde von ihnen verfolgt, das ist nichts Neues. Ich wurde schon öfter verprügelt und war mehrmals im Krankenhaus. Das war schon unter den ehemaligen Präsidenten Juschtschenko und Janukowitsch so. Allerdings hat sich die Situation mitt­lerweile in dem Sinn geändert, dass ein Opfer auch noch von der Mehrheits­gesellschaft angegriffen wird, was früher nicht der Fall war. Die linken Or­ganisationen in der Ukraine werden im Allgemeinen schwächer, unseren Akti­onen fehlt es an Solidarität – nicht aus Angst vor ultrarechten Organisationen, sondern wegen einer allgemeinen ­gesellschaftlichen Lethargie.

Als Ihre Künstlergruppe ihre jüngste Ausstellung organisiert hat, haben Sie Polizeischutz beantragt, aber keinen erhalten. Obwohl es sogar ein Youtube-Video des Überfalls auf Ihre Ausstellung gibt, auf dem Anhänger der Partei Swoboda zu erkennen sind, wurde bisher keinem der Prozess gemacht. Wie weit stecken Rechtsextreme mit dem Staat unter einer Decke?
Stimmt, die Polizei verweigerte uns den Schutz und bislang gab es keinen Prozess, trotz des Videos, in dem man sieht, wie 14 Maskierte in nur zwei Minuten in die Ausstellung stürmen und einen Teil meiner Bilder zerschlagen. Ich würde sagen, der Staat unterstützt die neonazistische Bewegung, solange er sie instrumentalisieren kann. Sie wird benutzt, um etwas durchzusetzen, was der Staat selbst so nicht kann. Der Staat stellt die Bewegung zwar durchaus negativ dar, aber gewissermaßen als Gegenstück zu sich selbst. Die Bevölkerung soll glauben, dass es keine Alternative zum System gibt: Wenn nicht wir, dann kommen die Ultrarechten, und die wollt ihr ja nicht! Da spielt natürlich auch die Orientierung an der EU eine Rolle.

Bildet die Einrichtung des alternativen »Zentrums für visuelle Kunst« in Kiew einen Gegenpol zu der Kunst, die an der staatlichen Hochschule unterrichtet wird?
Ja, es gibt diese Möglichkeiten in einer staatlichen Einrichtung nicht. Das »Zentrum für visuelle Kunst« hat mich zu verschiedenen Veranstaltungen eingeladen, mir eine Einzelausstellung gegeben, mich unterstützt. Es sind progressive Jugendliche, die hier mitwirken. Was hier als Kunstzentrum entstanden ist, ist ein tabufreier Raum.

Mit der Ausstellung »Ukrainische Körper« über Gender-Varianten ist Ihre Gruppe an der Kiew-Mohyla-Akademie bereits im Februar 2012 angeeckt. Der damalige Rektor der Akademie, Serhij Kwit, sagte, dies sei keine Kunst, sondern »Dreck«, und verbot die Ausstellung. Woher kommt diese institutionelle Homophobie? Ist sie mit dem ukrainischen Nationalismus verwoben oder beruht sie auf einer Tradition der ehemaligen Sowjetunion?
Die starke Homophobie und der Hass auf Transsexuelle ist nicht nur hier­zulande ein Problem, sondern ein allgemeines Problem in ganz Osteuropa, in der Ukraine, in Serbien, in Weißrussland. Das ist verbunden mit Traditionalismus und einer starken Religiosität. Es liegt auch daran, dass in unseren Gebieten die LGBT-Vereinigungen keine lange Geschichte haben im Kampf um ihre Rechte. Die Ultrarechten reagieren außerdem noch viel stärker auf die Vertreter von LGBT-Gruppen als auf Linke. Sie ziehen es vor, schwache Gegner anzugreifen, und die LGBT-Bewegung gehört zu den schwächsten Bewegungen hierzulande. Beim letzten LGBT-Marsch wurden Sprengkörper auf die Demonstrierenden geworfen und ein Polizist kam dabei um. Die Polizei wollte diese Demonstration überhaupt nicht schützen, weil sie auch wusste, dass sie sich damit in Gefahr bringt. Polizeischutz gab es überhaupt nur, weil internationale Vertreter und Diplomaten anwesend waren. Die Polizisten hatten also keine Wahl.

Lenin-Denkmäler und andere Symbole aus sozialistischer Zeit werden seit April 2015 abgerissen und aus dem öffentlichen Raum entfernt. In Ihren Werken machen Sie sich auch über diese gesetzlich verordnete »Dekommunisierung« lustig. Ist es derzeit unmöglich, in der Ukraine positiv über Sozialismus zu sprechen?
Man kann sicher auch viel Negatives über den Sozialismus sagen, aber das führt zu keinen Ergebnissen. Diejenigen, die Sozialismus propagieren wollen, können hier zurzeit nur erfolgreich sein, indem sie den Sozialismus als nationalistisches Projekt verkaufen.

Worum ging es Ihnen, als Sie den Vorschlag machten, man solle auch das Gedenken an die ukrainischen Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer Iwan Franko und Lesja Ukrajinka sowie an den Historiker Michailo Dragomanow eliminieren?
Das waren Persönlichkeiten aus dem 19. Jahrhundert, die nicht direkt unter das Gesetz der »Dekommunisierung« fallen, aber es waren für mich die ersten großen ukrainischen Sozialisten, wahre Vertreter des Sozialismus. Sie haben das Kommunistische Manifest und zahlreiche sozialistische Werke ins Ukrainische übersetzt. Ihre Bedeutung war noch viel größer, sie werden in der Ukraine immer noch sehr verehrt. Ihre Werke waren sehr stark sozialistisch geprägt. Ich mache damit ­darauf aufmerksam, dass der derzeitige ukrainische Staat und die offizielle Propaganda nicht kohärent sind. Wenn alles Sozialistische zerstört und alles Kommunistische abgeschafft werden soll, dann müsste man auch gegen das Andenken dieser drei Persönlichkeiten vorgehen.
Der Staat folgt derzeit blind dem Wahn, das sozialistische Erbe auszulöschen. Zurzeit werden auch Denkmäler zerstört, wie zum Beispiel ein Denkmal für das Proletariat, die gar nicht unter das offizielle Dekommunisierungsgesetz fallen. Die Ungleichbehandlung ist offensichtlich: Das Gesetz verbietet auch NS-Symbole und nazis­tische Slogans, aber keiner achtet darauf, ob dieser Teil des Gesetzes befolgt wird. Das Gesetz ist ein Instrument, um die Geschichte zu instrumentalisieren, soziale Bewegungen aufzuhalten und nicht zuzulassen, dass eine wahre soziale Revolution in der Ukraine stattfindet.

Anlässlich der Oktoberrevolution findet eine neue Ausstellung des »Zentrums für visuelle Kunst« statt, eine Biennale. Von wann bis wann und wo ist diese zu sehen?
Die Kiew-Biennale 2017 ist dem hundertjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution gewidmet und findet in einigen konstruktivistischen Gebäuden statt, unter anderem in dem Hochhaus am Libitzka-Platz, das ist ein Hochhaus in Form eines Tellers. Sie begann am 20. Oktober und läuft noch bis zum 26. November.